Urteil des VG Braunschweig vom 21.02.2013

VG Braunschweig: genfer flüchtlingskonvention, gerichtshof für menschenrechte, asylverfahren, asylbewerber, zugang, versorgung, behandlung, auskunft, unhcr, überstellung

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Nach der Auskunftslage im Februar 2013 ist eine
Rückführung von Asylbewerbern nach Italien wegen
systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens
nicht möglich.
VG Braunschweig 7. Kammer, Urteil vom 21.02.2013, 7 A 57/11
Art 3 EGV 343/2003
Tenor
Der Bescheid vom 09.03.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet
für den Kläger ein Asylverfahren durchzuführen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden
Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der am B. geborene Kläger ist sudanesischer Staatsangehöriger. Er reiste am
01.06.2008 zunächst aus seinem Heimatland nach Libyen. Zwei Monate später
setzte er die Reise dann per Schiff in die Türkei fort, von wo aus er sich zu Fuß
nach Griechenland begab. Von Griechenland wurde er zunächst zurück in die
Türkei zurück geschoben, um dann erneut nach Griechenland einzureisen. Am
30.12.2009 wurde er von der Polizei in Griechenland erkennungsdienstlich
behandelt. Im März 2010 fuhr er mit einem Lkw von Griechenland nach Italien,
wo er am 20.04.2010 einen Asylantrag stellte. Im November 2010 begab er sich
sodann mit dem Zug zunächst von Italien nach Frankreich, wo er sich eine
Woche aufhielt und dann nach Trier in die Bundesrepublik Deutschland
einreiste.
Unter dem 10.02.2011 erklärte Italien seine Zuständigkeit für die Prüfung des
Asylantrages des Klägers. Mit Bescheid vom 09.03.2011 stellte die Beklagte
fest, dass der am 25.11.2010 in Deutschland gestellte Asylantrag unzulässig ist
und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an.
Der Kläger hat daraufhin am 18.03.2011 Klage erhoben und einen Antrag auf
vorläufigen Rechtsschutz gestellt, dem das Gericht im Verfahren 7 B 58/11
stattgegeben hat.
Zur Begründung hat er vorgetragen, dass er bei einer Überstellung nach Italien
nicht den Schutz erlangen würde, der nach den europaweit vereinbarten
Mindeststandards zu gewähren sei. Er verweist auf die dazu ergangene
untergerichtliche Rechtsprechung und die eingeholten Gutachten. In der
mündlichen Verhandlung vom 21.02.2013 ist der Kläger informatorisch angehört
worden. Er hat angegeben, er habe sich die ersten drei Monate seines
Aufenthalts in Italien auf Sizilien in Catania im Lager Catania 6 aufgehalten. Dort
habe er in einem Container auf dem Boden schlafen müssen. Es habe keine
Decken und keine Heizung gegeben. Er habe nur einmal am Tag etwas zu
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essen bekommen. Auch medizinische Hilfe habe er nicht erhalten, obwohl er
eine Nierenentzündung gehabt habe. Es habe nur zehn Toiletten für 500
Personen gegeben. Es habe auch keine Möglichkeiten gegeben Leistungen
oder Hilfen einzufordern.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen
Verhandlung verwiesen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 09.03.2011 aufzuheben und die Beklagte zu
verpflichten für ihn ein Asylverfahren in Deutschland durchzuführen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen ebenfalls auf die untergerichtliche
Rechtsprechung insoweit als darin eine Abschiebung nach Italien auch
angesichts der dortigen Zustände für zulässig gehalten wird.
Das Gericht hat Beweis darüber erhoben, ob der Kläger bei seiner
Rücküberstellung nach Italien Zugang zu medizinischer Versorgung, Unterkunft
und Verpflegung hätte, ob dies auch gewährleistet wäre, wenn das
Asylverfahren des Klägers in Italien nach sechs Monaten nicht abgeschlossen
wäre, darüber, wie viele Asylverfahren in Italien nach sechs Monaten nicht
abgeschlossen sind und ob der Kläger nach einer Rücküberstellung nach Italien
eine Weiterschiebung nach Griechenland zu befürchten hätte. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des UNHCR vom
24.04.2012 und die Antwort des Auswärtigen Amtes vom 09.12.2011 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den
Verwaltungsvorgang der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig. Das Gericht geht davon aus, dass die Entscheidung über
die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 3 Abs. 2 Dublin II-VO
gegenüber dem Kläger Regelungswirkung entfaltet und ein entsprechender
Anspruch isoliert mit dem Ziel die Beklagte zu verpflichten in Deutschland ein
Asylverfahren durchzuführen angefochten werden kann (VG Sigmaringen, Urt.
v. 26.10.2009 - A 1 K 1757/09 -, juris; für isolierte Anfechtung im Wege der
Anfechtungsklage VG Frankfurt/Oder, Urt. v. 28.11.2012 - 3 K 525/11.A -, juris;
VG Augsburg, Urt. v. 25.09.2012 - Au 6 K 12.30155 -, juris; VG Hamburg, Urt. v.
15.03.2012 - 10 A 227/11 -, juris; für „Durchentscheiden“ in der Sache: VGH
Baden-Württemberg, Urt. 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 -, juris).
Die Klage ist auch begründet. Das Bundesamt hat zu Unrecht festgestellt, dass
der Asylantrag des Klägers unzulässig ist. Der Bescheid verstößt gegen Artikel 3
Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO. Danach kann jeder Mitgliedsstaat einen von einem
Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den
in dieser Verordnung festgelegten Kriterien dafür nicht zuständig ist. Durch die
Ausübung dieses so genannten Selbsteintrittsrechts wird der Mitgliedsstaat
gemäß Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zum zuständigen Mitgliedsstaat im
Sinne dieser Verordnung. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom
21.12.2011 (- C-411/10 und C-493/10 -, juris) steht fest, dass ein Mitgliedsstaat
das ihm bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts belassene Ermessen nicht
ohne Rücksicht auf die sonstigen Vorschriften ausüben darf, die das im EU-
Vertrag vorgesehene und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeitete
„gemeinsame europäische Asylsystem“ bilden, zu denen auch die Beachtung
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der (europäischen) Grundrechte, einschließlich der Rechte gehören, die ihre
Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Protokoll über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967 sowie in der europäischen
Menschenrechtskonvention finden. Grundlage dieses Asylsystems ist die
Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen
Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte
der europäischen Union sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der
europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann
widerlegt werden. Sie ist zum Schutz der Funktionsfähigkeit des
Gesamtsystems nicht bereits durch einzelne einschlägige Regelverstöße des
zuständigen Mitgliedsstaats, sondern nur dann widerlegt, wenn nicht unbekannt
sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für die Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat ernsthafte
und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der
Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden
Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. Der
Mitgliedsstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ist in einem solchen Fall
verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer
Mitgliedsstaat als solches für die Prüfung des Asylantrages zuständig bestimmt
werden kann.
Die bestehende Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in Italien im
Einklang mit diesen Erfordernissen steht, ist nach den für die Entscheidung
maßgeblichen gegenwärtigen Umständen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) widerlegt.
Sowohl den Darstellungen des Klägers als auch den vom Gericht eingeholten
Gutachten sowie den sonst vorliegenden Erkenntnismitteln ist zu entnehmen,
dass der Kläger bei einer Rücküberstellung nach Italien ernsthaft befürchten
müsste wegen der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien und der
dort herrschenden schwerwiegenden systemischen Mängel eine unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (ebenso VG Augsburg, Urt. v.
25.09.2012, a.a.O.; VG Gießen, Beschl. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A -, juris;
VG Freiburg, Beschl. v. 24.01.2011 - A 1 K 117/11 -, juris; VG Meiningen,
Beschl. v. 24.02.2011 - 2 E 20040/11 Me - juris; VG Stuttgart, Beschl. v.
08.01.2013 - A 7 K 3929/12; wohl ebenfalls für vorläufigen Überstellungsstop der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, vgl. asyl.net vom 25.02.2013
„EGMR stoppt Überstellung nach Italien“).
Das Gericht geht zunächst davon aus, dass seit dem Bericht von Maria Bethke
und Dominik Bender (herausgegeben von Pro Asyl, Zur Situation von
Flüchtlingen in Italien, Februar 2011), der auf einer Recherchereise im Oktober
2010 nach Rom und Turin beruht, sowie der von der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe und der Norwegischen Hilfsorganisation Juss-Buss im Mai 2011
herausgegebene Bericht (Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien -
Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder
humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin
Rückkehrende) davon auszugehen ist, dass bereits vor Beginn der Unruhen in
der arabischen Welt im Jahr 2011 in vielen Bereichen die von der Richtlinie
2003/09/EG (Amtsblatt Nr. L 31 S. 18) zum Flüchtlingsschutz gewährleisteten
materiellen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht umgesetzt wurden
(vgl. dazu VG Freiburg, Beschl. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 -, juris). Die
Berichte haben auf systemische Obdachlosigkeit und fehlende existenzielle
Versorgung der großen Mehrheit der Asylsuchenden hingewiesen. In der Zeit
zwischen dem ersten Kontakt mit italienischen Behörden und der formellen
Registrierung ihres Asylgesuchs (Verbalizzazione) durch die personell nicht
ausreichend ausgestatteten Questura (Polizeipräsidien), ein Zeitraum, der einige
Monate dauern könne, hätten Asylsuchende überhaupt keinen Zugang zu
Unterkünften und lebten meist auf der Straße. Asylsuchende müssten nicht nur
nach einem erstinstanzlichen Bescheid, sondern nach längstens sechs
Monaten, auch wenn ihr Asylverfahren noch nicht abgeschlossen sei, die
sogenannten CARA (Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo) verlassen. Das
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staatliche Aufnahmesystem SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo
e Rifugiati) sei mit nur gut 3000 Plätzen völlig überlastet. Aufgrund der hohen
Arbeitslosigkeit in Italien hätten Asylsuchende auch keine Möglichkeit für ihren
Lebensunterhalt durch Arbeitstätigkeit zu sorgen. Sie würden meist obdachlos
und lebten unter freiem Himmel oder in besetzten Häusern (vgl. dazu: Der
Tagesspiegel v. 09.02.2013 „Gefangene der Freiheit‘“).
Soweit Auskünften zu entnehmen ist, dass der italienische Staat auf diese
Entwicklungen reagiert habe (Auswärtiges Amt vom 09.12.2011 an das
erkennende Gericht) wird in dieser Auskunft zunächst festgestellt, dass das
italienische Asylsystem tatsächlich „vorübergehend unter Druck geraten“ war.
Die Situation habe sich jedoch mit nachlassendem Zustrom und der
verbesserten Koordinierung der Unterbringung wieder reguliert. Diese nicht
belegte Aussage ist jedoch wie die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG
Freiburg vom 11.07.2012 nicht mit den dem Gericht sonst vorliegenden
Auskünften in Einklang zu bringen. Zwar verweist auch UNHCR in der an das
erkennende Gericht gerichteten Auskunft vom 24.04.2012 zunächst darauf,
dass das italienische Asylsystem um einen Notfallaufnahmeplan ergänzt wurde,
um auf die Migrationsbewegungen aus Nordafrika seit Januar 2011 zu
reagieren. UNHCR stellt in der genannten Auskunft allerdings auch fest, dass es
in einer Reihe von regionalen Polizeidirektionen zu Schwierigkeiten bei der
formalen Registrierung von Asylanträgen gekommen sei, in anderen Fällen
hätten Polizeidirektionen erst mehrere Monate, nachdem ein Asylgesuch
geäußert worden sei, einen Termin für die formale Antragstellung angesetzt, so
dass der Zugang zu Rechten, die an der formalen Antragstellung anknüpften,
nicht gewährleistet gewesen sei. Es könne lediglich grundsätzlich davon
ausgegangen werden, dass Ernährung und medizinische Versorgung von
Asylsuchenden in Italien sichergestellt sei, wenn ein formaler Antrag gestellt
worden und die Verfahrensdauer von sechs Monaten nicht überschritten sei. Es
sei aber gerade davon auszugehen, dass die überwiegende Anzahl von
Verfahren nicht innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen werden könne.
Damit steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts fest, dass jedenfalls
nach Ablauf von sechs Monaten eine Versorgung von Asylsuchenden nicht
mehr gewährleistet ist und diese Situation in der überwiegenden Zahl der Fälle
eintreten wird. Diese Einschätzung wird bestätigt durch das Gutachten von
Borderline-Europe e.V., Judith Gleitze vom Dezember 2012 an das VG
Braunschweig im Verfahren 2 A 126/11. Darin wird (Seite 22) festgestellt, dass
Asylsuchende und Schutzberechtigte, die nicht mehr in einer staatlichen
Unterkunft lebten, keinen Anspruch auf Unterkunft, Nahrung, Kleidung,
Taschengeld und sonstige Leistungen hätten. Wer schon einmal in einem CARA
oder SPRAR untergebracht gewesen sei, habe kein Anrecht mehr auf einen
staatlichen Unterbringungsplatz (Seite 47). Zwar hätten Asylsuchende nach
sechs Monaten freien Zugang zum Arbeitsmarkt, die Vorstellung, sie könnten
ihren Lebensunterhalt einschließlich Wohnraum selbst finanzieren, gehe
angesichts fehlender Sprachkenntnisse, ohne Wohnsitz und soziales Netz völlig
fehl (Seite 49).
Spätestens seitdem das Gutachten von Borderline-Europe e.V., Judith Gleitze
vom Dezember 2012 an das VG Braunschweig vorliegt, ist zum
entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon
auszugehen, dass das italienische Asylsystem nicht (mehr) den oben
genannten Erfordernissen genügt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167
Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.