Urteil des VG Braunschweig vom 16.04.2013

VG Braunschweig: dyskalkulie, versetzung, behinderung, chancengleichheit, schüler, rechenschwäche, verordnung, form, zeugnis, erlass

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Kein Notenschutz bei Dyskalkulie
1. Das niedersächsische Schulrecht steht, etwa bei einer Dyskalkulie, einem
Notenschutz, also der Nichtberücksichtigung einer Note und der ihr zugrunde
liegenden Leistungen (insbesondere bei Versetzungsentscheidungen)
entgegen. Ein Nachteilsausgleich ist jedoch zulässig.
2. Ein Anspruch auf Notenschutz ergibt sich zudem weder aus dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit bei schulischen
Leistungsbewertungen (Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG) noch aus dem
Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG.
VG Braunschweig 6. Kammer, Urteil vom 16.04.2013, 6 A 204/12
Art 12 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 3 Abs 3 S 2 GG
Tatbestand
Die am K. 1999 geborene Klägerin begehrt einen Notenschutz für das Fach
Mathematik.
Sie leidet unter Dyskalkulie, einer Rechenschwäche, die auf einer
Beeinträchtigung des arithmetischen Denkens beruht. Deswegen absolviert sie
seit dem 25.09.2008 am Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig (IML)
einer Lerntherapie.
Die Klägerin wurde 2006 für ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt. Seit
Beginn des Schuljahrs 2006/2007 besuchte sie die Grundschule L.. Hier zeigten
sich von Anfang an Schwierigkeiten beim Rechnen, die im zweiten Schuljahr zu
einer zieldifferenten Beschulung im Fach Mathematik führten. Die Klägerin nahm
am Förderunterricht für Mathematik teil. Im dritten Schuljahr bekam sie keine
Note in Mathematik, weil sie an dem Mathematikunterricht der Klasse 3 nicht
teilnahm. Sie erhielt stattdessen individuelle Fördermaßnahmen. Dasselbe gilt
für das vierte Schuljahr. Die Klägerin wurde mit Beschluss der Klassenkonferenz
vom M. 2011 in den fünften Schuljahrgang versetzt.
Seit dem Schuljahr 2011/2012 geht die Klägerin auf den Realschulzweig der
Beklagten. Im Halbjahreszeugnis der fünften Klasse erhielt sie in Mathematik
eine „fünf“ und in den übrigen Fächern die Noten „drei“ oder „vier“ (sowie in Sport
eine „zwei“). So verhielt es sich auch mit dem Zeugnis zum Ende des fünften
Schuljahrs (Sport „drei“).
Während des laufenden Schuljahrs beantragte die Klägerin mit Schriftsatz des
Prozessbevollmächtigten vom 26.02.2012 bei der Beklagten, sie möge
beschließen, dass ihre Zeugnisnote in Mathematik bei der Entscheidung, ob
eine Versetzung in die nächsthöhere Jahrgangsstufe stattfinde, unberücksichtigt
bleibe. Zur Begründung führte sie an, aufgrund ihrer Dyskalkulie erreiche sie im
Bereich Mathematik ein deutlich geringeres Leistungsniveau als dem Alter und
der Jahrgangsstufe angemessen wäre. Ein Zwischenbericht des IML vom
10.12.2010 belege ein geringes Lerntempo und eine geringe
Aufnahmefähigkeit. Sie müsse sich jeden Lernschritt schwer erarbeiten, habe
aber im Laufe der Therapie eine gute Entwicklung genommen. Aufgrund der
Rechenschwäche werde es ihr auf absehbare Zeit nicht möglich sein, das
Klassenziel im Bereich Mathematik zu erreichen. Es stehe zu erwarten und zu
befürchten, dass Benotungen stets nur ein Niveau erreichten, das eine
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Versetzung in die nächsthöhere Jahrgangsstufe ausschließe. Die
Rechenschwäche sei eine Behinderung, weshalb eine Benachteiligung nach
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG durch die beantragte Maßnahme vermieden werden
müsse. Andere Maßnahmen wie die Förderung in der Schule versprächen
keinen Erfolg.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 01.03.2012 unter Verweis auf
den inzwischen aufgehobenen Runderlass des MK zur „Förderung von
Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen,
Rechtschreiben oder Rechnen“ vom 04.10.2005 (SVBl. S. 560) ab. Danach sei
ein Abweichen von den Maßstäben der Leistungsbewertung bei
Rechenschwierigkeiten nur in der Grundschule und im Primarbereich der
Förderschule zulässig. An einer Schule im Sekundarbereich I könne dem Antrag
der Klägerin nicht stattgegeben werden.
Die Klägerin wandte sich daraufhin an die Landesschulbehörde und machte
geltend, die Entscheidung der Beklagten sei rechtswidrig. Sie trug u. a. erneut
vor, ein die Versetzung sicherndes Niveau habe sie mit der Therapie im IML und
anderen Maßnahmen nicht erreicht.
Die Landesschulbehörde teilte der Klägerin mit Schreiben vom 17.04.2012 mit,
sie könne den „Hinweis“ der Beklagten vom 01.03.2012 nur wiederholen. Der
Erlass vom 04.10.2005 (s. o.) stehe dem Antrag entgegen. Es könne aber ein
individueller Nachteilsausgleich gewährt werden, um Schüler besonders zu
fördern.
Mit der am 30.07.2012 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Sie
trägt ergänzend vor, sie werde gegenüber anderen Schülern nicht bevorzugt,
weil diese nicht durch eine Behinderung am Erreichen des Klassenziels
gehindert seien. Es bestehe für die Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund.
Der beantragte Notenschutz sei auch verhältnismäßig, weil es keine anderen
Möglichkeiten gebe, den Nachteil aufgrund der Behinderung auszugleichen.
Von der Beklagten würden keine hinreichenden, auf sie zugeschnittene
Fördermaßnahmen im Rahmen eines Nachteilsausgleichs angeboten und auch
im Klageverfahren nicht genannt. Anders als bei einer Rechtschreibschwäche
sei eine Schreibzeitverlängerung oder die Verwendung eines Wörterbuchs nicht
geeignet. Daher bleibe nur ein Notenschutz.
Die Lerntherapie bei dem Institut IML habe Fortschritte im Rechnen gebracht.
Sie liege aber ca. 2 Jahre hinter dem Leistungsstand der Klasse zurück.
Sie sei nur deshalb in die Jahrgangsstufe sechs versetzt worden, weil ihr Vater
an die Mathematik-Lehrerin geschrieben und auf die Rechenschwäche
hingewiesen habe. Daraufhin sei es möglich gewesen, ihr bei einem
Leistungsstand zwischen fünf und sechs die Note fünf zu geben (rechnerisch
Note 5,5). Die Klägerin hat dazu ein Schreiben der Mathematik-Lehrerin N. u. a.
zu der Beurteilung im Fach Mathematik vom 01.09.2012 vorgelegt.
Eine positive Entwicklung sei bei den schulischen Leistungen im schriftlichen
Bereich nicht zu verzeichnen. Das Erarbeiten der Note mangelhaft sei nicht als
Fortschritt zu bewerten. An den Zeugnissen sei eine Besserung nicht ablesbar.
Sie habe im laufenden Schuljahr wieder ein ungenügend in einer Klassenarbeit
erhalten, so dass die Prognose ihrer schulischen Entwicklung nicht günstig sei.
Wegen der Möglichkeit, die Note fünf durch andere Noten auszugleichen, dürfe
ihr die beantragte Unterstützung nicht verwehrt werden.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom
01.03.2012 sowie des Bescheides der Niedersächsischen
Landesschulbehörde – Regionalabteilung Braunschweig – vom
17.04.2012 zu verurteilen, ihr einen Ausgleich für behinderungsbedingte
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Nachteile bei der Entscheidung über die Versetzung in die
nächsthöhere Jahrgangsstufe insoweit zu gewähren, als ihre Benotung
in dem Fach Mathematik bei der Entscheidung über die Versetzung
nicht berücksichtigt wird,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom
01.03.2012 sowie des Bescheides der Niedersächsischen
Landesschulbehörde – Regionalabteilung Braunschweig – vom
17.04.2012 zu verurteilen, ihren Antrag vom 26.02.2012 unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, die Klägerin habe keinen Anspruch auf den begehrten
Notenschutz, der dem Schulrecht nicht zu entnehmen sei. Der staatliche
Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfordere hier nicht, u. U. für die
gesamte weitere Schullaufbahn die Bewertung im Fach Mathematik entfallen zu
lassen. Vorrangig seien andere Maßnahmen, insbesondere solche des
Nachteilsausgleichs und der individuellen Förderung, zu ergreifen. Diese erhalte
die Klägerin durch ihre Eltern, die Therapie beim IML und die Unterstützung der
Fachlehrerin. Letztere berücksichtige die Rechenschwäche bei der
Notenvergabe, stehe für Fragen im Unterricht zur Verfügung und gebe ihr bei
schriftlichen Aufgaben eine Hilfestellung.
Die Klägerin durchlaufe zudem eine positive individuelle Entwicklung, welche
auch der Zwischenbericht des IML vom 10.12.2010 hervorhebe. Danach werde
die begabte Klägerin ihre Defizite aufholen. Es sei notwendig, sie auf dem damit
verbundenen längeren Prozess zu begleiten und ihr nicht schon jetzt durch
einen Notenschutz die Fähigkeit zur Weiterentwicklung in der Mathematik von
vornherein abzusprechen, was demotivierend wirken könne.
Die Zeugnisse der 5. und 6. Klasse ließen nicht erwarten, dass die Klägerin zum
nächsten Schuljahr nicht versetzt werde. Die Klägerin könne die Note
mangelhaft im Fach Mathematik durch andere Noten, etwa in Deutsch und
Englisch, ausgleichen. Daher fehle der Klage schon das Rechtsschutzbedürfnis.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und des übrigen Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der
Beklagten, die dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen haben, verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist bereits unzulässig.
Der Klägerin fehlt das für jedes gerichtliche Verfahren notwendige
Rechtsschutzbedürfnis. Derzeit benötigt sie keine gerichtliche Hilfe, um ihre
Interessen zu wahren, denn sie kann die Entscheidung der Klassenkonferenz
über die Versetzung auf der Grundlage des zum Schuljahresende erteilten
Zeugnisses abwarten und sich dann ggf. gegen diese Entscheidung mit einem
Widerspruch und einem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
bei dem Verwaltungsgericht wenden.
Außerdem ist ein Notenschutz nach den letzten drei Zeugnissen der Klägerin
nicht erforderlich, weil ihre Versetzung nach dem gegenwärtigen Stand nicht
gefährdet ist. Legt man das Halbjahreszeugnis der Beklagten vom 30.01.2013
zugrunde, so wird die Klägerin bei gleichbleibenden Noten in die siebte
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Jahrgangsstufe versetzt. Denn sie hat nur im Fach Mathematik die Note fünf,
welche sie nach § 4 Abs. 1 der Durchlässigkeits- und Versetzungsverordnung
(v. 19.06.1995, Nds. GVBl. S. 184, zul. geänd. d. VO v. 10.05.2012, Nds. GVBl.
S. 122) nicht durch bessere Noten in anderen Fächern ausgleichen müsste.
Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 5 Abs. 2 dieser Verordnung müsste sie
mangelhafte Leistungen in zwei Fächern durch befriedigende Leistungen in zwei
Ausgleichsfächern ausgleichen, wobei sie das Fach Mathematik nur durch ein
„befriedigend“ in Deutsch oder einer Pflicht- oder Wahlpflichtfremdsprache
ausgleichen könnte. Erhielte die Klägerin in Mathematik ein „ungenügend“,
könnte sie diese Note durch eine gute Leistung in einem Ausgleichsfach oder
durch befriedigende Leistungen in zwei Ausgleichsfächern wettmachen (§ 4
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstaben a und b der Verordnung). Die Klägerin müsste
also z. B. in Deutsch von einer „drei“ (s. Halbjahreszeugnis) auf eine „zwei“
kommen, um trotz einer solchen, von ihren Eltern in der mündlichen
Verhandlung für möglich gehaltenen Verschlechterung in Mathematik versetzt
zu werden. Ob die für die Versetzung zuständige Klassenkonferenz von der
Möglichkeit des Ausgleichs Gebrauch macht, steht in ihrer pflichtgemäßen
Beurteilung, in welche die unter pädagogischen und fachlichen Gesichtspunkten
wesentlichen Umstände des Einzelfalls einzubeziehen und mögliche
Fördermaßnahmen zu berücksichtigen sind (§ 4 Abs. 3 der Verordnung).
Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor. So handelt es sich um
eine Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 2 VwGO mit dem Ziel, eine verbindliche
Entscheidung der Beklagten für Versetzungen zu erreichen, die in Form eines
Verwaltungsakts erfolgen müsste. Das nach § 8 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Nds. AG
VwGO i. V. m. § 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO erforderliche Vorverfahren ist
durchgeführt worden. Die Entscheidung der Beklagten vom 01.03.2012 ist in
Form eines Bescheids ergangen, was im letzten Absatz des Schreibens auch
deutlich gemacht wird. Die Landesschulbehörde hat den Antrag am 17.04.2012
ebenfalls zurückgewiesen. Darin liegt eine Widerspruchsentscheidung. Auf die
Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO für die Klageerhebung
kommt es nicht an, weil der Widerspruchsbescheid keine Rechtsmittelbelehrung
enthält (Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Die Klage ist rechtzeitig
erhoben worden.
II. Die Klage wäre mit dem Haupt- und dem Hilfsantrag auch unbegründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den begehrten Notenschutz. Der
Bescheid der Beklagten vom 01.03.2012 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 17.04.2012 ist rechtmäßig und verletzt die
Klägerin damit nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
1. Das niedersächsische Schulrecht steht einem Notenschutz entgegen. Unter
Notenschutz ist eine Nichtberücksichtigung der Note, und infolgedessen der
zugrunde liegenden mündlichen und schriftlichen Leistungen, in einem oder
mehreren Fächern, insbesondere bei Versetzungsentscheidungen, zu
verstehen. Davon zu unterscheiden ist der Nachteilsausgleich, der auf eine
Änderung der äußeren Bedingungen der Leistungsfeststellung durch z. B. eine
Schreibzeitverlängerung oder eine Nutzung technischer Hilfsmittel zielt (vgl.
Behrens/Wachtel, Nachteilsausgleich in der Schule, SVBl. 5/2008).
Schulrechtlich ist lediglich ein Nachteilsausgleich, nicht jedoch ein Notenschutz
möglich. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 der Durchlässigkeits- und
Versetzungsverordnung (a. a. O.) ist eine Schülerin oder ein Schüler zu
versetzen, wenn die Leistungen in allen Pflicht- und Wahlpflichtfächern
mindestens mit „ausreichend“ bewertet worden sind, wobei nicht ausreichende
Leistungen ausgeglichen werden können (s. o.). Der Versetzungsentscheidung
ist das am Ende des Schuljahrs erteilte Zeugnis zugrunde zu legen (§ 3 Abs. 1
Satz 1 der Verordnung). Einzelheiten über die Erteilung von Zeugnissen regelt
das Kultusministerium in dem Runderlass „Zeugnisse in den allgemeinbildenden
Schulen“ (v. 05.12.201, SVBl. 2012 S. 6, zul. geänd. d. Rd.Erl. v. 05.03.2012,
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SVBl. 2012 S. 267). Danach sind Zeugnisse in der Realschule als
Notenzeugnisse zu erteilen (Nr. 1.2 Satz 1). In Notenzeugnissen werden
Bewertungen mittels Notenbezeichnungen und Notenziffern vorgenommen (Nr.
1.2 Satz 1). Die Bewertungen, die zu den Noten führen, erfolgen auf der
Grundlage von Beobachtungen im Unterricht sowie von mündlichen,
schriftlichen und anderen fachspezifischen Lernkontrollen (Nr. 3.1. Satz 1). Sie
beziehen sich auf die Lernentwicklung und die Leistungen der Schülerin oder
des Schülers in dem auf dem Zeugnis angegebenen Berichtszeitraum (Nr. 3.1.
Satz 2). Damit ist schulrechtlich nicht nur eine Versetzungsentscheidung auf der
Grundlage von Noten vorgeschrieben. Es ist schulrechtlich gerade auch kein
Raum für das von der Klägerin angestrebte Absehen von der Benotung
aufgrund ihrer Dyskalkulie.
Die Klassenkonferenz hat allerdings bei der Entscheidung über die Anwendung
von Ausgleichsregelungen gem. § 4 Abs. 3 Durchlässigkeits- und
Versetzungsverordnung auch Umstände einzubeziehen, die sich auf das
Lernverhalten und Leistungsvermögen auswirken. Dies kann auch eine
Rechenschwäche in Form einer Dyskalkulie sein.
Im Übrigen gibt auch der Runderlass „Die Arbeit in der Realschule“ (v.
27.04.2010, SVBl. S. 182) der Beklagten keine Möglichkeit, von der Bewertung
der Mathematik-Leistung der Klägerin im Zeugnis abzusehen (s. zu Nr. 6
Leistungsbewertung, Versetzungen etc.). Ebenso wenig ist ein Notenschutz
nach der Verordnung zum Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung (v.
22.01.2013, Nds. GVBl. S. 23, SVBl. 2013, 66), die Kinder mit Behinderung oder
drohender Behinderung betrifft, sowie den dazu erlassenen „Ergänzenden
Bestimmungen“ (Rd.Erl. v. 31.01.2013, SVBl. S. 67) vorgesehen.
Der „Erlass zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen
Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen“ vom 04.10.2005
(SVBl. S. 560), auf den sich die Beteiligten bezogen haben, ist zum 31.12.2012
ersatzlos aufgehoben worden. Er ließ bei Rechenschwierigkeiten ohnehin nur
für die Grundschule und den Primarbereich der Förderschule ein Abweichen von
den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung, etwa in Form eines
zeitweiligen Verzichts auf eine Bewertung von Klassenarbeiten während der
Förderphase, zu, und dies auch nur in besonders begründeten Ausnahmefällen
(Nr. 4.1 Abs. 1 Satz 2).
Für behinderte Schülerinnen und Schüler kann weiterhin ein Nachteilsausgleich
bei schriftlichen Arbeiten z. B. durch Pausen, längere Bearbeitungsdauer,
Anpassung der Aufgabenformate, zusätzliche Hilfsmittel gewährt werden (Nr. 5
des Erlasses „Schriftliche Arbeiten in den allgemein bildenden Schulen“ v.
22.03.2012, SVBl. S. 266, vgl. auch den aufgehobenen Erlass v. 04.10.2005 zu
Nr. 4.1 Abs. 4 u. 5: dort wurden genannt: Ausweitung der Arbeitszeit, z. B. bei
schriftlichen Lernkontrollen, didaktische und technische Hilfsmittel, Entwickeln
von dem Leistungsstand angepassten Aufgabenstellungen, Einordnen der
schriftlichen und mündlichen Leistung unter dem Aspekt des erreichten
Lernstands mit pädagogischer Würdigung und Einsatz elektronischer Medien).
Ein Notenschutz gehört ungeachtet des so formulierten Klageantrags nicht zu
den schulrechtlich vorgesehenen Maßnahmen des Nachteilsausgleichs. Derzeit
erhält die Klägerin insofern bereits Unterstützung durch die Mathematik-Lehrerin.
Diese legt in ihrer Stellungnahme vom 01.09.2012 dar, während des gesamten
Jahres habe ein schriftlicher und telefonischer Kontakt zu der behandelnden
Psychologin bestanden (Dr. O. vom IML). Auch hätten zwischen ihr und den
Erziehungsberechtigten telefonische und persönliche Gespräche über die
Leistungen und den Entwicklungsstand der Klägerin stattgefunden. Nach
Absprache mit der Psychologin und den Erziehungsberechtigten habe sie der
Klägerin die Bearbeitung von Arbeitsblättern ermöglicht, während die Mitschüler
zusätzliche erweiterte Denkaufgaben bearbeitet hätten. Sie habe sich weiterhin
bemüht, ihr im Rahmen der unterrichtlichen Möglichkeiten täglich fünf bis zehn
Minuten individuelle Hilfe zukommen zu lassen. Diese Hilfe habe sie auch bei
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den schriftlichen Arbeiten erhalten, um einen für die Klägerin bestmöglichen
Erfolg zu erzielen. Es sei ihr tatsächlich gelungen, sich eine mangelhafte, nicht
ungenügende Note zu erarbeiten. Die Einzelnoten für die Klägerin seien am
Leistungsstandard der Klasse 5 der Realschule gemessen worden. Wie in der
mündlichen Verhandlung erörtert, sollte aber von den beiden Seiten überlegt
werden, welche (weiteren) Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs für die
Klägerin sinnvoll sind.
2. Ein Anspruch auf Notenschutz ergibt sich ferner nicht aus dem
Verfassungsrecht. Der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i. V. m.
Art. 12 Abs. 1 GG) ermöglicht den Schulbehörden kein Abweichen von den die
Benotung tragenden Maßstäben der Leistungsfeststellung und –bewertung.
Der im Prüfungsrecht maßgebliche Grundsatz der Chancengleichheit gilt auch
bei der Bewertung schulischer Leistungen. Danach muss gewährleistet sein,
dass Prüflinge bzw. hier Schüler ihre Prüfungsleistungen (schulischen
Leistungen) möglichst unter gleichen äußeren (Prüfungs-) Bedingungen
erbringen können und die gleichen Maßstäbe für die Bewertung einer Leistung
gelten. Dies wird durch die formale Gleichbehandlung aller Prüflinge und Schüler
gesichert. Im Einzelfall kann es aus Gründen der Chancengleichheit darüber
hinaus erforderlich sein, zum Ausgleich von in der Person des Prüflings
(Schülers) liegenden Einschränkungen oder sonstigen Nachteilen spezielle
(Prüfungs-) Vergünstigungen zu gewähren, die dem eingeschränkten
Kandidaten/Schüler die gleichen Chancen einräumen, den (Prüfungs-)
Anforderungen zu genügen. Daraus kann sich ein Anspruch auf Maßnahmen
des Nachteilsausgleichs ergeben (vgl. Schl.-Holst. VG, Urt. v. 10.06.2009 – 9 A
208/08 – , juris, unter Verweis auf die prüfungsrechtliche Rechtsprechung des
BVerwG im Urt. v. 17.02.1984 – 7 C 67.82 - , BVerwGE 69, 46; ebs. Nds. OVG,
Beschl. v. 10.07.2008 – 2 ME 309/08 –, juris; Thüringer OVG, Beschl. v.
17.05.2010 – 1 EO 854/10 – , juris). Eine rechtserhebliche Chancenungleichheit
kann insbesondere dann festgestellt werden, wenn lediglich die mechanische
Darstellungsfähigkeit beeinträchtigt ist, auch wenn sie auf einem dauernden
Defekt beruht. Damit ist ein Nachteilsausgleich dann geboten, wenn die
Behinderungen außerhalb der durch die Prüfung zu ermittelnden Fähigkeiten
liegen und das Prüfungsergebnis negativ beeinflussen können, wie
beispielsweise die manuelle Fertigkeit des Schreibens oder der sprachlichen
Artikulation (Nds. OVG, Beschl. v. 25.03.2011 – 2 ME 52/11 -, nicht
veröffentlicht). Eine Überkompensation der Nachteile dient jedoch nicht der
Wiederherstellung der Chancengleichheit, sondern würde den Anspruch der
Mitschülerinnen und –schüler auf Chancengleichheit verletzen (Nds. OVG,
Beschl. v. 20.09.2012 sowie Beschl. v. 25.03.2011, jew. a. a. O.)
Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts
(Nds. OVG) zu legasthenen Schülern ist ein – über den Nachteilsausgleich
hinausgehender – Notenschutz jedenfalls nicht mehr mit der durch den
prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit allein gebotenen
Schaffung von gleichen Ausgangsbedingungen für den legasthenen Schüler
und seine nicht behinderten Mitschüler vereinbar. Er ist vielmehr auf die
Bevorzugung des von Legasthenie betroffenen Schülers gerichtet, indem
diesem gegenüber auf bestimmte Leistungsanforderungen verzichtet werden
soll, die den Mitschülern – unabhängig von ihrer intellektuellen Begabung –
abverlangt werden. Eine Kompensation der durch die Legasthenie bedingten
Benachteiligung durch die Absenkung – oder bei einem Diktat gar durch die
Befreiung – von geltenden Prüfungsanforderungen lässt sich dem geltenden
Recht und insbesondere auch dem Grundsatz der Chancengleichheit nicht
entnehmen. Diesbezüglich kann sich ein Antragsteller auch nicht auf das
Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG berufen. Denn aus dem
Benachteiligungsverbot wegen Behinderung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann
ein unmittelbarer Leistungsanspruch nicht hergeleitet werden, da es sich um ein
grundrechtliches Abwehrrecht handelt, dessen Aktualisierung dem Gesetzgeber
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obliegt (Nds. OVG, Beschl. v. 10.07.2008, a. a. O. unter Verweis u. a. auf OVG
NW, Beschl. v. 16.11.2007 – 6 A 2171/05 –, NVwZ-RR 2008, 271 f., ebs. Nds.
OVG, Beschl. v. 25.03.2011, a. a. O.; Beschl v. 20.09.2012 – 2 LA 234/11 –,
nicht veröffentlicht, vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 08.10.1997 – 1 BvR 9/97 –,
juris).
Diese Rechtsprechung ist auf die Rechenstörung in Form einer Dyskalkulie zu
übertragen. Die Rechtsauffassung, dass ein Notenschutz in der Regel nicht
zulässig ist, wird von der (übrigen) verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung
geteilt (Hess. VGH, Beschl. v. 8.12. 2011 - 7 A 2621/10 -, juris, v. 5.2.2010 - 7 A
2406/09.Z -, NVwZ-RR 2010, 767; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v.
16.6.2009 - OVG 3 M 16.09 -, juris; VG Aachen, Urt. v. 13.11.2009 - 9 K 25/09 -,
juris; VG München, Beschl. v. 8.9.2009 - M 3 E 09.4056 -, juris; Schl.-Holst. VG,
Urt. v. 10.6.2009 - 9 A 208/08 -, juris; VG Köln, Beschl. v. 26.9.2008 - 10 L
1240/08 -, juris).
Eine Bevorzugung der Klägerin durch Abweichen von den Grundsätzen der
Leistungsbewertung ist hier gerade deshalb nicht gerechtfertigt, weil bei der
vorliegenden Rechenstörung die schon erwähnten Maßnahmen des
Nachteilsausgleichs zu einer Verbesserung der mathematischen Leistungen
beitragen. In der fünften und sechsten Klasse hat die Klägerin jedenfalls im
mündlichen Bereich eine mangelhafte und eben keine ungenügende Leistung
erreicht, was gegen eine Wirkungslosigkeit der Hilfen spricht. Die Klägerin führt
darüber hinaus eine Lerntherapie bei dem Institut IML durch, die zu Fortschritten
geführt hat. So wird ihr zwei Jahre nach Therapiebeginn bescheinigt, ein
durchaus begabtes Mädchen zu sein, das seine Entwicklungsdefizite im Lauf
der Zeit aufholen werde (Bericht v. 12.10.2010, S. 3). Sie fühle sich in der
Therapiestunde wohl und arbeite motiviert mit der Therapeutin zusammen
(Bericht S. 2).
Ob eine Dyskalkulie überhaupt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3
Satz 2 GG ist, muss danach nicht entschieden werden (vgl. dazu Thür. OVG,
Beschl. v. 17.05.2010, a. a. O.).
3. Ob ein Abweichen von den Grundsätzen der Leistungsfeststellung und -
bewertung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Betracht kommt, wenn
alle denkbaren und möglichen Maßnahmen eines Nachteilsausgleichs
ausgeschöpft sind und gleichwohl die Beeinträchtigung nicht angemessen
kompensiert werden kann (so Hess. VGH, Beschl. v. 05.02.2010 – 7 A
2406/09.Z –, juris Rn. 44), kann offen gelassen werden (Nds. OVG, Beschl. v.
25.03.2011, a. a. O.).
Mangels Zulässigkeit der Klage und mangels Rechtsgrundlage für einen
Anspruch auf Notenschutz konnte auch der Hilfsantrag auf eine erneute
Entscheidung der Beklagten unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Gerichts keinen Erfolg haben.