Urteil des VG Berlin vom 01.01.1991

VG Berlin: gericht erster instanz, einreise, unionsbürger, adoption, familiennachzug, verwandtschaft, marokko, visum, härte, ausländerrecht

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Gericht:
VG Berlin 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 V 17.08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 6 Abs 4 AufenthG, § 11 Abs 1
S 1 AufenthG, § 36 AufenthG, §
3 FreizügG/EU
Rechtliche Stellung eines Kindes eines Unionsbürgers durch
Kafala
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Tatbestand
Die am 1. Januar 1991 geborene Klägerin ist marokkanische Staatsangehörige. Sie
begehrt ein Visum zum Familiennachzug zu ihren in Freiburg im Breisgau lebenden
Verwandten, Herrn A. und Frau I. H.. Frau H., die Tante der Klägerin, ist marokkanische
Staatsangehörige, deren Ehemann, Herr A., französischer Staatsangehöriger.
Unter dem 12. April 2007 erteilte das Gericht Erster Instanz Oued Zem/Marokko -
Beurkundungsabteilung – eine Bescheinigung über die Kafala. Danach haben Herr A. und
Frau H. beantragt, amtlich festzustellen, dass ihnen das Sorgerecht für die Klägerin
übertragen worden ist. Durch das ihnen übertragene Sorgerecht verpflichteten sie sich,
für alle für das Kind notwendigen Ausgaben, wie Ernährung, Bekleidung, Schule sowie
ärztliche Betreuung aufzukommen. Mit Urteil vom 25. April 2007 bestätigte das Gericht
Erster Instanz in Oued Zem/Marokko – Familiengericht - die Bescheinigung über die
Kafala.
Unter dem 22. Mai 2007 beantragte die Klägerin bei der Botschaft der Beklagten in
Rabat die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung. Die Beklagte beteiligte
darauf die Beigeladene, die unter dem 26. Juni 2007 die Zustimmung zur Erteilung des
Visums mit der Begründung versagte, eine Sorgerechtsübertragung aus wirtschaftlichen
Gründen stelle keine Grundlage für einen Aufenthaltsrecht in Deutschland dar. Mit
Bescheid vom 26. Juni 2007 lehnte die Beklagte die Erteilung des begehrten Visums ab.
Hiergegen remonstrierte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom
31. Januar 2008 und machte geltend, die Kafala sei mit einer Adoption vergleichbar. Mit
Remonstrationsbescheid vom 6. Februar 2008, eingegangen beim
Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 18. Februar 2008, hielt die Beklagte an ihrer
Ablehnung fest. Die Kafala begründe keine Verwandtschaftsbeziehung zwischen Kind und
Pflegenden. Allenfalls käme ein Familiennachzug nach § 36 Abs. 2 AufenthG in Frage,
eine außergewöhnliche Härte sei aber nicht gegeben. Die Klägerin lebe in Marokko mit
ihren Eltern und Geschwistern zusammen; finanzieller Bedürftigkeit könne auch durch
Geldtransferleistungen des Ehepaares A. abgeholfen werden.
Mit ihrer am 18. März 2008 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Klage verfolgt die
Klägerin ihr Begehren weiter.
Sie macht geltend, ihr Nachzugsanspruch richte sich nicht nach dem Aufenthaltsgesetz,
sondern nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU. Sie sei Familienangehörige eines
Unionsbürgers. Im Übrigen seien die Vorschriften über die Adoption im Falle einer Kafala
entsprechend anzuwenden, da in Marokko keine andere Art der Adoption möglich sei
und insofern eine Regelungslücke bestehe.
Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 6. Februar 2008 zu
verurteilen, ihr ein Visum zur Einreise nach Deutschland zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Über die Klage entscheidet die Berichterstatterin als Einzelrichterin, da ihr die Kammer
die Sache gemäß § 6 Abs. 1 VwGO durch Beschluss zur Entscheidung übertragen hat. Es
konnte trotz Ausbleibens des Prozessbevollmächtigten der Klägerin und der
Beigeladenen zur Sache verhandelt und entschieden werden, weil die Beteiligten mit der
Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig. Dabei geht das Gericht zugunsten der Klägerin davon aus, dass
sie infolge der Bescheinigung über die Kafala des Gerichts Erster Instanz Oued
Zem/Marokko vom 12. April 2007, bestätigt durch Urteil des Familiengerichts Oued Zem
vom 25. April 2007, von Herrn A. im gerichtlichen Verfahren vertreten werden kann.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Bescheide vom 26. Juni 2007 und 6. Februar 2008
sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin daher nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat
keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums zum Familiennachzug (§ 113 Abs.
5 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für das Nachzugsbegehren der Klägerin sind die Vorschriften des
Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vom 30.
Juni 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. August 2007
(BGBl. I S. 1970), das die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer
Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihren Familienangehörigen
regelt (vgl. § 1 FreizügG/EU). Gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU bedürfen
Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, für die Einreise eines Visums nach den
Bestimmungen für Ausländer, für die das Aufenthaltsgesetz gilt. Nach § 6 Abs. 4 Satz 1
AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte ein Visum für das Bundesgebiet (nationales
Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den
für die Aufenthaltserlaubnis, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG geltenden Vorschriften (§ 6 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Nach § 2 Abs.
2 Nr. 6 FreizügG/EU sind Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4
gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr.
1 bis 5 genannten Unionsbürger haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt, wenn sie
den Unionsbürger begleiten oder zu ihm nachziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU).
Familienangehörige sind der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie der in §§
2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen und ihrer Ehegatten, die noch nicht 21
Jahre alt sind (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), bzw. die Verwandten in aufsteigender und in
absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer
Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren (§ 3 Abs. 2
Nr. 2 FreizügG/EU). Zwar handelt es sich bei Herrn A. um einen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1
FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger. Die Klägerin ist jedoch nicht
Familienangehörige des Herrn A. bzw. seiner Ehefrau, da sie nicht nicht zu den
Verwandten in absteigender Linie im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FreizügG/EU zählt.
Eine Verwandtschaft im Sinne dieser Vorschrift besteht weder aufgrund der sogenannten
Kafala noch im Hinblick darauf, dass die Klägerin die Nichte der Frau H. ist.
Die Klägerin hat nicht infolge der Kafala die rechtliche Stellung eines Kindes eines
Unionsbürgers erlangt. Bei der Kafala handelt es sich nicht um eine Annahme als Kind,
also eine Adoption. Das marokkanische Recht kennt keine Adoption. Die Kafala
begründet keine Verwandtschaft, vielmehr handelt es sich dabei um eine Schutzzusage,
die die aufnehmende Person zur umfassenden Sorge einschließlich des Unterhalts
verpflichtet (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 1. Februar 2007 - VG 16 V 42.06 – m.w.N.,
bestätigt durch Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 4. Mai 2007, OVG 3 M
21.07).
Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin darauf, es liege eine planwidrige Regelungslücke vor,
die durch eine analoge Anwendung der Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes bzw.
Adoptionsgesetzes geschlossen werden müsste. Soweit sie sich in diesem
Zusammenhang auf die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg vom 25. April 2007
(-OVG 12 B 2.05, juris) beruft, betraf diese den Umfang der Sorgerechtsübertragung in
Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Nach der neuesten Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts scheidet eine analoge Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG
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Bundesverwaltungsgerichts scheidet eine analoge Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG
in diesen Fällen jedoch aus (Urteile vom 7. April 2009, - 1 C 17.08 -, - 28.08 - und - 29.08
– Pressemitteilung Nr. 21/2009 vom 7. April 2009,www.bundesverwaltungsgericht.de). Im
Übrigen kommt eine analoge Anwendung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bei einer
Kafala schon deshalb nicht in Betracht, weil die Kafala mit einer Adoption gerade nicht
vergleichbar ist, sondern eher dem Institut der Pflegekindschaft entspricht (vgl. VG
Berlin, Beschluss vom 16. März 2009, - 2 V 45.08-, juris m.w.N.).
Als Nichte der Ehefrau eines Unionsbürgers hat die Klägerin ebenfalls keinen
Nachzugsanspruch aus § 3 Abs. 2 FreizügG/EU. Bei den Verwandten in absteigender
Linie handelt es sich um die Kinder und Enkelkinder des Unionsbürgers bzw. seines
Ehegatten (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 54. Aktualisierung 2007, § 3 FreizügG/EU
Rdnr. 13). Nach Art. 2 Nr. 2 c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 29. April 2004 (Amtsblatt der Europäischen Union L 158/77, 30.April
2004) sind Familienangehörige die Verwandten in gerader absteigender Linie des
Unionsbürgers und des Ehegatten. Soweit der deutsche Gesetzgeber bei der
Umsetzung der Richtlinie auf die Präzisierung „in gerader … Linie“ verzichtet hat und der
Wortlaut insofern lediglich von Verwandten in absteigender Linie spricht, ergibt sich
daraus keine Erweiterung des begünstigten Personenkreises. Aus dem
Gesetzgebungsvorgang ergeben sich keinerlei Hinweise, dass der Kreis der
Familienangehörigen weiter gezogen werden sollte als in der Richtlinie. Der Wortlaut des
§ 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU lässt diesen Schluss ebenfalls nicht zu. Das deutsche
Familienrecht definiert in § 1589 BGB Verwandtschaft in gerader Linie und
Verwandtschaft in der Seitenlinie, nicht jedoch Verwandtschaft in absteigender bzw.
aufsteigender Linie. Dass in § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU auch eine ab- bzw.
aufsteigende Seitenlinie einbezogen werden sollte, ergibt sich aus dem Wortlaut nicht.
Eine derartige Auslegung würde im Übrigen zu widersinnigen Ergebnissen führen, da
entferntere Verwandte wie Nichten und Neffen oder Onkel und Tanten dann einen
Nachzugsanspruch hätten, nähere Verwandte wie Geschwister jedoch nicht. Vor diesem
Hintergrund spricht viel dafür, dass es sich bei dem Weglassen des Wortes „gerade“
entweder um ein Redaktionsversehen handelte oder der Gesetzgeber die Präzisierung
als überflüssig angesehen hat.
Ein Nachzugsrecht als sonstige Familienangehörige steht der Klägerin nicht zu. Gemäß §
11 Abs. 1 Satz 1 findet § 36 AufenthG auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen
entsprechende Anwendung. Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sonstigen
Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis
erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
Eine derartige außergewöhnliche Härte ist nicht ersichtlich. Die Beklagte verweist
insofern zu Recht darauf, dass die Klägerin in ihrem Heimatland mit ihren Eltern und
Geschwistern zusammenlebt.
Art. 3 Abs. 2 a der Richtlinie 2004/38/EG vermittelt keinen Anspruch der Klägerin auf
einen Familiennachzug. Darin heißt es: „Unbeschadet eines etwaigen persönlichen
Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der
Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die
Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen: a) Jedes nicht unter die Definition in
Art. 2 Nr. 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem
der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt
oder mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn
schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen
durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen. Der Aufnahmemitgliedstaat
führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet
eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Person.“ In
Erwägungsgrund 6 der Richtlinie heißt es insoweit: „Um die Einheit der Familie im
weiteren Sinne zu wahren und unbeschadet des Verbots der Diskriminierung aus
Gründen der Staatsangehörigkeit sollte die Lage derjenigen Personen, die nicht als
Familienangehörige im Sinne dieser Richtlinie gelten und die daher kein automatisches
Einreise- und Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat genießen, von dem
Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage seiner eigenen innerstaatlichen
Rechtsvorschriften daraufhin geprüft werden, ob diesen Personen die Einreise und der
Aufenthalt gestattet werden könnte, wobei ihre Beziehung zu dem Unionsbürger sowie
anderen Aspekten, wie ihre finanzielle oder physische Abhängigkeit von dem
Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist.“ Daraus ergibt sich kein Nachzugsanspruch;
vielmehr soll die Entscheidung über die Einreise im Ermessen der Mitgliedstaaten
stehen. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Zwar ist die Kategorie der sonstigen
Familienangehörigen, für die gemeinschaftsrechtlich die Erleichterungspflicht gilt, nicht
vollständig identisch mit denjenigen Personen, denen zur Vermeidung einer
außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 AufenthG der Familiennachzug erlaubt
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außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 AufenthG der Familiennachzug erlaubt
werden kann. Eine erweiternde Auslegung des § 36 AufenthG ist jedoch
gemeinschaftsrechtlich nicht zwingend geboten, da die Freizügigkeitsrichtlinie lediglich
eine Pflicht zur Erleichterung vorsieht und im Übrigen auf die innerstaatlichen
Rechtsvorschriften verweist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 54. Aktualisierung Oktober
2007, § 11 FreizügG/EU, Rnr. 11).
Im Übrigen hat die Klägerin auch nicht belegt, dass sie Unterhaltszahlungen von ihrem
Onkel erhält und damit zu dem von Art. 3 Abs. 2 a der Richtlinie 2004/38/EG
begünstigten Personenkreis zählt.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
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