Urteil des VG Berlin vom 09.04.2009
VG Berlin: videoüberwachung, rechtsgrundlage, polizei, ordnungswidrigkeit, bildaufzeichnung, software, link, auflage, identifizierung, sammlung
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Gericht:
VG Berlin 11.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 K 651.09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 31a Abs 1 S 1 StVZO, § 100h
Abs 1 S 1 Nr 1 StPO
Fahrtenbuch bei Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften -
Verwertung bei verdachtsabhängiger Abstandsüberwachung
mittels Videokamera
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Fahrtenbuchanordnung des Beklagten.
Die 2...Klägerin ist Halterin des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen B., mit dem am
Donnerstag, den 9. April 2009 um 16.41 Uhr auf der Bundesautobahn (BAB) A 28 bei
Kilometer 104,121 in Richtung Oldenburg bei einer Geschwindigkeit von 127 km/h der
erforderliche Abstand von 63,50 Metern zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht
eingehalten wurde; der Abstand des Fahrzeuges der Klägerin betrug 14 m und damit
weniger als 3/10 des halben Tachowertes. Am Tatort wurde von der Autobahnpolizei
Ahlhorn das Verkehrskontrollsystem 3.0 mit der Softwareversion 3.1 der Firma VIDIT
GmbH eingesetzt. Auf das Anhörungsschreiben des Landkreises Oldenburg vom 23.
April 2009 meldeten sich die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 15. Mai 2009 und
baten um Akteneinsicht. Der Landkreis übersandte daraufhin den Bußgeldvorgang zur
Einsichtnahme, der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 29. Juni 2009
ohne Stellungnahme zurückgereicht wurde. Die Bußgeldstelle bat daraufhin den
Polizeipräsidenten in Berlin im Wege der Amtshilfe um die Durchführung weiterer
Ermittlungen. Der für den Wohnsitz zuständige Polizeiabschnitt 55 lud die Klägerin
daraufhin zu einer Vorsprache am 8. Juli 2009 vor, zu der diese nicht erschien. Über das
Ergebnis der weiteren Ermittlungen wurde vom Abschnitt 55 folgender Bericht gefertigt:
„Die Fahrzeughalterin, Frau D., wurde schriftlich vorgeladen, der Brief wurde
durch den Polizeibeamten, POM K., im Wohnungsbriefkasten zugestellt. Frau D. konnte in
der Wohnung nicht angetroffen werden. Das Bild der Verkehrsüberwachung wurde den
Nachbarn vorgelegt, diese waren nicht in der Lage die Fahrzeugführerin zu erkennen.“
Die Bußgeldstelle zog außerdem vom Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten Berlin das Ausweisfoto der Klägerin bei und stellte das
Bußgeldverfahren am 21. Juli 2009 ein, da diejenige Person, die die Ordnungswidrigkeit
begangen hatte, nicht festgestellt werden konnte.
Das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten ordnete daraufhin nach
vorheriger Anhörung mit Bescheid vom 27. Oktober 2009 an, dass für das oben
genannte Fahrzeug oder ein zu bestimmendes Ersatzfahrzeug für die Dauer eines Jahres
nach Unanfechtbarkeit des Bescheides ein Fahrtenbuch zu führen sei. Mit ihrem
Widerspruch wies die Klägerin darauf hin, dass der Tatvorwurf nicht im Geringsten
erwiesen sei. Aus den eingesehenen Ermittlungsakten ergebe sich nicht, woher die
Behauptung über eine Fahrgeschwindigkeit von 127 km/h genommen worden sei. Das
Landesamt wies den Widerspruch durch Bescheid vom 9. Dezember 2009 - zugestellt
am 14. Dezember 2009 - als unbegründet zurück.
Mit ihrer am 30. Dezember 2009 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin
unter Wiederholung ihres Vorbringens aus dem Verwaltungsverfahren ihr Begehren
weiter. Ergänzend hierzu trägt sie vor, die Angaben des Beklagten seien unrichtig und
beruhten auf der fehlerhaften Unterstellung einer frei erfundenen Fahrgeschwindigkeit.
Außerdem verweist die Klägerin auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Videoüberwachung auf Autobahnen zum Zwecke der Feststellung von
Verkehrsverstößen.
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Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom
27. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2009
aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an den angefochtenen Bescheiden fest.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Streitakte und den Inhalt der die Klägerin betreffenden
Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und
Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet, denn die angefochtenen Bescheide
sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1
VwGO).
Nach § 31 a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann die Verwaltungsbehörde einem Fahrzeughalter
für ein oder mehrere Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuches auferlegen, wenn die
Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen
Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Der Beklagte hat die
Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift zutreffend bejaht und sein Ermessen
fehlerfrei (§ 114 Satz 1 VwGO) ausgeübt.
Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil es
der Begründung des Verwaltungsaktes und des Widerspruchsbescheides folgt (§ 117
Abs. 5 VwGO).
Diesen zutreffenden Ausführungen ist zunächst lediglich hinzuzufügen, dass das Gericht
nach dem Inhalt der vom Beklagten vorgelegten Bußgeldakte und den im
Klageverfahren vom Gericht ergänzend beigezogenen Berechnungsunterlagen des
Autobahnpolizeikommissariats Ahlhorn vom 3. Februar 2010 keinen ernsthaften Zweifel
daran hat, dass die Fahrerin des Fahrzeugs der Klägerin am 9. April 2009 - aus dem
guten Tatfoto ergibt sich zweifelsfrei, dass das Fahrzeug bei diesem Verkehrsverstoß von
einer Frau gefahren worden ist - nach Toleranzabzug eine Fahrgeschwindigkeit von 127
km/h eingehalten und dabei den erforderlichen Sicherheitsabstand von 63 Metern mit 14
Metern deutlich unterschritten hat. Dies ergibt sich aus den beigezogenen
Berechnungsunterlagen, denen die anwaltlich vertretene Klägerin nicht substanziiert
entgegen getreten ist. Die mit der Klageschrift aufgestellte Behauptung, die der
Fahrtenbuchanordnung des Beklagten zugrunde gelegene Fahrgeschwindigkeit von 127
km/h sei frei erfunden, ist vor dem Hintergrund des nunmehr vorliegenden
Beweismaterials auch nicht ansatzweise nachvollziehbar.
Ohne Erfolg verweist die Klägerin auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(2. Kammer des 2. Senats, Beschluss vom 11. August 2009 - 2 BvR 941/08 -, NJW 2009,
3293 f.) Diese Entscheidung ist für den vorliegenden Fall in keiner Weise einschlägig und
steht daher einer Verwertung der am 9. April 2009 aufgezeichneten Bilder von dem
Fahrzeug der Klägerin und der Tatzeitfahrerin in keiner Weise entgegen. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner - nicht unumstrittenen (vgl. dazu Bull, NJW 2009,
3279 ff.) - Entscheidung nur entschieden, die in Mecklenburg-Vorpommern mittels einer
Videoaufzeichnung vorgenommene Geschwindigkeitsmessung auf einer
Bundesautobahn könne unter keinem rechtlichen Aspekt auf den Erlass zur
Überwachung des Sicherheitsabstandes nach § 4 StVO des Wirtschaftsministeriums
Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juli 1999 als Rechtsgrundlage gestützt werden. Soweit
im Anschluss an diese Entscheidung in der Rechtsprechung (Amtsgericht Grimma, Urteil
vom 27. August 2009 - 3 OWi 154 Js 1964/09 - NZV 2010, 100 f.) die Auffassung
vertreten wird, die Abstandsüberwachung mittels Videokamera unterliege einem
Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot und über den vom
Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall der Videoüberwachung hinaus gelte das
Verwertungsverbot für jede Art von Verkehrsverstößen, bei welchen eine Identifizierung
des Fahrers nur mittels des Tatbildes möglich sei, überzeugt dies in keiner Weise.
Nach der inzwischen überwiegenden Rechtsprechung im Ordnungswidrigkeitenrecht (vgl.
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Nach der inzwischen überwiegenden Rechtsprechung im Ordnungswidrigkeitenrecht (vgl.
OLG Bamberg, Beschluss vom 16. November 2009 - 2 Ss OWi 1215/2009, juris;
Thüringisches OLG (Jena), Beschluss vom 6. Januar 2010 - 1 Ss 291/09 -; OLG
Düsseldorf, Beschluss vom 7. Januar 2010 - IV-4 RBs-371 Js 1419/05-5/10 -; OLG
Stuttgart, Beschluss vom 29. Januar 2010 - 4 Ss 1525/09 -, juris; sowie zum
Fahrtenbuchrecht: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 18. Januar 2010 - 14 L 2/10 -, juris)
steht einer Verwertbarkeit der Videoaufnahme im vorliegenden Fall die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nicht entgegen. Die Rechtsgrundlage für die Anwendung der
- anders als im Fall des Bundesverfassungsgerichts - tätigen verdachtsabhängigen
Videosysteme findet sich in § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG.
Nach der oben dargestellten Rechtsprechung, der sich das erkennende Gericht
anschließt, ist § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. StPO im Bußgeldverfahren anwendbar (ebenso
Göhler/Seitz, OWiG, 15. Auflage, vor § 59 Rn. 145 a, anderer Ansicht Niehaus, DAR 2009,
632, 636, der zwar § 100 h StPO für nicht anwendbar hält, eine Bildaufzeichnung aber
nach § 46 Abs. 2 OWiG i. V. m. § 81 b 1. Alt. StPO für rechtlich zulässig erachtet).
Für die Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im vorliegenden
Fall unter dem Gesichtspunkt eines Verwertungsverbots ist im Übrigen auch deshalb
kein Raum, weil nach den vorliegenden Erkenntnissen über die Arbeitsweise des am
Tatort eingesetzten Videokontrollsystems VKS 30 mit der Software 3.1 klar ist, dass es
sich hierbei um eine verdachtsabhängige Kontrolle und Bilderstellung handelt. Dies
ergibt sich zum einen aus dem Merkblatt über die Arbeitsweise der eingesetzten
Technik, den gefertigten Tatfotos und auch aus dem Schreiben des Niedersächsischen
Ministeriums für Inneres, Sport und Integration - Landespräsidium für Polizei, Brand- und
Katastrophenschutz - vom 3. September 2009. Hiernach soll eine Videoaufzeichnung bei
allen im Bestand der Polizei befindlichen VKS-Anlagen im Rahmen eines aufmerksamen
Messbetriebes unter Beobachtung auflaufenden auch mehrstreifigen Verkehrs erst dann
manuell gestartet werden, wenn das Messpersonal den begründeten Anfangsverdacht
einer Ordnungswidrigkeit und/oder Straftat feststellt. Nach abgeschlossener
Dokumentation des tatrelevanten Geschehens ist der Aufzeichnungsvorgang zu
beenden, sofern in dem überschaubaren Verkehrsgeschehen nicht weitere Verstöße zu
dokumentieren sind.
Diese Dokumentationsabläufe stehen daher in vollständigem Gegensatz zu der Technik
des Systems, das der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August
2009 zugrunde gelegen hat und durch eine verdachtsunabhängige Aufzeichnung
gekennzeichnet ist.
Der festgestellte Verstoß (Nichteinhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstandes)
stellt einen erheblichen Verstoß dar, der eine Fahrtenbuchanordnung nach der ständigen
Rechtsprechung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg - Beschluss vom 18. Juli 2007 - 1 N 4.06)
rechtfertigt.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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