Urteil des VG Berlin vom 15.03.2017

VG Berlin: aufenthaltserlaubnis, abschiebung, behörde, zwischenverfügung, unabhängigkeit, grundrecht, ausreise, anhörung, quelle, sammlung

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Gericht:
VG Berlin 35.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
35 L 240.09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 19 Abs 4 GG, § 5 Abs 2
AufenthG, § 19 AufenthV, § 146
Abs 2 VwGO
Schutz vor Vollstreckungsmaßnahmen im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren
Leitsatz
1) Die Behörde hat kein Recht, pflichtgemäß deklaratorisch erteilte Zusicherungen hinsichtlich
der Respektierung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zeitlich zu befristen.
2) Zwischenverfügungen (Hängebeschlüsse) sind nicht anfechtbar.
Tenor
1. Es wird im Wege der Zwischenverfügung festgestellt, dass der Antragsgegner nicht
berechtigt ist, bis zwei Wochen nach Zustellung der abschließenden Entscheidung der
Kammer über den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
Abschiebungsmaßnahmen gegen die Antragstellerin einzuleiten.
2. Der Antragstellerin wird aufgegeben,
a) umgehend den Nachweis über das Bestehen der A 1 – Prüfung vorzulegen.
b) vorsorglich darzulegen, aufgrund welcher besonderen Umstände für sie die
Nachholung eines Visumverfahrens gem. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG unzumutbar ist.
3. Dem Antragsgegner wird aufgegeben, umgehend
a) mitzuteilen, wie lange der in seinem Gewahrsam befindliche Pass der Antragstellerin
noch gültig ist;
b) darzulegen, für welchen Zeitraum die Antragstellerin als Inhaberin eines dienstlichen
Passes vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit war (§ 19 AufenthV).
Gründe
Für den Beschluss ist der Berichterstatter zuständig, weil ihm die Kammer bereits im
zugehörigen Klageverfahren VG 35 A 241.08 am 1. Oktober 2008 den Rechtsstreit zur
Entscheidung als Einzelrichter übertragen hat, § 6 Abs. 1 VwGO (s. dazu: , in:
, VwGO, § 6 Rdnr. 7)..
Zur Gewährleistung der Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist es dem
Antragsgegner versagt, vor Prüfung des Rechtsschutzantrages durch die
Verwaltungsgerichtsbarkeit unumkehrbare Vollstreckungsmaßnahmen gegen die
Antragstellerin einzuleiten, da der Antrag nicht offensichtlich unzulässig oder
rechtsmissbräuchlich ist ( , NJW 1987, 2219; , NVwZ-RR 1995, 302,
und NVwZ 2000, 1318; , Beschluss vom 21. Februar 2001, InfAuslR 2001, 253
= AuAS 2001, 158; , LKV 2001, 107 ff.). Aus diesem Verfahrensgrundrecht folgt
ein Anspruch der Antragstellerin auf Verbleib in Deutschland bis zu einer möglichen
zweitinstanzlichen Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, sofern
die Antragstellerin vor der Kammer unterliegen sollte und hiergegen Beschwerde einlegt.
Zwar überlässt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die nähere Ausgestaltung des Rechtswegs den
jeweils geltenden Prozessordnungen ( , 264, 267 f.; , 297, 310) und
gewährleistet nicht, dass diese einen Instanzenzug zur Verfügung stellen ( ,
232, 233 m.w.N.; , 21, 36). Jedoch darf der Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden (
E , 49, 81 f.; , 297, 310) und er darf auch nicht in unzumutbarer, aus
Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden ( , 264,
268). Das gilt nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, es gilt auch für die
Wahrnehmung aller Instanzen, die eine Prozessordnung jeweils vorsieht ( ,
272 ff. und , 88 ff.; NVwZ 2000, 1318 = AuAS 2000, 162 ff.;
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272 ff. und , 88 ff.; NVwZ 2000, 1318 = AuAS 2000, 162 ff.;
EZAR 622 Nr. 24). Von daher war Abschiebungsschutz zunächst noch bis zum
Ablauf der Rechtsmittelfrist zu gewähren. Der Antragsgegner verkennt, dass es ihm
nicht zusteht, nach eigenem Gutdünken über das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs.
4 Satz 1 GG zu verfügen und eigenmächtig darüber zu befinden, ob er dem jeweiligen
Antragsteller zubilligt, vor seiner Abschiebung gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu
nehmen. Sogenannte „Zusicherungen“, bis zur Entscheidung des Gerichts keine
unumkehrbaren Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen, sind kein „Gnadenakt“ der
Behörde, sondern ihre verfassungsrechtlich verbürgte Pflicht. Mithin steht es dem
Antragsgegner nicht zu, eine derartige (rein deklaratorische) Zusicherung zeitlich zu
befristen und dadurch das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nach Belieben außer
Kraft zu setzen. Ausschließlich das Gericht ist Herr des Verfahrens und verantwortet in
richterlicher Unabhängigkeit Zeitpunkt und Inhalt seiner Entscheidung.
Ob die Voraussetzungen für die Untersagung der geplanten Abschiebung erfüllt sind,
bleibt der Sachentscheidung vorbehalten. Insofern bedarf es zunächst weiterer
Aufklärung, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohne
vorherige Ausreise erfüllt sind (s. die Auflagen zu 2. und 3.). Im Übrigen steht im
Klageverfahren VG 35 A 241.08 Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. Juli 2009 an,
zu dem das persönliche Erscheinen der Antragstellerin angeordnet worden ist. Dabei
wird u.a. auch noch zu klären sein, ob Bestandteil der beim ersten Verhandlungstermin
am 4. November 2008 erzielten Einigung war, dass der Antragstellerin im Falle des
Bestehens der Sprachprüfung A 1 die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden solle. Insofern
kommt die Anhörung der damaligen Prozessvertreterin des Antragsgegners als Zeugin
in Betracht.
Dieser Beschluss ist insgesamt, d.h. auch hinsichtlich der Feststellung eines
Abschiebungsschutzes, als rein deklaratorischer Hinweis auf die ohnehin bestehende
Rechtslage (s. InfAuslR 2006, 316, 319) bzw. als prozessleitende
Zwischenverfügung im Sinne von § 146 Abs. 2 VwGO unanfechtbar (ständige
Rechtsprechung der bezüglich der sogenannten Hängebeschlüsse, vgl. zuletzt
Beschlüsse vom 6. April 2009 - VG 35 L 59.09 – und vom 15. April 2008 - VG 35 A 117.08
-; , Beschluss vom 21. Dezember 2005 - 14 Cs 05.2871 -, zitiert nach juris;
, 8. Senat, Beschlüsse vom 20. Juni 1997 - OVG 8 SN 245.97 - und vom 20. August
1997 - OVG 8 SN 319.97; ebenso im Grundsatz , 8. Senat, NVwZ-RR 1999,
212; , NVwZ-RR 1995, 302; , in:
, VwGO, September 2004, § 146 Rdnr. 11a; , in:
, Öffentliches Baurecht Bd. II, 5. Aufl. 2005, § 21 Fußn. 106; ,
a.A.
NVwZ 2004, 1134, mit abl. Kommentierung von NVwZ 2004, 1081
ff.; NVwZ 2004, 1135; ThürVBl. 2003, 14 ff.;
NordÖR 2002, 224; , NVwZ 1999, 785 = DVBl 1999, 1000; , in:
, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 123 Rdnr. 60 und § 146 Rdnr. 9; ,
VwGO, 15. Aufl. 2007, § 146 Rdnr. 11; , NVwZ 2001, 275, 278 f.).
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