Urteil des VG Berlin vom 14.03.2017

VG Berlin: schule, schüler, zahl, hauptsache, verordnung, geschwisterkind, pädagogik, anteil, unterricht, besuch

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Gericht:
VG Berlin 9. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 A 74.07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 55 Abs 1 SchulG BE, § 55 Abs
4 SchulG BE
Wohnortnähe als unzulässiges Auswahlkriterium bei der
Vergabe von Plätzen in einer Montessori-Grundschule ohne
Schuleinzugsbereich
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, das Kind
Ferdinand G. zum Schuljahr 2007/2008 vorläufig in eine 1. Klasse der C.-G.-Schule
aufzunehmen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antrag,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Kind
Ferdinand G., geb. am .... Juli 2001, zum Schuljahr 2007/2008 vorläufig in eine 1. Klasse
der C.-G.-Schule aufzunehmen,
ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Die Antragsteller haben das Vorliegen
eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht (§ 123
Abs. 1 und 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Wegen des im Verfahren nach § 123 Abs. 1
VwGO grundsätzlich zu beachtenden Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache kommt
der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nur in Betracht, wenn ein Obsiegen
der Antragsteller in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und ein
Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache mit irreparablen Nachteilen
verbunden wäre. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Das Kind der Antragsteller hat einen Anspruch, in eine 1. Klasse der C.-G.-Schule
aufgenommen zu werden. Denn die Auswahlentscheidung des Antragsgegners ist
rechtlich fehlerhaft. Grundlage der getroffenen Auswahl ist die Tatsache, dass es sich bei
der C.-G.-Schule um eine Schule besonderer pädagogischer Prägung handelt, für die
nach § 55 Abs. 4 des Berliner Schulgesetzes – SchulG – vom 26. Januar 2004 (GVBl. S.
26) im Allgemeinen und abweichend von § 55 Abs. 1 SchulG keine Einschulungsbereiche
festgelegt werden. Die Kriterien für eine Aufnahme in eine solche Schule richten sich
nach der Verordnung über die Aufnahme in Schulen besonderer pädagogischer Prägung
– AufnahmeVO-SbP – vom 23. März 2006 (GVBl. S. 306). Nach § 2 Abs. 1 AufnahmeVO-
SbP stehen die Schulen besonderer pädagogischer Prägung im Rahmen der
bestehenden Kapazitäten grundsätzlich allen dafür geeigneten Schülerinnen und
Schülern des Landes Berlin offen. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 AufnahmeVO-SbP erfolgt die
Aufnahme grundsätzlich nach dem Grad der Eignung der Schülerinnen und Schüler für
den gewünschten Bildungsgang unter Berücksichtigung der Profile der jeweiligen Schule.
Die Auswahl richtet sich nach Absatz 2 Satz 2 der Vorschrift abweichend von den
Bestimmungen in § 55 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 bis 3 und § 56 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 bis 5 des
Schulgesetzes nach den in Teil II dieser Verordnung vorgesehenen Bestimmungen.
Dabei bleibt zwar nach § 2 Abs. 2 Satz 3 AufnahmeVO-SbP die Entfernung der Wohnung
zur Grundschule grundsätzlich außer Betracht; dies soll allerdings ausdrücklich nicht für §
12 Abs. 2 der AufnahmeVO-SbP gelten, der die hier in Rede stehende C.-G.-Schule
betrifft. Für den Fall, dass die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität
überschreitet, sieht diese Bestimmung vor, dass zunächst zu zwei Dritteln Schülerinnen
und Schüler aufgenommen werden, deren Wohnung sich in kurzer Entfernung zur Schule
befindet. Im Umfang von einem Drittel werden Schülerinnen und Schüler unabhängig
von ihrem Wohnort aufgenommen. Die Aufnahme dieser Schülerinnen und Schüler
richtet sich jeweils nach folgenden Kriterien in abgestufter Rangfolge:
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Zwar hat der Antragsgegner die Auswahlentscheidung nach Maßgabe dieser
Bestimmungen getroffen und ihr zugrunde gelegt, dass die Zahl der Bewerbungen für
die C.-G.-Grundschule die Zahl der zur Verfügung stehenden 48 Plätze überstieg.
Insgesamt haben sich 77 Kinder zum Schuljahr 2007/2008 zur Aufnahme in diese
Grundschule beworben; davon betrafen 27 Bewerbungen Kinder, die in kurzer Entfernung
zu dieser Schule wohnen; diesen Bewerbungen wurde, da sie den Anteil von zwei
Dritteln, gemessen an 48 Plätzen, nicht überstieg, Rechnung getragen. Demnach wurde
die Auswahlentscheidung im Hinblick auf die verbleibenden 21 weiteren Plätze auf der
Grundlage der in der Verordnung genannten Kriterien getroffen. Dabei ist der
Antragsgegner davon ausgegangen, dass das Kind der Antragsteller weder ein
Geschwisterkind auf der C.-G.-Grundschule noch zum jetzigen Zeitpunkt eine Einrichtung
der Jugendhilfe besucht, die nach den Prinzipien der Maria Montessori arbeitet. Dem
standen 19 Kinder gegenüber, die mindestens eines dieser beiden Kriterien erfüllten und
die deshalb vom Antragsgegner aufgenommen wurden.
Die nach § 12 Abs. 2 Satz 1 AufnahmeVO-SbP vorgesehene Aufnahme nach
Wohnortnähe steht mit der Verordnungsermächtigung nicht in Einklang. Insoweit ist die
Verordnung nichtig und daher nicht anwendbar, so dass der Antragsgegner seine
Entscheidung nicht anhand dieses Kriteriums treffen durfte. Nach § 18 Abs. 3 SchulG
kommt eine Abweichung von einzelnen Vorschriften des Schulgesetzes bei Schulen
besonderer pädagogischer Prägung nur in Betracht, soweit es das besondere
pädagogische oder organisatorische Konzept erfordert. Mithin muss die Abweichung
geboten sein, um dem besonderen Profil der Schule gerecht zu werden. Es bedarf also
einer besonderen Rechtfertigung für die Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben. So
liegt auf der Hand, dass die bei aufzunehmenden Kindern vorhandene Kenntnis einer
weiteren Fremdsprache bei den etwa in § 3 der AufnahmeVO-SbP genannten bilingualen
Schulen ein besonderes und durch den Charakter der Schule, in der der Unterricht in
zwei Sprachen abgehalten wird, vorgegebenes Auswahlkriterium sein muss. Auch für die
in den §§ 10 und 11 aufgeführten Schulen mit musikalischem Schwerpunkt ist es
sachgerecht, dass die Aufnahme von Schülern von musikalischen Vorkenntnissen
abhängig gemacht wird. Damit knüpfen die jeweiligen Kriterien unmittelbar an die
Vorgabe des § 2 Abs. 1 AufnahmeVO-SbP an, der auf die Eignung der Schülerinnen und
Schülern für die besondere Schule abstellt. Aufgrund der Besonderheiten der C.-G.-
Schule mag es zwar erforderlich sein, von den gesetzlichen Bestimmungen etwa über
die Zeugnisse (§ 58 SchulG) abzuweichen. Dies gilt aber für das genannte Kriterium der
Wohnortnähe nicht.
Der Unterricht an der aus einem Schulversuch hervorgegangenen C.-G.-Schule wird
ausnahmslos nach den Grundsätzen der Pädagogik von Maria Montessori durchgeführt
(vgl. Darstellung im Internet: http://www.C.-G..cidsnet.de//). Zu diesen Grundsätzen
gehört das Prinzip der Altersmischung. Jeder Klassenverband besteht aus etwa 24
Kindern der Klassenstufen 1-3 bzw. 4-6. Jedes Kind ändert mit Beginn des neuen
Schuljahres seine Stellung innerhalb des Klassenverbandes. Das Kernstück der
Montessori-Pädagogik ist die so genannte „Freiarbeit“, die in allen Klassen 2
Unterrichtsstunden täglich umfasst. Hier dürfen die Schülerinnen selbständig ihre Arbeit
wählen. Jedes Kind entscheidet auf der Grundlage des pädagogischen Angebots, seines
Interesses und seiner Fähigkeiten, was es bearbeiten will und wie lange es sich dieser
Arbeit widmet. Die Aufgabe der Lehrkräfte besteht in dieser Unterrichtsphase darin, die
Kinder in ihrem Lernen zu beobachten und Orientierungshilfen zu geben. In einer
weiteren Phase des Schulvormittags arbeiten die Kinder projektartig zu von den
Lehrkräften vorgegebenen Themenbereichen, die die Inhalte verschiedener Lernbereiche
bzw. Fächer umfassen. Auch hierbei sollen die Interessen und Fähigkeiten der Kinder
differenzierte Berücksichtung finden, und die im Rahmenplan vorgegebenen Themen
sollen ausführlich und fächerübergreifend bearbeitet werden können. In den
Klassenstufen 1-4 erhalten die Kinder keine Noten, sondern Zeugnisse mit verbaler
Beurteilung. Die Halbjahreszeugnisse in den Klassen 3 und 4 werden ersetzt durch
verbindliche Gespräche mit den Erziehungsberechtigten, über die ein Gesprächsvermerk
erstellt wird.
Das aufgeführte Unterrichtskonzept lässt nicht die Notwendigkeit dafür erkennen, die
Auswahl eines Anteils von zwei Dritteln der Schüler der C.-G.-Schule, die gerade eine
Schule ohne Einschulungsbereich sein soll, bei die Zahl der Plätze übersteigenden
Bewerberzahlen an der „kurzen Entfernung“ ihres Wohnortes zur Schule zu bemessen.
Die Zusammensetzung der in die erste Klasse aufgenommenen Schülerschaft
entspricht bei Anwendung der Kriterien nämlich ganz überwiegend derjenigen einer
herkömmlichen Schule mit Einschulungsbereich. Im konkreten Fall wurden von den
vorhandenen 48 Plätze 27 vorab an in „kurzer Entfernung“ wohnende Kinder vergeben,
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vorhandenen 48 Plätze 27 vorab an in „kurzer Entfernung“ wohnende Kinder vergeben,
und bei weiteren 7 Schülern besucht bereits ein Geschwisterkind die C.-G.-Grundschule.
Nur bei 10 weiteren Kindern war ausschlaggebend, dass diese bereits jetzt eine
Montessori-Einrichtung besuchen, während zwei freie Plätze bei den noch gleichrangig
vorhandenen Bewerbern verlost wurden. Von den zum Schuljahr 2007/2008
aufgenommenen Erstklässlern kann insgesamt nur ein Anteil von etwa einem Fünftel auf
ein gewisse „Montessori-Vorprägung“ (bei der ohnehin zweifelhaft erscheint, ob sie einer
Eignung im Sinne von § 2 Abs. 1 AufnahmeVO-SbP gleichgestellt werden kann),
zurückgreifen. In eine Schule, die ausdrücklich ohne Einschulungsbereich konzipiert ist,
vorrangig Kinder allein deshalb aufzunehmen, weil sie in örtlicher Nähe der Schule
wohnen und damit zugleich Bewerber auszuschließen, die sich zwar nicht auf Wohnnähe,
aber andere Gründe berufen können, schränkt die Wahlfreiheit der Eltern, ihr Kind in
einer Grundschule mit besonderem pädagogischen Angebot unterrichten zulassen,
unverhältnismäßig ein (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 20. September 2002 (OVG 8 S
224.02). Ist demnach das Auswahlkriterium der Wohnortnähe bei Schulen, die
ausdrücklich keinen Einschulungsbereich umfassen sollen, sowohl mit dem Charakter als
Schule mit besonderer pädagogischer Prägung unvereinbar als auch nicht von der
Verordnungsermächtigung gedeckt, durfte der Antragsgegner seine
Auswahlentscheidung dieses Kriterium, das den nicht in unmittelbarer Schulnähe
wohnenden Sohn der Antragsteller benachteiligt, nicht bei der getroffenen Auswahl
berücksichtigen.
Werden im Rahmen des Auswahlverfahrens Kinder zu Unrecht bevorrechtigt
aufgenommen, so werden dadurch die Rechte der Bewerber verletzt, die bei einer
ordnungsgemäßen Auswahlentscheidung Berücksichtigung gefunden hätten. Diese
Rechtsverletzung muss die Behörde durch die Aufnahme des zu Unrecht in der
Auswahlentscheidung unterlegenen Bewerbers durch seine Aufnahme in die begehrte
Schule beheben, soweit ihm dies zumutbar ist. Dabei sind die zusätzlich geschaffenen
Plätze im Interesse effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG an diejenigen
Bewerber zu vergeben, die gegen ihre rechtswidrige Ablehnung rechtzeitig um
gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht haben. Vorliegend ist nicht erkennbar, dass es
dem Antragsgegner unzumutbar wäre, für den Antragsteller einen zusätzlichen Platz in
der begehrten Schule zu schaffen.
Schließlich liegt ein Anordnungsgrund vor, weil eine Entscheidung in der Hauptsache zu
spät käme, um den festgestellten Anspruch auf Aufnahme in die C.-G.-Schule zum 27.
August 2007 im Hauptsacheverfahren durchzusetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Wertfestsetzung folgt aus §§
39 ff, 52 f. GKG.
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