Urteil des VG Berlin vom 14.03.2017

VG Berlin: amnesty international, russische föderation, politische verfolgung, rechtskräftiges urteil, registrierung, auskunft, jahresbericht, körperliche unversehrtheit, zahl, ausländer

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Gericht:
VG Berlin 38.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
38 X 7.08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 GG,
§ 51 Abs 1 AuslG, § 53 AuslG, §
60 AufenthG
Frage der Verfolgungsgefahr für Tschetschenen
Leitsatz
1. Tschetschenische Volkszugehörige unterliegen derzeit keiner Gruppenverfolgung in
Tschetschenien.
2. Für unverfolgt aus Tschetschenien ausgereiste tschetschenische Volkszugehörige steht
jedenfalls in anderen Gebieten der Russischen Föderation derzeit grundsätzlich eine
inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Tatbestand
Die ausweislich einer von der Klägerin zu 1. und ihrem Ehemann D. vorgelegten
Heiratsurkunde sowie die Kläger zu 2. und 3. betreffende Geburtsurkunden 1973, 1996
bzw. 1998 geborenen und aus Tschetschenien stammenden Kläger russischer
Staatsangehörigkeit begehren ihre Anerkennung als Asylberechtigte und die
Zuerkennung eines Abschiebungsverbots.
Am 22. Juli 1999 meldeten sich die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann mit den Klägern zu 2.
und 3. unter Vorlage der genannten Unterlagen in Berlin als Asylsuchende, wobei sie
angaben, mit einem Schiff über Hamburg ins Bundesgebiet eingereist zu sein. Am 23.
Juli 1999 stellten sie bei der Außenstelle Berlin des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; i.F.
Bundesamt) einen Asylantrag, wozu die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann am 13. August
1999 angehört wurden. Dabei gab der Ehemann bzw. Vater der Kläger im Wesentlichen
Folgendes an: Er sei russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit
aus Schali und spreche Russisch und Kumykisch. Er habe weder in Russland, wo er bis
zur Ausreise als Zwischenhändler für in verschiedenen russischen Städten erworbene
und in Tschetschenien verkaufte marktgängige Waren gearbeitet habe, noch im Ausland
Verwandte. Mitte Juli 1999 seien sie (die Kläger und er) über St. Petersburg auf dem
Schiffsweg nach Deutschland ausgereist. Dazu habe er 5.000 $ an einen Schleuser
gezahlt, der sie auf das Schiff und in Deutschland wieder vom Schiff herunter gebracht
und die Kontrollen für sie erledigt habe. Ohne dass er sich selbst an Kontrollen erinnern
könne, seien sie vom Hamburger Hafen mit einem Taxi nach Berlin gefahren, da er
gehört gehabt habe, dass man hier Asyl beantragen könne. Ausgereist seien sie,
nachdem Leute des Schamil Basajew ihn zweimal für den Kampf gegen Dagestan hätten
rekrutieren wollen. Einmal seien diese Leute im Sommer (1999) gekommen und ein
zweites Mal kurz vor der Ausreise, wobei sie ihm gedroht hätten, ihn und seine Familie
umzubringen, falls er sich ihnen nicht anschließe. Es habe sich jeweils um verschiedene
Männer in Zivil und mit Maschinenpistolen gehandelt, die so ausgesehen hätten wie
Anhänger des Basajew und auch andere junge Männer im Dorf zu rekrutieren gesucht
hätten. Da er sich ihnen verweigert habe, werde er im Falle einer Rückkehr getötet
werden; er könne auch sonst nicht nach Russland zurückkehren, weil alle Tschetschenen
dort überall unbeliebt seien.
Die Klägerin zu 2. gab bei der Anhörung im Wesentlichen Folgendes an: Sie sei russische
Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit, spreche Russisch und
Kumykisch und habe zuletzt mit dem Ehemann und den Klägern zu 2. und 3. in Schali
gewohnt. Zu ihrem von der Mutter geschiedenen Vater habe sie keinen Kontakt gehabt;
der Kontakt zur Mutter und einer Schwester sei 1995 während des ersten
Tschetschenienkrieges verloren gegangen. Bis zur Eheschließung im Jahr 1996 habe sie
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Tschetschenienkrieges verloren gegangen. Bis zur Eheschließung im Jahr 1996 habe sie
ihrer Mutter bei deren Obsthandel geholfen; danach sei sie Hausfrau gewesen. Mitte Juli
1999 sei sie mit ihrem Mann und den Kindern über St. Petersburg auf dem Seeweg nach
Deutschland gelangt, nachdem ihr Mann einem Schleuser Geld aus ihren Ersparnissen
gezahlt und dieser sie auf einem Schiff untergebracht gehabt habe. Am 20. Juli 1999
seien sie wahrscheinlich in Hamburg eingetroffen, vom Schleuser vom Schiff und nach
Berlin gebracht worden, ohne dass sie Probleme etwa mit Kontrollen bekommen hätten.
Ausgereist seien sie wegen des Chaos in ihrer Heimat. Zweimal seien Banditen zu ihnen
nachhause gekommen, die ihren Mann aufgefordert hätten, dass er mit ihnen in
Dagestan kämpfe. Auch andere junge Männer im Dorf seien betroffen gewesen. Ihr
Mann sei öfter zusammengeschlagen worden. Beim letzten Mal habe man gedroht, die
Kinder umzubringen. Nach Tschetschenien könnten sie nicht zurückkehren, da ihr Mann
und die Kinder gefährdet seien. Außerdem seien Tschetschenen überall in Russland, wo
sie – die Kläger – keine Verwandten hätten, unbeliebt.
Das Bundesamt lehnte den Asylantrag der Kläger sowie ihres Ehemannes bzw. Vaters
mit Bescheid vom 20. Dezember 1999 ab und stellte fest, dass bei ihnen kein
Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG und auch keine Abschiebungshindernisse
nach § 53 AuslG vorlägen; weiter forderte es sie unter Androhung ihrer Abschiebung in
die Russische Föderation zur Ausreise auf. Zur Begründung heißt es in dem Bescheid im
Wesentlichen, dass die Berufung auf das Asylgrundrecht ausscheide, weil nicht glaubhaft
gemacht worden sei, dass die Familie ohne Durchreise eines sicheren Drittstaates ins
Bundesgebiet gelangt ist. Im Übrigen hätten sie nicht dargetan, im asylrechtlichen Sinne
verfolgt worden zu sein, da dem geschilderten Versuch einer Zwangsrekrutierung des
Ehemannes bzw. Vaters der Kläger keine politische Zielrichtung innegewohnt habe,
sondern es sich um einen Vorgang in einer bürgerkriegsähnlichen Situation gehandelt
habe. Außerdem hätten Tschetschenen eine inländische Fluchtalternative in Russland
und führe die Asylantragstellung nicht zu einer Verfolgung. Abschiebungshindernisse
seien nicht angebracht worden.
Hiergegen haben die Kläger und ihr Ehemann bzw. Vater am 29. Dezember 1999 Klage
erhoben, wobei das Verfahren hinsichtlich des Ehemannes bzw. Vaters durch Beschluss
vom 21. Oktober 2003 (VG 33 X 638.99) abgetrennt und wegen Nichtbetreibens des
Verfahrens durch Beschluss vom 23. Oktober 2003 (VG 33 X 320.03) eingestellt worden
ist.
Zur Begründung der Klage führt die Klägerin zu 1. aus, dass sie und ihre Kinder, die
Kläger zu 2. und 3., wegen der Weigerung ihres Ehemannes, an kriegerischen
Auseinandersetzungen teilzunehmen, staatlicher Verfolgung ausgesetzt seien. Nach der
Zerstörung ihres Heimatdorfes bestehe für sie auch keine Existenzgrundlage mehr; eine
inländische Fluchtalternative scheide aus, da Tschetschenen überall in Russland
verhaftet und als Kriminelle behandelt oder nach Tschetschenien zurückgeschickt
würden. Sie habe in der Heimat weder eigene Verwandte noch solche ihres Ehemannes.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 20. Dezember 1999 zu verpflichten, sie als
Asylberechtigte anzuerkennen sowie festzustellen, dass bei ihnen die Voraussetzungen
nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen,
hilfsweise unter Änderung des Bescheides festzustellen, dass bei ihnen ein
Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich der Russischen
Föderation vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und bezieht sich auf den angegriffenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der die Kläger betreffenden
Gerichtsakte, der Herrn D. betreffenden verwaltungsgerichtlichen Gerichts- und
Ausländerakten, der vom Bundesamt vorgelegten Asylvorgänge sowie der die Kläger
betreffenden Ausländerakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Zur Klage konnte auch in Abwesenheit des Beteiligten verhandelt und über sie
entschieden werden, da der Beteiligte hiermit generell sein Einverständnis erklärt hat.
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Die ohne weiteres zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist sowohl
hinsichtlich des Haupt- als auch des Hilfsantrages unbegründet. Der angegriffene
Bundesamtsbescheid erweist sich unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in
ihren Rechten, da sie die geltend gemachten Ansprüche auf Anerkennung als
Asylberechtigte und auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nicht haben (§ 113
Abs. 5 Satz 1 VwGO).
A. Auf das Asylgrundrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG können sich die Kläger nach Art. 16 a
Abs. 2 GG, § 26 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bereits deshalb nicht berufen, weil sie mit Blick
auf die von ihnen lediglich behauptete Einreise auf dem Seeweg nicht in der ihnen
zumutbaren Weise durch nachvollziehbare und ggf. überprüfbare Angaben hinreichend
glaubhaft gemacht haben, ohne Durchreise eines sicheren Drittstaates in die
Bundesrepublik Deutschland gelangt zu sein, und weil hier nichts für das Vorliegen einer
Ausnahme von der Drittstaatenregelung (§ 26 a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG) ersichtlich ist.
Das Gericht nimmt insoweit auf die Ausführungen des Bundesamtes im angegriffenen
Bescheid vom 20. Dezember 1999 Bezug, denen die Kläger im gerichtlichen Verfahren
nicht ansatzweise entgegen getreten sind.
B. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung im Sinne des § 60 Abs.
1 Satz 1 AufenthG.
§ 60 AufenthG ist mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBI. I
S. 1950) am 1. Januar 2005 an die Stelle des § 51 Abs. 1 AusIG bzw. des § 53 AuslG
getreten und mangels besonderer Übergangsregelung für die Entscheidung des Gerichts
maßgeblich (§ 77 Abs. 1 AsylVfG; vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8.
Februar 2005 – 1 C 29.03 – juris). Dabei ist die im Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung geltende Fassung der genannten Vorschrift anzuwenden, also die Fassung
des am 28. August 2007 in Kraft getretenen Artikels 1 des Gesetzes zur Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007
(BGBI. I S. 1970), mit dem unter anderem die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.
April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die
anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden
Schutzes (ABI. EU Nr. L 304 S. 12) – im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie – in nationales
Recht umgesetzt wurde.
Nach dieser Vorschrift darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) – im Folgenden: GK – ein Ausländer
nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen
seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung
wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann
vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der
Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (Satz 3 der Vorschrift). Verfolgter in diesem
Sinne ist jedoch nicht schon jeder, der Benachteiligungen, Beschränkungen oder
Diskriminierungen irgendwelcher Art ausgesetzt ist, sondern nur derjenige, dessen
Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit wegen der genannten persönlichen
Merkmale unmittelbar bedroht ist oder der in anderen Rechten in einer Art und Weise
beeinträchtigt wird, die nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzt
und über das hinaus geht, was die Bewohner des Herkunftslandes allgemein
hinzunehmen haben. Eine derartige Verfolgung kann ausgehen von dem Staat, Parteien
oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets
beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die genannten Akteure
einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder
nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in
dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es
besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (Satz 4 der Vorschrift). Für die
Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 der Vorschrift vorliegt, sind Artikel 4 Abs. 4
sowie die Artikel 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie ergänzend anzuwenden (Satz 5 der
Vorschrift).
Eine politische Verfolgung liegt vor, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine
politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer
Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen und ihm Anlass geben, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage
sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. Die Prognose, dass
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sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. Die Prognose, dass
dem Ausländer bei einer Rückkehr in seinem Heimatland bei verständiger Würdigung
aller Umstände seines Falles politische Verfolgung im beschriebenen Sinne droht, muss
auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abstellen und auf
einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG und BVerwG,
Urteil vom 3. Dezember 1985 – 9 C 22.85 – NVwZ 1986, 760).
Hat der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar
drohender politischer Verfolgung verlassen und war ihm ein Ausweichen innerhalb seines
Heimatstaates unzumutbar (Vorverfolgung), so ist asylrechtlicher Abschiebungsschutz
zu gewähren, wenn die Gefahr, erneut Opfer von Verfolgung zu werden, nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, er also im Zeitpunkt der
Entscheidung vor erneuter Verfolgung nicht „hinreichend sicher“ ist (so genannter
herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2. Juli 1980 – 1
BvR 147/80 u.a. – BVerfGE 54, 341, 360 und vom 10. Juli 1989 – 2 BvR 502/86 u.a. –
BVerfGE 80, 315, 344 ff.). Die Annahme hinreichender Sicherheit setzt einerseits eine
mehr als nur überwiegende Wahrscheinlichkeit voraus, dass es bei Rückkehr in den
Heimatstaat zu keinen Verfolgungsmaßnahmen kommen wird; andererseits stehen der
Bejahung hinreichender Sicherheit nicht jede noch so geringe Möglichkeit abermaligen
Verfolgungseintritts und nicht jeder – auch entfernt liegende – Zweifel an der künftigen
Sicherheit des rückkehrenden Ausländers entgegen. Vielmehr müssen hieran
mindestens ernsthafte Zweifel bestehen; das ist der Fall, wenn über die theoretische
Möglichkeit hinaus, Opfer eines Übergriffs zu werden, objektive Anhaltspunkte einen
Übergriff als nicht ganz entfernte und damit durchaus reale Möglichkeit erscheinen
lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 1992 – 9 C 62.91 – NVwZ 1993, 191, 192).
Hat der Ausländer seinen Heimatstaat hingegen unverfolgt verlassen, so kann sein
Antrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen
politische Verfolgung auf der Grundlage des nicht herabgestuften Maßstabes der
„beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ droht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989,
a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 – 9 C 17.89 – BVerwGE 85, 139, 140 f.). Dies ist
dann der Fall, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung
sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den
dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember
1993 – 9 C 45.92 – Juris Rn. 9), m.a.W. wenn „aus der Sicht eines besonnenen und
vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller
bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint“ (vgl.
BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 – 9 C 118.90 – BVerwGE 89, 162, 169 f.).
Aus der Qualifikationsrichtlinie folgt nichts anderes. Dies gilt zunächst für den Begriff der
Verfolgung. Als Verfolgung im Sinne des Artikels 1A der Genfer Flüchtlingskonvention
gelten nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie Handlungen, die aufgrund ihrer Art
oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der
grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß
Artikel 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchstabe a), oder die in einer
Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich der Verletzung der
Menschenrechte, bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher
Weise betroffen ist (Buchstabe b). Als Verfolgungsmaßnahmen sind in Art. 9 Abs. 2 der
Qualifikationsrichtlinie besondere Verfolgungshandlungen als Beispielsfälle aufgezählt,
die gemäß Art. 9 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie mit einem der in Art. 1A GK
genannten und in Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie näher beschriebenen
Verfolgungsgründe verknüpft sein müssen. Diese Voraussetzungen entsprechen der
Sache nach dem obergerichtlich entwickelten Begriff der politischen Verfolgung. Auch
soweit der obergerichtlichen Rechtsprechung entnommen werden kann, dass die
Verfolgung, soweit andere Rechtsgüter als Leib, Leben und Freiheit betroffen sind, ihrer
Intensität und Schwere nach die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen
muss, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben bzw. dass
die Verfolgungshandlung den Einzelnen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden
Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen muss, ist hiernach (letztlich) zu
prüfen, ob ihm die Maßnahmen Anlass geben, aus begründeter Furcht vor einer
ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.
Dies gilt aber auch für den (oben dargelegten) Prüfungsmaßstab. Nach Art. 4 Abs. 4 der
Qualifikationsrichtlinie ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder
einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat, bzw. von solcher Verfolgung oder
einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass
die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich
Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, „stichhaltige Gründe“
sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung oder
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sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung oder
einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht der Sache nach dem von der
obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten (herabgestuften Wahrscheinlichkeits-)
Maßstab der „hinreichenden Sicherheit“. Da Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie
lediglich eine Prognoseregelung für den Fall der Vorverfolgung enthält, verbleibt es nach
der Qualifikationsrichtlinie für den Fall einer fehlenden Vorverfolgung bei der
grundsätzlichen Prüfung, ob der Betreffende „begründete Furcht vor Verfolgung“ hat
(vgl. Art. 8 Abs. 1, Art. 2 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie). Dies entspricht dem
von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstab der „beachtlichen
Wahrscheinlichkeit“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juni 2007 – 10 C 24.07 – NVwZ 2007,
1330, 1331 Rn. 25).
Dem Ausländer obliegt es, von sich aus umfassend die Gründe für das
verfolgungsbedingte Verlassen seiner Heimat substantiiert, unter Angabe genauer
Einzelheiten und in sich stimmig darzulegen. Sein Vortrag, insbesondere zu den in seine
Sphäre fallenden Ereignissen, muss geeignet sein, den Schutzanspruch lückenlos zu
tragen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Mai 1984 – 9 C 141.83 – NVwZ 1985, 36, 37). Die
Feststellung einer politischen Verfolgung setzt voraus, dass sich das Gericht in vollem
Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Ausländer behaupteten
individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei allerdings der typische
Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat bei der Auswahl der
Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise angemessen zu
berücksichtigen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 – 9 C 27.85 – Buchholz
402.25 § 1 Nr. 41). Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des
Vorbringens sind hiermit unvereinbar und können dazu führen, dass dem Asylvortrag im
Ganzen nicht geglaubt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985,
a.a.O., und Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239.89 – InfAuslR 1989, 349).
Nach diesen Maßstäben droht den Klägern bei einer Rückkehr in ihren Heimatstaat nicht
die Gefahr einer politischen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG.
I. Eine derartige Gefahr lässt sich nicht im Hinblick auf eine Vorverfolgung annehmen,
weil die Kläger nicht vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist sind.
1. Die Kläger waren bei ihrer Ausreise keiner individuellen politischen Verfolgung
ausgesetzt.
Die Klägerin zu 1. hat für sich selbst weder gegenüber dem Bundesamt noch im
gerichtlichen Verfahren hinsichtlich staatlicher (föderaler) Stellen für den Zeitpunkt ihrer
Ausreise eine Verfolgungsgefahr geltend gemacht, sondern allein mit Blick auf den
geschilderten Versuch einer Zwangsrekrutierung ihres Ehemannes durch die Leute des
Basajew Gefahren für ihn und die Kläger zu 2. und 3. gesehen. Erst im gerichtlichen
Verfahren hat sie – ohne nähere Begründung – eine Gefahr staatlicher Verfolgung wegen
der Weigerung ihres Ehemannes, (auf der Seite religiöser Fanatiker) an kriegerischen
Auseinandersetzungen (in Dagestan) teilzunehmen, behauptet. Abgesehen davon, dass
weder die Klägerin zu 1. noch ihr Ehemann jemals von staatlichen Nachstellungen
berichtet haben, die sie erfahren oder bis zu ihrer Ausreise konkret zu befürchten gehabt
hätten, ist auch sonst nicht ansatzweise erkennbar, welches
abschiebungsverbotsrelevantes Interesse russische Sicherheitskräfte an den Klägern
jemals gehabt haben könnten. Die behauptete Weigerung des Ehemannes der Klägerin
zu 1., sich auf der Seite des Basajew, dessen wahabitischen Einheiten (erst nach der
Ausreise der Kläger) am 7. August 1999 in Dagestan einmarschierten, an kriegerischen
Auseinandersetzungen mit (föderalen) russischen Kräften zu beteiligen, dürfte vielmehr
gerade im Interesse der staatlichen Stellen gelegen und deshalb gerade keine
Verfolgungsgefahr durch diese Stellen gezeitigt haben. Weder die Kläger noch ihr
Ehemann bzw. Vater haben irgendwelche Verfolgungshandlungen der russischen
Staatsgewalt geschildert, denen sie vor Verlassen ihres Heimatlandes ausgesetzt
gewesen wären. Solches ist auch sonst nicht erkennbar und ließe sich im Übrigen nicht
mit dem Vorbringen des Ehemannes bzw. Vaters der Kläger in Übereinstimmung
bringen, der vor der Ausreise als Zwischenhändler „in verschiedenen russischen
Städten“ tätig gewesen sein will, ohne irgendein verfolgungsrelevantes Vorkommnis zu
erwähnen.
Die Kläger unterlagen auch nicht einer asylerheblichen Verfolgung durch Rebellen. Die
von den Klägern ins Feld geführten seinerzeit angeblich ihnen gegenüber drohenden
Nachstellungen durch Rebellen lassen bereits nicht erkennen, ob und ggf. inwieweit sie
überhaupt an asylrelevante Merkmale, etwa an die tschetschenische Volkszugehörigkeit
der Kläger, anknüpften und sind im Übrigen unglaubhaft. Den damaligen Rebellen ging
es offenbar allein darum, Mitstreiter für ihre Sache zu gewinnen, so dass es wenig
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es offenbar allein darum, Mitstreiter für ihre Sache zu gewinnen, so dass es wenig
überzeugend erscheint, dass sie solchen Personen nach dem Leben getrachtet haben
sollen, die sich ihnen trotz mehrfacher vergeblicher Anwerbungsversuche nicht ohne
weiteres anschließen wollten, ohne zugleich als potenzielle Gegner zu erscheinen.
Weshalb aber der Ehemann bzw. Vater der Kläger oder gar die Kläger selbst eine Gefahr
für die Basajew-Leute hätten darstellen sollen, erschließt sich nicht.
2. Ob die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise wegen ihrer tschetschenischen
Volkszugehörigkeit einer regionalen oder örtlich begrenzten Gruppenverfolgung in
Tschetschenien ausgesetzt gewesen sind, kann dahinstehen. Denn ihnen hat im
Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
Die Gefahr einer Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann auch auf gegen
Dritte gerichteten Maßnahmen beruhen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen
Merkmals verfolgt werden, das der betreffende Flüchtling mit ihnen teilt, und wenn er
sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage
befindet, mithin seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden
Rechtsgutsbeeinträchtigungen als eher zufällig zu bezeichnen ist (Gruppenverfolgung).
Finden Übergriffe auf Gruppenangehörige nur in bestimmten Teilen des Staatsgebietes
statt, kann es sich hierbei um eine regionale Gruppenverfolgung – eine an sich kollektiv
alle Gruppenangehörigen betreffende Verfolgung wird nur in einem Teil des
Herkunftslandes praktiziert – oder eine örtlich begrenzte Gruppenverfolgung handeln –
Verfolgungsmaßnahmen richten sich nicht gegen alle durch übergreifende Merkmale wie
Ethnie oder Religion verbundenen Personen, sondern nur gegen solche, die z.B.
zusätzlich aus einem bestimmten Ort oder Gebiet kommen oder dort ihren Wohnsitz
haben – (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 – 9 C 43.96 – NVwZ 1999, 308,
309).
Eine Verfolgungsgefahr wegen einer Gruppenverfolgung begründet indes nur dann ein
Abschiebungsverbot, wenn keine inländische Fluchtalternative bzw. kein interner Schutz
i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie eröffnet war
bzw. ist. Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass Personen, die andernfalls
unter Umständen von asylrelevanten Handlungen betroffen wären, in einem oder
mehreren Gebieten eines „mehrgesichtigen“ Staates vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher sind und dass ihnen dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren
drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216, 231 ff.; BVerwG,
Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – NVwZ 2006, 1420, 1421 und vom 20. November
1990 – 9 C 72.90 – BVerwGE 87, 141, 148).
Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylsuchende seine Existenz
am Ort der Fluchtalternative – auch ohne förmliche Gewährung eines Aufenthaltsrechts
und ohne Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen – in zumutbarer Weise sichern
kann. Ein verfolgungssicherer Ort bietet erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche
Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch
wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich
zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung
von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige
erlangen können. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die
es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen
Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und
die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der
Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können. Nicht zumutbar sind
hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der
fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht. Ein
verfolgungssicherer Ort, an dem das wirtschaftliche Existenzminimum nur durch
derartiges kriminelles Handeln erlangt werden kann, ist keine innerstaatliche
Fluchtalternative. Ebenso stellt ein Leben in der Illegalität, das den Kläger jederzeit der
Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung aussetzt, keine
zumutbare Fluchtalternative dar (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Beschluss vom 1.
Februar 2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590, 591).
Aus der Qualifikationsrichtlinie folgt nichts anderes. Nach Art. 8 Abs. 1 der
Qualifikationsrichtlinie können die Mitgliedstaaten feststellen, dass ein Antragsteller
keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine
begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr besteht, einen
ernsthaften Schaden zu erleiden, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet
werden kann, sich in diesem Landesteil aufzuhalten, wobei nach Absatz 2 der Vorschrift
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werden kann, sich in diesem Landesteil aufzuhalten, wobei nach Absatz 2 der Vorschrift
die allgemeinen Gegebenheiten in dem hierfür in Betracht kommenden Landesteil und
die persönlichen Umstände zu berücksichtigen sind. Dies entspricht der Sache nach der
obergerichtlichen Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative. Artikel 8 Abs. 2 der
Qualifikationsrichtlinie ist auch nicht etwa zu entnehmen, dass es (entgegen der
obergerichtlichen Rechtsprechung) für die Frage der Vorverfolgung nicht auf eine
inländische Fluchtalternative ankommt (vgl. VGH München, Urteil vom 31. August 2007 –
11 B 02.31724 – Juris Rn. 40 f.; a.A. VGH Kassel, Urteil vom 21. Februar 2008 – 3 UE
191/07.A – S. 16 des Entscheidungsabdruckes). Zwar heißt es in Artikel 8 Abs. 2 der
Qualifikationsrichtlinie, dass bei Prüfung der Frage einer inländischen Fluchtalternative
die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände zum Zeitpunkt
der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen sind. Dies betrifft jedoch, wie sich
aus der Bezugnahme auf und dem Zusammenhang mit Absatz 1 ergibt, die
Feststellung, ob ein Antragsteller zum Zeitpunkt der Entscheidung internationalen
Schutz benötigt, und nicht die – insbesondere für den Prüfungsmaßstab relevante –
Vorfrage hierzu, ob der Betreffende im Zeitpunkt seiner Ausreise vorverfolgt gewesen
ist. In diesem Zusammenhang trifft auch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie lediglich
eine Prognoseregelung bereits vorverfolgter Personen und keine Regelung dazu, dass
eine Vorverfolgung unabhängig davon anzunehmen ist, ob im Ausreisezeitpunkt eine
zumutbare inländische Fluchtalternative bestanden hat. Gegen Letzteres spricht auch
der Grundgedanke des Flüchtlingsschutzes, weil bei einer inländischen Fluchtalternative
keine „begründete“ Furcht vor Verfolgung besteht, die die Ausreise aus dem
(gesamten) Heimatstaat rechtfertigt bzw. vernünftigerweise einen Aufenthalt in keinem
Teil des Heimatstaates mehr als zumutbar erscheinen lässt.
Nach diesen Maßstäben ist auf der Grundlage der in das Verfahren eingeführten
Erkenntnisse davon auszugehen, dass den Klägern im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine
inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation zur Verfügung gestanden hat.
Eine Fluchtalternative bestand für Tschetschenen – jedenfalls bis 2002, wenn nicht bis
zur Jahresmitte 2003 – insbesondere in Inguschetien. Seit dem ersten Tschetschenien-
Krieg (1994–1996) hatten bis Mitte 2001 etwa 250.000 Tschetschenen Zuflucht in
Inguschetien gesucht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. August 2001, S. 11), wobei
der UNHCR angesichts der überfüllten Flüchtlingsunterkünfte soweit als möglich bemüht
war, für Familien alternative Unterbringungsmöglichkeiten in Zeltlagern ausfindig zu
machen. Aus der diesbezüglichen Auskunft des UNHCR (an das VG Karlsruhe vom 18.
Juni 2002, S. 11-14) erschließt sich zugleich, dass die Frage des Obdachs für
Tschetschenen in Inguschetien jedenfalls bis Juni 2002 in aller Regel gelöst werden
konnte. Auch war eine Grundversorgung – wenngleich auf sehr niedrigem Niveau – für
diesen Personenkreis gewährleistet (UNHCR an den VGH München vom 29. Oktober
2003, S. 6). Zudem erreichte die internationale Flüchtlingshilfe, die den Hauptanteil bei
der Versorgung der in Inguschetien lebenden Tschetschenen ausmachte, seinerzeit vor
allem Inguschetien (Auswärtiges Amt, ebda.). Dass im April 2001 die Registrierung aller
neu eintreffenden Tschetschenen nach dem sog. Formular Nr. 7 eingestellt wurde
(UNHCR an den VGH München vom 29. Oktober 2003, S. 5), ist für die Frage einer
inländischen Fluchtalternative unerheblich, weil die Kläger Tschetschenien bereits zuvor
im Juli 1999 verlassen hatten und dieser Umstand im Übrigen nichts an einer
hinreichenden Zufluchtmöglichkeit in Inguschetien änderte. Zwar schloss der Nichtbesitz
dieser Registrierung die Betroffenen vom Zugang zu staatlicher Unterstützung aus
(UNHCR an das VG Karlsruhe vom 18. Juni 2002, S. 14); Inguschetien und das russische
Katastrophenschutzministerium konnten jedoch ohnehin nur ein Mindestmaß an
humanitärer Hilfe gewährleisten (Auswärtiges Amt, ebda.). Die Hauptlast der Versorgung
der in Inguschetien lebenden Tschetschenen oblag zu jener Zeit vielmehr der
internationalen Gemeinschaft, so dass sich der Wegfall dieser Registrierungsmöglichkeit
nicht einschneidend auf die Möglichkeit auswirkte, in Inguschetien in menschenwürdiger
Weise zu überleben. Entsprechend hielt der UNHCR in seinem Schreiben an den VGH
München vom 29. Oktober 2003 (S. 6) fest, dass die Unterstützung durch
Hilfsorganisationen die Versorgung der Binnenflüchtlinge grundsätzlich, wenn auch auf
niedrigem Niveau, sicherstelle. Darüber hinaus konnten Flüchtlinge aus Tschetschenien
in Inguschetien eine Anmeldung beim Einwohneramt erlangen. Soweit dies nicht
geschah, beruhte dies auf der Überforderung der örtlichen Behörden mit der Menge der
Flüchtlinge oder darauf, dass die Betroffenen die notwendigen Dokumente nicht
vorlegten oder dass aufnehmende Gastfamilien die zeitaufwändige Prozedur der
melderechtlichen Registrierung scheuten (UNHCR, ebda. S. 5). Auch Gannuschkina stellt
in den Memorial-Jahresberichten 2003 (S. 49 ff., insbes. S. 56) und 2004 (S. 29 ff.) fest,
dass tschetschenische Binnenflüchtlinge in Inguschetien jedenfalls bis 2003 in Sicherheit
leben konnten. Zu einem Wandel der Verhältnisse in Inguschetien führten erst die
Ablösung des Präsidenten Auschew durch Präsident Sjasikow, der Beginn der Auflösung
von Flüchtlingslagern im Jahr 2002, die Einrichtung von Kontrollpunkten rund um die
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von Flüchtlingslagern im Jahr 2002, die Einrichtung von Kontrollpunkten rund um die
Flüchtlingslager Anfang 2003 und die Durchführung militärischer Operationen seit
Jahresmitte 2003 (hierzu Schweizerische Flüchtlingshilfe an den VGH München vom 24.
Mai 2004, S. 16, sowie UNHCR an den VGH München vom 29. Oktober 2003, S. 6 f.).
Demnach hätten sich die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise etwaigen Nachstellungen
wegen ihrer Volkszugehörigkeit durch Fortgang nach Inguschetien entziehen können. Es
ist nichts dafür ersichtlich, dass den zigtausenden Tschetschenen in Inguschetien dort
seinerzeit durch russische Sicherheitskräfte oder durch die Rebellen zielgerichtet
nachgestellt worden ist.
Im Übrigen dürfte Inguschetien auch nach der seit Herbst 2003 erfolgten sukzessiven
Schließung der Flüchtlingslager als inländische Fluchtalternative offen gestanden haben.
So sind aus dem Lager „Sputnik“, das am 1. April 2004 geschlossen wurde, nur die
Hälfte der Bewohner, aus dem Lager „Bart“ nach der Schließung am 1. März 2004 sogar
nur 23 % der Bewohner nach Tschetschenien zurückgekehrt; die zurückgebliebenen
Flüchtlinge sind in andere Massenunterkünfte gelangt oder haben eine private
Unterkunft gefunden (Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 24. Mai 2004, S. 17 f.).
Ohnehin ist zu berücksichtigen, dass sich von den im Sommer 2002 in Inguschetien
registrierten 150.000 tschetschenischen Flüchtlingen etwa zwei Drittel bei Gastfamilien
oder in improvisierten Unterkünften aufhielten und nur ein Drittel in Zeltlagern. Ende
November 2003 haben nur noch 7.000 Flüchtlinge in drei Zeltlagern gelebt, etwa 60.000
hingegen in provisorischen und privaten Unterkünften (Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht
Tschetschenien vom 16. Februar 2004, S. 13). Zwangsweise Rückführungen nach
Tschetschenien sind nicht bekannt geworden (Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht
Tschetschenien vom 16. Februar 2004, S. 14, Auskunft an den VGH München vom 12.
November 2003, S. 2). Der UNHCR stellt schließlich in seiner Auskunft an den VGH
Kassel vom 8. Oktober 2007 fest (S. 14), dass Inguschetien früher ein „sicherer Hafen“
für aus Tschetschenien vertriebene Personen gewesen sei und immer noch etwa 15.000
Binnenvertriebene aus Tschetschenien dort lebten. Die Sicherheitslage wird dabei vom
UNHCR erst seit Beginn des Jahres 2007 als „stetig verschlechtert“ bezeichnet, wobei
hinzugefügt wird, dass die meisten Angriffe in Inguschetien auf Exekutivorgane und
Regierungsbeamte zielten.
Darüber hinaus hat tschetschenischen Volkszugehörigen im hier interessierenden
Zeitraum nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin in der
Russischen Föderation auch außerhalb von Inguschetien eine inländische
Fluchtalternative zur Verfügung gestanden (vgl. VG Berlin, Urteile vom 29. November
2006 – VG 33 X 1.06 – m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung und vom 11.
November 2005 – VG 33 X 199.04 –). Soweit die 33. Kammer des Verwaltungsgerichts
Berlin auf der Grundlage einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. November
2005 für die Zeit ab 1. Juli 2004 eine inländische Fluchtalternative verneint hat, weil seit
diesem Zeitpunkt ein erforderlicher Passumtausch an einem mit dem Ort der letzten
Anmeldung nicht identischen Wohnort des Betroffenen und damit eine Registrierung und
ständige Wohnsitznahme innerhalb der Russischen Föderation auch ohne
(zwischenzeitlichen) Aufenthalt in Tschetschenien oder Inguschetien nicht mehr möglich
war, ist dies hier unerheblich. Denn die Kläger sind bereits vor diesem Zeitpunkt
ausgereist, und im Übrigen jedenfalls heute in anderen Gebieten der Russischen
Föderation vor Verfolgung hinreichend sicher (s.u.).
II. Die Gefahr einer politischen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG lässt sich
auch nicht wegen eines Nachfluchttatbestandes annehmen. Den Klägern droht auch
gegenwärtig bei einer Rückkehr in ihren Heimatstaat weder aus individuellen Gründen
noch aufgrund ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit politische Verfolgung.
1. Den Klägern droht bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung
aus individuellen Gründen.
a. Anhaltspunkte für eine derartige Verfolgung seitens des russischen Staates bestehen
nicht.
Da die Kläger zur Überzeugung der Kammer bereits vor der Ausreise keiner Verfolgung
aus individuellen Gründen ausgesetzt waren, ist nicht ersichtlich, dass der russische
Staat die Kläger nunmehr verfolgen sollte.
Dies gilt auch im Hinblick auf den Auslandsaufenthalt der Kläger und ihre
Asylantragstellung. Aus Deutschland abgeschobene tschetschenische Volkszugehörige
haben keine asylrechtsrelevanten Übergriffe im Zusammenhang mit ihrer (Wieder-)
Einreise nach Russland zu befürchten. Die Bundesregierung hat bereits am 2. Dezember
2004 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage ausgeführt, das Auswärtige Amt gehe über
2004 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage ausgeführt, das Auswärtige Amt gehe über
die Botschaft Moskau Hinweisen auf Festnahmen oder Misshandlungen bei der Einreise
von aus Deutschland in die Russische Föderation rückgeführten Personen nach; aus den
Jahren 2003 und 2004 sei kein einziger Fall bekannt, in dem sich diesbezügliche Berichte
bestätigt hätten (BT-Drs. 15/4465, S. 6 oben). Diese Aussage hat nach den ins
Verfahren eingeführten Erkenntnissen nach wie vor Gültigkeit. Dem Auswärtigen Amt
sind keine Fälle bekannt, bei denen allein die Asylantragstellung im Ausland und der
damit verbundene – oft langjährige – Auslandsaufenthalt staatliche
Verfolgungsmaßnahmen zur Folge gehabt hätten (Lageberichte vom 13. Januar 2008, S.
26, und vom 17. März 2007, S. 28, sowie Lagebericht Tschetschenien vom 30. August
2005, S. 15). Allein im Lagebericht vom 17. März 2007 (S. 28) wird berichtet, dass eine
im November 2005 rückgeführte Person zwar den Flughafen Domodjedowo nach der
Grenzkontrolle habe verlassen können, jedoch nach Erkenntnissen von Memorial in
Grosny aufgrund eines Haftbefehls wegen Diebstahls festgenommen worden sei. Da
dieser Fall in keinem der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel aus jüngerer Zeit als
ein Vorkommnis angeprangert wird, das die Verfolgung oder menschenrechtswidrige
Behandlung eines wieder eingereisten Tschetschenen durch die russische Staatsgewalt
zum Gegenstand hat, muss angenommen werden, dass gegen den Betroffenen
tatsächlich der Verdacht eines kriminellen Delikts vorlag und diese Beschuldigung nicht
nur vorgeschoben wurde, um gegen ihn unter diesem Deckmantel asylrechtlich
relevante Maßnahmen zu ergreifen. Vorwürfe von Reinke von der Gesellschaft für
bedrohte Völker (an OVG Münster vom 11. Februar 2004 und Ausarbeitung vom 1. März
2004, S. 25), wonach rückgeführte tschetschenische Volkszugehörige im
Zusammenhang mit der Einreise inhaftiert und misshandelt worden bzw. sogar
„verschwunden“ seien, betreffen mehr als 4 Jahre zurückliegende Fälle oder haben sich
bei durchgeführten Recherchen des Auswärtigen Amtes jedenfalls für den Zeitraum ab
2003 nicht verifizieren lassen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 30.
August 2005, S. 15). Die von Gannuschkina (Memorial) in ihrer Ausarbeitung vom 25.
November 2006 (S. 13 f.) geschilderten drei Fälle von Tschetschenen – die im Oktober
2006 aus Ägypten, im August 2006 aus Frankreich bzw. im selben Monat aus der
Ukraine zurückgekehrt sind, wobei der Letztere zur Fahndung ausgeschrieben war –
geben für die Frage, ob Tschetschenen, die aus dem europäischen Ausland in ihre
engere Heimat zurückkehren, nach der Wiedereinreise (allein) wegen ihres
Auslandsaufenthaltes oder Asylantrages asylrechtlich relevante Maßnahmen zu
befürchten haben, schon deswegen nichts her, weil ihnen jeweils ein besonderer
Sachverhalt zu Grunde lag (vgl. hierzu VGH München, Urteil vom 31. August 2007 – 11 B
02.31724 – Juris Rn. 101-105). Im Übrigen vermögen diese drei Fälle angesichts
Tausender zurückgekehrter tschetschenischer Flüchtlinge eine besondere Gefährdung
von Rückkehrern nicht zu belegen. Entsprechend folgert Luchterhandt in seiner Auskunft
an den VGH Kassel vom 8. August 2007 (S. 14 f.), dass gewöhnliche Tschetschenen, die
etwa auf dem Höhepunkt des 2. Tschetschenienkrieges Tschetschenien verlassen
haben, um irgendwo ungefährdet leben zu können, bei einer Rückkehr keiner größeren
Gefährdung ausgesetzt seien als andere Tschetschenen. Eine ausführliche Befragung,
wie sie bei rückgeführten – auch „unauffälligen“ – tschetschenischen Volkszugehörigen
häufig erfolgt, würde dabei allein noch keine Maßnahme darstellen, die asyl- bzw.
abschiebungsrechtlich relevant wäre. Auch der UNHCR gibt in seiner aktuellen Auskunft
an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007 (S. 5) an, ihm lägen keine Berichte darüber
vor, dass Rückkehrer neben der Befragung zusätzlichen Problemen ausgesetzt waren;
es scheine vielmehr so zu sein, dass die Probleme, denen Rückkehrer möglicherweise
ausgesetzt seien, eher davon abhingen, ob sie eine „saubere“ Akte haben oder nicht,
als von der Tatsache, dass sie für einige Jahre im Ausland gelebt haben. Darüber hinaus
kann der Gefahr, im Zusammenhang mit der Einreise Opfer von Übergriffen zu werden,
dadurch wirksam begegnet bzw. kann sie dadurch verringert werden, dass der
Zurückkehrende bereits am Flughafen von Vertretern russischer
Menschenrechtsorganisationen erwartet wird. Hinzu kommt, dass die Russische
Föderation den Vollzug des mit der Europäischen Union geschlossenen
Rückübernahmeabkommens gefährden würde, sollte sich herausstellen, dass
Tschetschenen, die in ihren Herkunftsstaat zurückkehren, entweder in Tschetschenien
selbst oder in einem anderen Landesteil in einer Weise behandelt werden, die erneut
einen Anspruch auf internationalen Schutz auslösen würde. An der Umsetzung dieses
Abkommens aber besitzt die Russische Föderation deshalb erkennbar ein gewichtiges
Interesse, weil es Bestandteil eines zwischen der Europäischen Union und dem Kreml
ausgehandelten „Pakets“ ist, zu dem auch ein die Reisemöglichkeiten zwischen den
beteiligten Staaten verbesserndes Abkommen über Visa-Erleichterungen gehört (vgl.
das Dokument Nr. 2006/0064 des Rates der Europäischen Union vom 27. April 2006, S.
2). Dass Russland vor allem an Erleichterungen im Reiseverkehr mit den Staaten der
Europäischen Union gelegen ist, zeigt der Umstand, dass die Duma das diesbezügliche
Abkommen und das politisch daran gekoppelte Rückübernahmeabkommen sehr zügig –
nämlich bereits am 14. Februar 2007 – ratifiziert hat (vgl. zum Vorstehenden VGH
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nämlich bereits am 14. Februar 2007 – ratifiziert hat (vgl. zum Vorstehenden VGH
München, Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., Rn. 106).
b. Gleiches gilt für eine Verfolgung seitens der Rebellen. Diese sind schon keine
verfolgenden Akteure i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Die Rebellen beherrschen –
anders als das in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe b AufenthG und Art. 6 Buchst. b der
Qualifikationsrichtlinie gefordert wird – keinen wesentlichen Teil des Staatsgebietes
mehr. Die Führer der tschetschenischen Rebellen – Aslan Maschadow, Abdelchalim
Saudullajew und Schmalil Basajew (sowie zuletzt „Vizepräsident“ Imurzaev Anfang April
2007) – sind inzwischen allesamt getötet worden, und es gibt derzeit nach den
Schätzungen der lokalen tschetschenischen Sicherheitskräfte nur weiterhin einige
hundert – die Rede ist von 300 – Rebellen in der Bergregion Tschetscheniens, die vor
allem Anschläge auf Sicherheitskräfte verüben und von tschetschenischen und föderalen
Sicherheitskräften bekämpft werden; die Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der
Rebellen haben inzwischen deutlich abgenommen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes
vom 13. Januar 2008, S. 16 f.; Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S.
15 ff.), und zwar von landesweit 257 bzw. in Tschetschenien 111 im Jahr 2005 auf 162
landesweit bzw. 74 in Tschetschenien im Jahr 2006 (Bundesamt, Ausarbeitung vom 1.
August 2007, S. 1). Wenngleich die Anzahl der Guerillas teilweise auch erheblich höher
eingeschätzt wird, aber nicht verlässlich feststellbar erscheint, sind die Rebellen zwar in
der Lage, den Wiederaufbau noch längere Zeit zu stören. Sie sind aber von den sie
bekämpfenden (föderalen) russischen und tschetschenischen Sicherheitskräften in das
südtschetschenische Bergland zurückgedrängt worden bzw. weichen zunehmend in die
Nachbarrepubliken aus (Auswärtiges Amtes, Lagebericht vom 17. März 2007, S. 17) und
verfügen gegenwärtig jedenfalls nicht über das Potenzial, um den noch immer
schwelenden Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden (Schweizerisches Bundesamt,
Ausarbeitung vom 11. Juli 2007, Teil 1, S. 4 f.). Ihre Aktionen haben vor allem
Propagandacharakter und sind auf einen lange dauernden Guerillakampf mit
asymmetrischer Kriegsführung ausgerichtet (eda., Teil 2, S. 9 ff.). Da das militärische
Engagement Russlands in Tschetschenien sowie die Existenz und die Tätigkeit der
tschetschenischen Sicherheitskräfte gerade dazu dienen, die Separatisten entweder
auszuschalten oder sie zum Aufgeben zu bewegen, kann dem russischen Staat zudem
der Wille, die Bevölkerung vor Übergriffen durch die Aufständischen zu schützen (vgl. §
60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG und Art. 6 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie)
nicht abgesprochen werden. Diese Bemühungen haben zudem auch weitgehend Erfolg
gezeitigt: Amnesty international weist in der Auskunft an den VGH Kassel vom 27. April
2007 (S. 5) darauf hin, dass „die tschetschenischen Rebellen in Tschetschenien über
keinen nennenswerten Einfluss mehr verfügen und kaum mehr in der Lage sind,
Übergriffshandlungen in nennenswertem Ausmaß durchzuführen.“ Von einer Erledigung
der Bitte des VGH Kassel, Übergriffshandlungen der Aufständischen darzustellen, sah
amnesty international mit der Begründung ab, abgesehen von Einzelfällen lägen
jedenfalls keine umfassenden Informationen über Menschenrechtsverstöße
tschetschenischer Rebellen in Tschetschenien vor (ebda.).
2. Die Kläger können sich weiterhin nicht darauf berufen, sie würden in ihrer engeren
Heimat als Tschetschenen verfolgt. Eine (regionale) Gruppenverfolgung
tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien findet nach der Erkenntnislage
gegenwärtig nicht statt (ebenso VGH München, Urteil vom 31. August 2007 – 11 B
02.31724 – Juris Rn. 48-73).
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung
setzt eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener
Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von
Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich
dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine
Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im
Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet nach Intensität und Häufigkeit so dicht und
eng gestreut fallen, dass bei objektiver Betrachtung für jedes Gruppenmitglied nicht nur
die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit
entsteht. Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer
Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller
Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Die
bloße Feststellung „zahlreicher“ oder „häufiger“ Eingriffe reicht grundsätzlich nicht aus.
Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von
Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe
vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie im Hinblick auf die Zahl der
Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der
Gruppe darstellt. Allerdings reicht eine lediglich statistisch-quantitative Betrachtung nicht
aus. Vielmehr ist die Verfolgungsprognose auch hier in qualifizierender wertender
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aus. Vielmehr ist die Verfolgungsprognose auch hier in qualifizierender wertender
Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten
Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen, die die Schwere, Anzahl, Zeit und
Häufigkeit der festgestellten einzelnen Verfolgungsschläge ebenso einbezieht wie die
Größe der betroffenen Gruppe. Mithin bedarf es wie bei der Individualverfolgung letztlich
einer wertenden Gesamtbetrachtung, weil auch insoweit die Zumutbarkeit einer
Rückkehr in den Heimatstaat das für die Beurteilung des Vorliegens einer beachtlich
wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr vorrangige qualitative Kriterium bildet.
Der Feststellung der Verfolgungsdichte bedarf es nur dann nicht, wenn hinreichend
sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen
Umsetzung bereits eingeleitet ist oder bevorsteht. Das kann etwa dann der Fall sein,
wenn der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten vernichten und ausrotten
oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. In derartigen Extremsituationen bedarf es
nicht der Feststellung einzelner Vernichtungs- oder Vertreibungsschläge, um die
beachtliche Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgungsmaßnahmen darzutun. Die
allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen
allerdings auch dann erfüllt sein. „Referenzfälle politischer Verfolgung“ sowie ein „Klima
allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung“ sind auch dabei
gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung.
Wenn der Staat in einer Bürgerkriegssituation die effektive Gebietsgewalt in gewissen
Teilbereichen des Konfliktgebietes innehat und dabei im Gegenzug zu den Aktionen des
Bürgerkriegsgegners die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung durch
Gegenterror unter den Druck brutaler Gewalt setzt, liegt ebenfalls politische Verfolgung
vor. Eine solche Vorgehensweise in einer Bürgerkriegssituation kann sich als
gruppengerichtete Verfolgung der der Gegenseite zugerechneten Zivilbevölkerung
darstellen. Die Maßnahmen eines Staates, der faktisch die Rolle einer Bürgerkriegspartei
einnimmt und in den umkämpften Bereichen seines Hoheitsgebietes nicht mehr als
übergreifende, effektive Ordnungsmacht besteht, sind zwar dann keine politische
Verfolgung im asylrechtlichen Sinne, wenn sie ein typisch militärisches Gepräge
aufweisen und der Rückeroberung des Gebietes dienen, das zwar (noch) zum eigenen
Staatsgebiet gehört, über das der Staat jedoch faktisch die Gebietsgewalt an den
bekämpften Gegner verloren hat. Denn die Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners durch
staatliche Kräfte ist im Allgemeinen nicht politische Verfolgung. Führen allerdings die
staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise, der auf die physische Vernichtung von auf
der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen
bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen
oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind,
liegt politische Verfolgung vor. Dies gilt erst recht, wenn die staatlichen Maßnahmen in
die Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität des
aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen.
Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung – wie für jede politische
Verfolgung – ist ferner, dass die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen
Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Die staatliche
Verfolgung von Taten, die wie separatistische Aktivitäten aus sich heraus eine
Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann deshalb politische Verfolgung sein.
Wenn ein Staat einer ganzen Bevölkerungsgruppe pauschal zumindest eine Nähe zu
separatistischen Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt, so stellt
sich auch die Frage, ob die Verfolgungsmaßnahmen – objektiv gesehen – auf die
Volkszugehörigkeit gerichtet sind und an diese anknüpfen. Der pauschale Verdacht
separatistischer Aktivitäten einer ganzen Volksgruppe kann mit anderen Worten –
ebenso wie im Einzelfall der Verdacht der Trägerschaft eines asylerheblichen Merkmals –
auf die ganze Volksgruppe durchschlagen und eine „Separatismus-Verfolgung“ je nach
den Umständen des Falles als „ethnische“ Gruppenverfolgung erscheinen lassen (vgl.
zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006, a.a.O., S. 1421 m.w.N.,
insbesondere unter Bezugnahme auf das Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE
96, 200, 202).
Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung
sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar,
wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend
geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben lässt sich eine Gruppenverfolgung nicht feststellen. Soweit die
33. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin wegen der massenhaften und massiven
Verletzung asylrechtlich geschützter Rechtsgüter durch russische Sicherheitskräfte im
Zusammenhang mit der Ende 1999 einsetzenden Bekämpfung separatistischer
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Zusammenhang mit der Ende 1999 einsetzenden Bekämpfung separatistischer
tschetschenischer Rebellen (zweiter Tschetschenien-Krieg) bisher eine regionale,
zumindest örtlich begrenzte Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in
Tschetschenien angenommen hat (auch unabhängig davon, ob bei ihnen der konkrete
Verdacht der Unterstützung separatistischer Gruppen bestand,) folgt die – seit 1. Januar
2008 für Asylstreitigkeiten betreffend die Russische Föderation ebenfalls zuständige –
erkennende Kammer dieser Einschätzung angesichts der neueren Erkenntnisse nicht. Es
bestehen keine Anhaltspunkte (mehr) dafür, dass gegenwärtig jeder Tschetschene allein
wegen seiner Volkszugehörigkeit in Tschetschenien verfolgt wird.
a. An Menschenrechtsverletzungen, zu denen es in Tschetschenien komme, nennt das
Auswärtige Amt im Lagebericht vom 17. März 2007 (S. 18) insbesondere „Mord,
Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, willkürliche Festnahmen,
Sachbeschädigungen und Diebstähle“. Im Lagebericht vom 13. Januar 2008 (S. 17)
findet sich diese beispielhafte Aufzählung zwar nicht mehr, jedoch gibt das Auswärtige
Amt weiterhin Berichte über Fälle des „Verschwindenlassens“, Vergewaltigungen und
extralegale Tötungen wieder (S. 17 f.). Amnesty international erwähnt in seinem zu
Russland erstellten Jahresbericht 2006 (S. 1.) als Verletzungshandlungen das
„Verschwindenlassen“ von Personen, Entführungen, Folterungen, Tötungen und
willkürliche Festnahmen; im Jahresbericht 2007 (S. 1 u. 3) werden weiterhin das
„Verschwindenlassen“ von Personen, Entführungen, Folterungen und willkürliche
Inhaftierungen genannt.
(1) Eigentumsdelikte wie Sachbeschädigungen oder Diebstähle zählen bereits nicht zu
den asylrechtlich relevanten Verletzungshandlungen, weil sie sich nicht gegen die in § 60
Abs. 1 AufenthG ausdrücklich genannten Rechtsgüter „Leben“, „körperliche
Unversehrtheit“ und „Freiheit“ richten. Asylrelevant wären sie nur, wenn sie nach ihrer
Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen würden,
was die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems
allgemein hinzunehmen haben. Ein Angriff auf die Menschenwürde könnte in
Sachbeschädigungen und Diebstählen allenfalls dann gesehen werden, wenn sie dazu
dienen sollten, den Opfern die Existenzgrundlage zu entziehen. Denn nur unter dieser
Voraussetzung sind derartige Eigentumsdelikte entweder bereits bei einmaliger
Begehung oder aber in ihrer Summe (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der
Qualifikationsrichtlinie) bzw. in Kumulation mit anderen Maßnahmen (vgl. Art. 9 Abs. 1
Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie) so gravierend, dass gegebenenfalls eine
schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1
Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie bzw. ein ähnlich gewichtiger Eingriff im Sinne von
Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie bejaht werden kann.
Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse bieten keinerlei Anhalt dafür, dass
Eigentumsdelikte in Zahl und Umfang vorkommen, die darauf schließen lassen, dass
Tschetschenen in relevanter Zahl die Existenzgrundlage entzogen werden soll. Die
Erkenntnisquellen berichten überhaupt nur über wenige, zudem nicht aus jüngster Zeit
stammende Fälle, in denen Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, Art. 6 der
Qualifikationsrichtlinie Eigentumsdelikte zu Lasten von Tschetschenen begangen haben.
So erwähnt Gannuschkina im Memorial-Jahresbericht 2005 vom 1. Juli 2005 lediglich zwei
Vorfälle: Plünderungen im Dorf Zumsoj von Ende Januar/Anfang Februar 2005 (Anlage 3)
sowie die Zerstörung von Häusern durch das Bataillon „Wostok“ Anfang Juni 2005 in
dem – überdies kaum von Tschetschenen, sondern ganz überwiegend von aus Dagestan
stammenden Awaren – bewohnten Dorf Borosdinowka (Anlage 7). Diese Fälle
rechtfertigen schon von ihrer Zahl her nicht die Aussage, jeder Bewohner
Tschetscheniens müsse damit rechnen, dass seine Habe aus asylerheblichen
Beweggründen vernichtet wird, zumal sich weder in den Memorial-Jahresberichten 2006
und 2007 noch im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Januar 2008
Angaben zu (weitere) Fällen von Eigentumsdelikten finden. Luchterhandt nennt zwar in
seiner Auskunft an den VGH Kassel vom 8. August 2007 als Übergriffshandlung auch
schwere, einschneidende Eigentumsverluste, führt aber keine Beispiele an, sondern
beruft sich insbesondere auf die Berichte von Memorial, die für derartige Übergriffe aus
jüngster Zeit nichts hergeben.
(2) Konkrete Fälle von Vergewaltigungen, die in jüngerer Zeit in Tschetschenien durch
Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, Art. 6 der Qualifikationsrichtlinie
verübt wurden, werden in den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen nicht mehr
geschildert. Die im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15. Februar 2006 (S. 17)
erwähnten Vorkommnisse in Alkhan-Yurt trugen sich bezeichnenderweise im Dezember
1999 zu; die dort außerdem in Bezug genommenen Berichte von amnesty international
datieren aus den Jahren 2002 und 2004, beziehen sich mithin ebenfalls auf länger
zurückliegende Vorgänge. Wenn es im Lagebericht vom 17. März 2007 (S. 19) wie auch
58
59
60
zurückliegende Vorgänge. Wenn es im Lagebericht vom 17. März 2007 (S. 19) wie auch
im Lagebericht vom 13. Januar 2008 (S. 18) heißt, Frauen hätten gegenüber
internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen berichtet, die russische
Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien begangen hätten, so
kann es sich dabei ebenfalls nicht mehr um aktuelle Ereignisse handeln. Denn die
Eroberung Tschetscheniens durch russische Truppen war im Wesentlichen im Frühjahr
2000 abgeschlossen; seither befindet sich fast das gesamte Territorium dieser
Teilrepublik einschließlich aller größeren Städte unter föderaler Kontrolle (vgl.
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. August 2005 zu Tschetschenien, S. 5).
Heinrich/Lobova (Ausarbeitung vom 7. März 2006, S. 17) weisen zudem darauf hin, dass
die russischen Verbände im Allgemeinen davor zurückschrecken, Frauen zu
misshandeln. Zwar führen sie zugleich aus, die Kadyrow-Verbände würden nunmehr die
Vergewaltigung oder die Androhung von Vergewaltigung weiblicher Angehöriger gezielt
als Mittel einsetzen, um Terrorismusverdächtige zu erpressen, hierfür werden jedoch
weder von ihnen noch von anderen Erkenntnisquellen konkrete Bezugsfälle genannt,
anhand derer diese Behauptung als zutreffend verifiziert werden könnte. Schließlich wird
weder im Jahresbericht 2007 von amnesty international (vom 25. Mai 2007) noch in den
neuen vom VGH Kassel eingeholten Auskünften (UNHCR vom 8. Oktober 2007;
Luchterhandt vom 8. August 2007, S. 18 f.; Auswärtiges Amt vom 6. August 2007, S. 2;
Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 14. Juni 2007, S. 6 f.) von
Vergewaltigungen berichtet. Allein amnesty international erwähnt in seiner Auskunft an
den VGH Kassel vom 27. April 2007 (S. 4), dass die Organisation regelmäßig Berichte
über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen erhalte, darunter (u.a.)
Vergewaltigungen. Es werden hierzu jedoch keinerlei Belege oder weitere Quellen
genannt. Soweit amnesty international unter den Referenzfällen in vier Fällen von
Übergriffen gegen Frauen berichtet (S. 11 ff.), liegen diese Vorkommnisse entweder
bereits einige Jahre zurück (April 2004 und Juni 2003, S. 14 und 15) oder ein
asylerheblicher Beweggrund lässt sich nicht mit der erforderlichen Klarheit feststellen
(der nach Darstellung von amnesty im März 2006 von tschetschenischen
Sicherheitskräften festgenommenen, gefolterten und erniedrigten Frau aus Argun sei
vorgeworfen worden, Beziehungen zu einem ethnischen Russen zu unterhalten, S. 12)
oder es ging um Verbindungen zum tschetschenischen Separatistenführer Basajew
(Ehefrau und deren Mutter) ohne Angabe eines sexuellen Übergriffes (S. 11).
(3) Die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen betreffen „Entführungen“
einschließlich dem Verschleppen und „Verschwindenlassen“ von Personen (vgl. zur
Terminologie Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker an den VGH Kassel
vom 14. Juni 2007, S. 3 Fußnoten 1 und 2) sowie extralegale Tötungen.
Gannuschkina beziffert im Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007 (S. 85 f.)
die Fälle von Entführungen oder des „Verschwindenlassens“ in Tschetschenien wie folgt:
544 (davon nach der Entführung 81 getötet/372 verschwunden) im Jahr 2002, 498
(52/288) im Jahr 2003, 450 (36/203) im Jahr 2004, 323 (25/128) im Jahr 2005, 187
(11/63) im Jahr 2006 und 25 (1/5) im Zeitraum Januar bis August 2007. Die vom VGH
Kassel eingeholten neueren Auskünfte stützen sich weitgehend ebenfalls auf diese
Zahlen (UNHCR vom 8. Oktober 2007, S. 3, allerdings mit geringfügigen Abweichungen;
Luchterhandt vom 8. August 2007, S. 13; Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für
bedrohte Völker vom 14. Juni 2007, S. 4, allerdings ebenfalls mit leicht abweichenden
Zahlen; amnesty international vom 27. April 2007, S. 3; ohne Zahlen: Auswärtiges Amt
vom 6. August 2007, S. 2). Die Anzahl der Entführungen in Tschetschenien ist damit in
den letzten Jahren sehr stark gesunken; insbesondere im Jahr 2007 ist die Gefährdung
zurückkehrender tschetschenischer Volkszugehöriger durch die föderalen
Sicherheitskräfte gegenüber 2006 und 2005 noch einmal messbar geringer geworden
(Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 17), im Vergleich des Monats
August 2007 zum Vorjahresmonat sogar um das 6-fache (Gannuschkina, Memorial-
Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 85). Darauf, dass sich dieser Trend bald
umkehren könnte, deutet gegenwärtig nichts hin (Luchterhandt, ebda.).
Die Zahl extralegaler Tötungen wird von amnesty international in der Auskunft an den
VGH Kassel vom 27. April 2007 (S. 4) unter Berufung auf Angaben von Memorial wie
folgt beziffert: 310 im Jahre 2004, 195 im Jahre 2005 und 101 im Jahre 2006, wobei unklar
ist, ob diese Zahlen diejenigen Personen umfassen, die nach einer Entführung tot bzw.
ermordet aufgefunden worden und in der oben zitierten Statistik von Memorial bereits
aufgeführt sind. Gleiches gilt für Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker,
die in ihrer Auskunft an den VGH Kassel vom 14. Juni 2007 (S. 4) ebenfalls unter
Bezugnahme auf Memorial davon ausgehen, dass sich die Zahl der Morde zwischen
Herbst 2005 und Herbst 2006 um ein Drittel auf 192 reduziert habe. Im Memorial-
Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007 (S. 86) beziffert Gannuschkina die Zahl der
Morde bzw. Getöteten wie folgt: 84 (darunter 24 Zivilisten/22 Angehörige der
61
Morde bzw. Getöteten wie folgt: 84 (darunter 24 Zivilisten/22 Angehörige der
Machtstrukturen/29 Mitglieder bewaffneter tschetschenischer Gruppierungen und 10
nicht identifizierte Personen) in der Zeit von Januar bis Juli 2006 und 43 (11/19/13) in der
Zeit von Januar bis Juli 2007. Wird zu Gunsten der Kläger davon ausgegangen, dass die
Anzahl von 101 Getöteten im Jahr 2006 bzw. 43 Getöteten in der Zeit von Januar bis Juli
2007 solche Personen betrifft, die unabhängig von Entführungen ihr Leben auf
gewaltsame Weise verloren haben, so müssen diese Zahlen allerdings um die Zahl
derjenigen Getöteten verringert werden, die nicht aus asylrechtlich erheblichen Gründen
zu Tode gekommen sind. Dazu gehören die 24 (im Jahr 2006 – mindestens, da diese
Zahl von Gannuschkina allein für die Zeit von Januar bis Juli 2006 angegeben wird –) bzw.
19 (in der Zeit von Januar bis Juli 2007) „Angehörigen der Machtstrukturen“ (d.h. die
Mitarbeiter des Innen- und des Verteidigungsministeriums sowie der Geheimdienste; vgl.
zum Begriff der „Machtministerien“ Heinrich/Lobova vom 24. November 2005, S. 5), die
34 (im Jahr 2006, mindestens) bzw. 13 (in der Zeit von Januar bis Juli 2007) Mitglieder
bewaffneter Gruppierungen (d.h. der Rebellen) und (für das Jahr 2006) ein Teil der 10
nicht identifizierten Toten, da nicht angenommen werden kann, dass sich darunter kein
einziger Mitarbeiter der Streit- und Sicherheitskräfte, vor allem aber kein einziger
Aufständischer befindet. Danach sind im Jahr 2006 etwa 40 Zivilpersonen (31 zuzüglich
eines großzügig geschätzten Anteils von Zivilpersonen unter den 10 nicht identifizierten
Toten) und in der Zeit von Januar bis Juli 2007 11 Zivilpersonen in Tschetschenien
unabhängig von Entführungsvorgängen getötet worden. Bei den vorstehend zugrunde
gelegten Zahlen handelt es sich ebenfalls nicht um Zufalls- oder Momentaufnahmen.
Vielmehr nimmt in Tschetschenien auch die Häufigkeit der unabhängig von
Entführungshandlungen verübten Tötungsdelikte seit gewisser Zeit kontinuierlich ab. So
ging Memorial für das Jahr 2004 noch von 310 und für das Jahr 2005 von 192 Getöteten
aus. Auch insoweit gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sich dieser Trend innerhalb
überschaubarer Zeit umkehren könnte. Denn Gannuschkina weist darauf hin, dass sich
bei der Sicherheitslage einiges für die Menschen in Tschetschenien gebessert habe, weil
Entführungen und außergerichtliche Hinrichtungen merklich abgenommen hätten
(Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 2); so sei 2007 die Zahl der
Morde um das 2-fache gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen (ebda., S.
86).
(4) Zu Folter und willkürlichen Verhaftungen gibt es keine (konkreten) Zahlen, sondern
nur „dokumentierte“ Einzelfälle (amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April
2007, S. 4; Gannuschkina an den VGH Kassel vom 17. Mai 2007, S. 8; Auswärtiges Amt
an den VGH Kassel vom 6. August 2007, S. 2; Siegert an den VGH Kassel vom 20. April
2007, S. 1). Es ist bisher keiner Menschenrechtsorganisation gelungen, über das
Ausmaß von Folter und Misshandlungen zuverlässige Angaben zu machen (ebda., S. 5),
was auch daran liegen mag, dass die Zivilbevölkerung nach Angaben von Memorial
zunehmend Angst hat, über erlittene Folter zu berichten und Strafanzeige zu erstatten
(ebda.). In der Auskunft von amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April
2007 (S. 11 ff.) werden als Referenzfälle insgesamt acht Fälle mit 11 betroffenen
Personen – ein Fall im März 2006, zwei Fälle (5 Personen) im Jahr 2005 und die übrigen
Fälle in den davor liegenden Jahren – geschildert, bei denen es zu Folter (und
willkürlichen, nicht nur kurzzeitigen Inhaftierungen) gekommen ist. Einen weiteren Fall
vom November 2005 schildert amnesty international in der Ausarbeitung vom 1.
November 2007 (S. 8 f.). Weitere fünf Fälle mit acht betroffenen Personen – zwei Fälle (4
Personen) im Jahr 2006, zwei Fälle (3 Personen) im Jahr 2005 und ein Fall im Jahr 2003 –
werden von der Menschenrechtsorganisation IHF in der Ausarbeitung vom 16. Mai 2007
referiert. Gannuschkina berichtet im Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember
2007 unter dem Kapitel „Gesetzeswidrige Verhaftungen und Folter von Zivilisten“ (S. 39
ff.) sowie in der Anlage 7 über insgesamt vier Fälle mit fünf betroffenen Personen – zwei
Fälle im Juli 2007, ein Fall im Februar 2007 und ein Fall (2 Personen) im Jahr 2006. Im
Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006 berichtet Gannuschkina über
einen weiteren Fall von Folter in Tschetschenien vom August 2005 (Anlage 12). In dem
Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) vom 13. März 2007 wird moniert, dass die
von den russischen Behörden unternommenen Schritte gegen von der CPT seit
mehreren Jahren beanstandete schwere Menschenrechtsverletzungen durch das
Personal des ORB-2 in Grosny nicht ausreichend seien (S. 4 ff.) und es Hinweise auf
rechtswidriges (längeres) Festhalten mit Misshandlungen in Tschetschenien in der
Ortschaft Tsentoroy im Bezirk Kurchaloy, in der militärischen Einrichtung der „Vega-
Basis“ in den Außenbezirken von Gudermes und im Hauptquartier des Vostok-Bataillons
des Verteidigungsministeriums gebe (S. 8 ff.). Konkrete Zahlen werden vom CPT nicht
genannt; es wird über neun Fälle von Misshandlungen bzw. Folter aus dem Jahr 2005 und
dem ersten Quartal 2006 näher berichtet (S. 11 ff.) und – im Zusammenhang mit dem
ORB-2 in Grosny – erwähnt, dass Klagen von 22 Personen hinsichtlich des Jahres 2005
und von 16 Personen hinsichtlich des ersten Quartals 2006 erhoben worden seien, die zu
62
63
64
und von 16 Personen hinsichtlich des ersten Quartals 2006 erhoben worden seien, die zu
insgesamt 32 Untersuchungen der russischen Behörden geführt hätten (S. 5). Nach
dem Russland-Länderbericht 2006 des US-Außenministeriums vom 6. März 2007 (S. 6)
soll es in Tschetschenien glaubhafte Berichte gegeben haben, dass sowohl die
Regierungstruppen als auch die tschetschenischen Rebellen Gefangene folterten;
Human Rights Watch habe von 115 dokumentierten Fällen von Folter zwischen Juli 2004
und September 2006 in Tschetschenien berichtet, wobei sich die meisten dieser Vorfälle
in einem von mindestens zehn illegalen Gefangenenlagern ereignet hätten. Wird zu
Gunsten der Kläger davon ausgegangen, dass sämtliche zuvor genannten Fälle
unterschiedliche Personen betrafen, den vom CPT angegebenen Klagen ebenfalls Fälle
von Folter zu Grunde lagen sowie die von CPT genannten Fälle und die von Human Rights
Watch genannten Zahlen sich gleichmäßig über den erfassten Zeitraum verteilen, so
lassen sich die zu Folter überhaupt konkret genannten Fälle für die jüngere Zeit wie folgt
beziffern: 3 Personen im Jahr 2007 (letzter Fall im Juli 2007), 62 Personen im Jahr 2006
und 89 Personen im Jahr 2005. Der hiernach ersichtliche rückläufige Trend wird von den
Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Auskunft an den VGH Kassel vom 6. August
2007, S. 1) bestätigt, wonach sich die Sicherheitslage in Tschetschenien im Wesentlichen
normalisiert und die Zahl illegaler Verhaftungen (und Entführungen) stark abgenommen
hat, insbesondere so genannte „Säuberungen“ schon seit mehreren Monaten nicht
mehr durchgeführt worden sind.
(5) Damit ergeben sich zusammengenommen 289 Verfolgungsschläge für das Jahr 2006
und hochgerechnet rund 61 Verfolgungsschläge für das Jahr 2007 (die Zahl der von
Memorial bis August 2007 genannten Entführungen und bis Juli 2007 genannten
Tötungen und Fälle von Folter – zu Gunsten der Kläger trotz der jeweils rückläufigen
Trends – hochgerechnet auf das gesamte Jahr, also 25 x
12
/
8
und 11 x
12
/
7
und 3 x
12
/
7
).
b. Die Kammer geht davon aus, dass Tschetschenien gegenwärtig 1 Million Einwohner
hat.
Über die genaue Einwohnerzahl Tschetscheniens liegen allerdings keine verlässlichen
aktuellen Angaben vor. Nach einem im Jahr 2002 durchgeführten Zensus sollen damals
1.088.000 Menschen in diesem Teil der Russischen Föderation gelebt haben
(Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 2). Nach der Auskunft von
amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007 (S. 1) soll diese Zahl
allerdings umstritten und von „unabhängigen Stellen“ allgemein um bis zu 300.000 zu
hoch geschätzt werden, da amtliche Stellen in Tschetschenien das Ausmaß der
Entvölkerung Tschetscheniens hätten verschleiern und mit einer möglichst großen
Einwohnerzahl mehr Zuweisungen aus dem föderalen Budget erhalten wollen. Diese
pauschale Angabe überzeugt jedoch bei einer Gesamtbewertung der vorliegenden
Erkenntnisse nicht; vielmehr erscheint eine Einwohnerzahl von derzeit rund einer Million
Menschen realitätsnah. Bereits die Angabe des Leiters der Pass- und Visa-Abteilung im
tschetschenischen Innenministerium vom 23. September 2004, wonach alle 770.000
Bewohner Tschetscheniens, die noch die alten sowjetischen Inlandspässe hatten, neue
russische Pässe erhalten hätten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Januar 2008, S.
28), spricht dagegen, da von der genannten Zahl weder diejenigen Bewohner
Tschetscheniens erfasst waren, die bereits neue Pässe hatten, noch diejenigen, die
keinen Pass benötigten (wie alle Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 14.
Lebensjahres), noch diejenigen, die nach September 2004 nach Tschetschenien
zugezogen oder dort geboren sind. Nach 2002 sind sehr viele Binnenflüchtlinge
(insbesondere aus Inguschetien, aber auch aus anderen Teilen der Russischen
Föderation) nach Tschetschenien zurückgekehrt. Allein in Inguschetien hatten sich
ehedem 300.000 Binnenflüchtlinge aufgehalten, deren Zahl bereits bis Ende 2005 auf
21.989 zurückgegangen war (Gannuschkina, Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20.
September 2006, S. 22). Zudem verzeichnet Tschetschenien ein starkes
Geburtenwachstum von per saldo 20 Geburten auf 1.000 Einwohner im Jahr
(Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 2). Soweit amnesty
international in der Auskunft an den VGH Kassel vom 27. April 2007 (S. 1) angibt, der
Dänische Flüchtlingsrat sei am 30. März 2007 von 648.011 Personen ausgegangen
(647.906 Personen zum 30. April 2007, Reinke/Hetzer an den VGH Kassel vom 14. Juni
2007, S. 1), erfasst diese Zahl ausdrücklich nur die in Tschetschenien als „Bedürftige“
registrierten Personen, wobei unklar bleibt, ob diese offiziell oder vom Dänischen
Flüchtlingsrat als „Bedürftige“ registrierte Personen sind. Die Annahme einer
Einwohnerzahl von derzeit rund eine Million Menschen wird bestätigt von den neueren
Auskünften an den VGH Kassel. So gibt Gannuschkina (Memorial) in der Auskunft vom
17. Mai 2007 1,03 Million Einwohner im Jahr 2002 an. Der UNHCR erwähnt in der Auskunft
vom 8. Oktober 2007 (S. 2), nach offiziellen Angaben habe die Einwohnerzahl Anfang
2007 1.385.745 Million betragen, wobei darin jedoch 30-40.000 in Tschetschenien
eingesetzte Militärangehörige enthalten seien, die nicht aus Tschetschenien stammten.
65
66
67
eingesetzte Militärangehörige enthalten seien, die nicht aus Tschetschenien stammten.
Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 6. August 2007 betrug die
Bevölkerungszahl nach inoffiziellen Angaben am 1. Januar 2007 1,183 Million mit über 90
% Tschetschenen.
c. Setzt man die Zahl der Gesamtheit der Verfolgungsschläge in jüngster Zeit (61 im
Jahr 2007 und 289 im Jahr 2006) in Relation zur Gesamtheit der Bewohner
Tschetscheniens (1 Million), so lässt sich nicht feststellen, dass Entführungen,
Verschleppungen und ähnliche Maßnahmen der Freiheitsberaubung sowie extralegale
Tötungen und Folter in Tschetschenien derzeit in solcher Dichte zu verzeichnen sind,
dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder
um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern dass sie auf alle sich im
(vermeintlichen) Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sie sich
in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen,
dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne
weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die Zahlen bewegen sich
deutlich unter einem Promille der Gesamtbevölkerung, nämlich rund 0,006 % für das
Jahr 2007 und rund 0,029 % für das Jahr 2006. Diese Relation ist so gering, dass sie die
aktuelle Bedrohung jedes tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien nicht
zu begründen vermag (vgl. zur Relationsberechnung etwa OVG Münster, Urteil vom 21.
April 1998 – 9 A 6597.95.A – Juris Rn. 138 ff. und Urteil der Kammer vom 12. Juli 2006 –
VG 38 X 388.05 –).
Selbst wenn die vorgenannten Zahlen mit einem zwischen 3 und 4 liegenden Faktor
(„Dunkelziffer“) multipliziert werden müssten, wie das Memorial für geboten hält (vgl.
amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 3) – weil die von
Memorial und anderen Menschenrechtsorganisationen mitgeteilten Zahlen nicht die
Gesamtheit aller Verfolgungsschläge widerspiegele, da deren Beobachtungstätigkeit nur
einen Teil des Territoriums von Tschetschenien abdecke und ein Teil der Opfer aus Angst
vor Nachteilen weder den Rechtsschutzorganen noch den Mitarbeitern von Memorial
gemeldet werde –, ergäbe sich keine andere Beurteilung. Auch dann läge die Zahl der
Personen, die in Tschetschenien von Entführungen im weitesten Sinne sowie
extralegalen Tötungen und Folter betroffen waren, mit rund 0,018-0,024 % (61x3-4=183-
244) für das Jahr 2007 weiterhin deutlich unter einem Promille der Gesamtbevölkerung
und mit rund 0,087-0,116 % (289x3-4=867-1.156) für das Jahr 2006 ebenfalls unter
einem Promille bzw. gerade bei rund einem Promille der Gesamtbevölkerung. Auch diese
Zahlen rechtfertigen nicht die Annahme einer quantitativ hinreichenden
Verfolgungsdichte.
Die vorgenannten Zahlen sind im Übrigen aus folgenden Gründen niedriger anzusetzen:
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bewohner Tschetscheniens deswegen in asylrechtlich
relevanter Weise verfolgt wird, weil er einer Entführung, Verschleppung und ähnlichen
Maßnahmen der Freiheitsberaubung, extralegalen Tötung oder Folter zum Opfer fällt, ist
tatsächlich noch wesentlich geringer, als sie sich bei einer nur auf die (insbesondere) von
Memorial publizierten Zahlen abstellenden Betrachtungsweise ergibt. Denn lediglich ein
begrenzter Teil der Entführungen, die in Tschetschenien verübt werden, erfüllt die
Kriterien, von denen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. der Qualifikationsrichtlinie das
Vorliegen einer Verfolgungshandlung abhängt. Auszuklammern sind zunächst all jene
Fälle, in denen Personen zum Zwecke der Strafverfolgung oder aus Gründen der
präventiven Gefahrenabwehr in staatlichen Gewahrsam genommen werden, sofern
hierbei eine zulässige Maßnahme der Terrorismusabwehr oder eine sonstige Handlung
inmitten steht, die in legitimer Weise dem Rechtsgüterschutz dient. So hat
Gannuschkina (Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 85) angegeben,
dass ein Teil der entführten Personen in Untersuchungshaft genommen worden sei
(2004: 8 von insgesamt 450; 2005: 15 von 323; 2006: 19 von 187, zuletzt also rund 10
%; von Januar bis August 2007: 2 von 25, also rund 8 %). Es muss deshalb davon
ausgegangen werden, dass sie von dazu legitimierter staatlicher Seite festgenommen
und einem gesetzlich geordneten Strafverfahren zugeführt wurden. Auch amnesty
international weist in der Auskunft an den VGH Kassel vom 27. April 2007 (S. 3)
zutreffend darauf hin, dass Memorial den Begriff der „Entführung“ allzu undifferenziert
verwende. Ebenfalls haben jene Entführungen, die ausschließlich dazu dienen, vom Opfer
der Tat oder seinen Verwandten Lösegeld zu erpressen, als asylrechtlich relevante
Übergriffe außer Betracht zu bleiben. Das gilt auch dann, wenn solche Handlungen von
staatlichen Amtsträgern (z.B. den Mitgliedern der bewaffneten Gruppierungen, die dem
Kommando des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow unterstehen) begangen
werden. Denn die Freiheitsberaubung erfolgt in diesen Fällen nicht deshalb, weil der
Betroffene Träger eines asylerheblichen Merkmals im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 3
AufenthG, Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie ist. So beziffert Gannuschkina im Memorial-
Jahresbericht 2007 (ebda.) die Zahl der Freilassungen oder Freikäufe bei den
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71
Jahresbericht 2007 (ebda.) die Zahl der Freilassungen oder Freikäufe bei den
Entführungsfällen wie folgt: 213 Freilassungen oder Freikäufe von 450 Entführungsfällen
(rund 47 %) im Jahr 2004, 155 von 323 (rund 48 %) im Jahr 2005, 94 von 187 (rund 50 %)
im Jahr 2006 und 17 von 25 (rund 68 %) in der Zeit von Januar bis August 2007.
Hinsichtlich der Zahl von Getöteten muss schließlich vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass die über die Situation in Tschetschenien berichtenden
Menschenrechtsorganisationen (abgesehen von dem bei einer Fahndungsaktion
erschossenen Tschetschenen und dem im Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1.
Dezember 2007 referierten Fall einer Tschetschenin) keinen einzigen dieser „sonstigen“
Tötungsfälle – anders als das bei Entführungshandlungen geschieht – im Detail schildern,
davon ausgegangen werden, dass ein erheblicher Anteil dieser Tötungsdelikte Ausdruck
der in Tschetschenien extrem hohen Kriminalitätsrate ist (vgl. zur „abnormen“,
insbesondere mit Drogenhandel und Drogenabhängigkeit assoziierten
Kriminalitätsbelastung Tschetscheniens Heinrich/Lobova vom 24. November 2005, S. 7
oben).
d. Es fehlt auch an Anhaltspunkten jedweder Art dafür, dass die russische
Zentralregierung oder die Machthaber in Grosny heute gegenüber den Bewohnern
Tschetscheniens ein staatliches Verfolgungsprogramm eingeleitet oder geplant haben.
Ziel der russischen Intervention in Tschetschenien war es gerade, diese Teilrepublik, die
nach dem durch das Abkommen von Chassavjurt beendeten ersten Tschetschenienkrieg
eine De-facto-Unabhängigkeit erlangt hatte, im russischen Staatsverband zu halten, um
so der Etablierung eines islamistisch dominierten Gemeinwesens nördlich des Kaukasus
mit Ausstrahlungswirkung auch auf benachbarte Subjekte der Russischen Föderation
und mit der Gefahr einer Destabilisierung der gesamten Region entgegenzuwirken.
Hauptanliegen der russischen Tschetschenienpolitik ist es daher, diesen Landesteil zu
stabilisieren und die Entwicklung hin zur Normalität weiter zu fördern. Um dieses
Anliegens willen hat Russland nicht nur einen hohen Blutzoll entrichtet, sondern erbringt
es fortlaufend auch erhebliche materielle Anstrengungen. Dass diese Bemühungen
konkrete Früchte tragen und sich Tschetschenien auf dem Weg in die Normalität
befindet, räumt ausdrücklich auch Memorial ein (Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20.
September 2006, S. 5). Ein weiteres Ziel der russischen Tschetschenienpolitik ist es,
Tschetschenen, die sich in anderen Teilen der Russischen Föderation aufhalten, zu
veranlassen, in ihre angestammte Heimat zurückzukehren, um so die vor allem unter
kriminalpolitischem Blickwinkel nachteiligen Folgen der Binnenmigration von
Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation einzudämmen (vgl.
Heinrich/Lobova, Ausarbeitung vom 24. November 2005, S. 1 und S. 7 oben;
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Januar 2008, S. 20), wofür der Aufruf des
tschetschenischen Präsidenten Kadyrow vom 23. Januar 2007 zur Rückkehr aller
qualifizierten Landsleute und der voranschreitende staatlich unterstützte Wiederaufbau
insbesondere Grosnys wie anderer Städte in Tschetschenien (Bundesamt, Ausarbeitung
vom 1. Januar 2008, S, 2.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Januar 2008, S.
19) spricht. Eine programmatisch konzipierte Verfolgung von Tschetschenen ist folglich
nicht anzunehmen.
e. Dafür, dass Rückkehrer tschetschenischer Volkszugehörigkeit in Tschetschenien
keiner Gruppenverfolgung unterliegen, spricht im Übrigen, dass, nachdem der
Wiederaufbau in Tschetschenien sichtbare Fortschritte macht, erstmals eine gewisse
Bereitschaft erkennbar zu sein scheint, auch aus der „westlichen“ Diaspora nach
Tschetschenien zurückzukehren, so in jüngster Zeit jedenfalls unter den in die Türkei
geflohenen Tschetschenen (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 4
f.). Dafür spricht gleichfalls, dass allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2006
15.000 Binnenflüchtlinge dorthin zurückgekehrt sind (Lagebericht des Auswärtigen
Amtes vom 17. März 2007, S. 22). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ethnische
Tschetschenen auch in anderen Teilen Russlands nicht als Gruppe verfolgt werden, wäre
eine solche Rückkehrbereitschaft nicht vorstellbar, wenn eine Heimkehr nach
Tschetschenien mit einem Wechsel von einem verfolgungsfreien Ort in eine Region
einherginge, an dem ein Tschetschene Verfolgung zu befürchten hat.
3. Im Übrigen besteht für tschetschenische Volkszugehörige (gegenwärtig) in anderen
Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-
Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – eine inländische
Fluchtalternative, in denen sie vor Verfolgung sicher sind und ihr Existenzminimum
gesichert ist (so die ganz überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung: VGH
München, nicht rechtskräftiges Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., und rechtskräftiges
Urteil vom 19. Juni 2006 – 11 B 02.31598 – Juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.
Januar 2007 – 13 LA 67/06 – Juris; VGH Mannheim, Urteil vom 25. Oktober 2006 – A 3 S
46/06 – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.
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46/06 – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.
Dezember 2007 – 10 B 82.07 – Juris; OVG Saarlouis, Beschlüsse vom 12. Juli 2006 – 3 Q
101/06 – und vom 29. Juni 2006 – 3 Q 2/06 – sowie Urteil vom 23. Juni 2005 – 2 R 11/03 –
Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Mai 2006 – 1 B
101.05 – Juris; OVG Schleswig, Urteile vom 11. August 2006 – 1 LB 125/05 – Juris,
rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 2006 – 1
B 204.06 – Juris, und vom 3. November 2005 – 1 LB 211/01 – Juris, rechtskräftig mit
Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2007 – 1 B 87.06 – Juris; OVG
Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 11 A 2307/03.A – Juris, rechtskräftig mit Beschluss
des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juni 2006 – 1 B 102.05 – Juris; OVG Weimar,
rechtskräftiges Urteil vom 16. Dezember 2004 – 3 KO 1003/04 – Juris; VGH Kassel, Urteil
vom 21. Februar 2008, a.a.O., der sogar eine „hinreichende Sicherheit“ in
Tschetschenien bejaht; die anderslautende obergerichtliche Rechtsprechung hatte vor
dem Bundesverwaltungsgericht keinen Bestand: VGH Kassel, Urteil vom 2. Februar 2006
– 3 UE 3021/03.A –, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Januar 2007 – 1 B 47/06 –; das Parallelurteil des VGH
Kassel vom 4. Juli 2006 – 3 UE 2075/03.A – Juris ist wegen nicht hinreichender Darlegung
der Divergenzrüge rechtskräftig geworden, vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2007 –
1 B 121.06 – Juris; OVG Bremen vom 16. März 2005 – 2 A 114/03.A – Juris, aufgehoben
unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. März
2006 – 1 B 85.05 – Juris; OVG Magdeburg, Urteil vom 31. März 2006 – 2 L 40/06 – Juris,
aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom
1. Februar 2007 – 1 C 24.06 – Juris).
a. Tschetschenische Volkszugehörige sind gegenwärtig in anderen Teilen der Russischen
Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan,
Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – vor Verfolgung hinreichend sicher. In der
Russischen Föderation leben über hundert anerkannte Nationalitäten sehr
unterschiedlicher Größe, die gegenüber der russischen Bevölkerung in den meisten
Gebieten in der Minderheit sind. Eine nach ethnischer oder sprachlicher Zugehörigkeit
diskriminierende Gesetzgebung gibt es jedoch nicht (vgl. Lagebericht des Auswärtigen
Amtes vom 26. März 2004, S. 4). Zwar sind nationalistische Strömungen in fast allen
Bevölkerungsschichten latent verbreitet und kommt es immer wieder zu
Diskriminierungen insbesondere von Tschetschenen und anderen Kaukasiern (siehe
auch schon Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. November 1998, S. 2; ebenso
Lagebericht vom 17. März 2007, S. 10 f.; zuletzt Lagebericht vom 13. Januar 2008, S. 9
f.). Es besteht auch vielerorts ein distanziertes Verhältnis zu Bevölkerungsteilen
„kaukasischer“ Herkunft. Dies gilt vor allem für die südlichen Regionen Russlands, die an
den Kaukasus grenzen (Nordkaukasus-Gebiet), wo Russen und Kaukasus-Völker
benachbart oder gemischt leben. Zwar ist es insbesondere bei den
Antiterroroperationen aus Anlass der Bombenattentate in russischen Großstädten im
Jahre 1999 und 2000, für die tschetschenische Kräfte verantwortlich gemacht wurden, zu
Kontrollen und Festnahmen insbesondere von Kaukasiern gekommen. Dieses Vorgehen
hatte aber einen einsehbaren sicherheitspolitischen Anlass und richtete sich auch nicht
in erster Linie gegen Kaukasier, sondern gegen Verdächtige, welche zwar vor allem in
den Reihen der Kaukasier vermutet werden, wofür es aber auch sachliche,
ermittlungstechnische Anhaltspunkte gab und gibt. So hatte etwa der tschetschenische
Feldkommandant Basajew einen „totalen Krieg auf dem Gebiet Russlands“ angekündigt
(vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. August 2001, S. 9). Zum anderen ist
dieses teilweise überzogene, rechtsstaatlichen Anforderungen und der Achtung der
Menschenwürde nicht gerecht werdende Vorgehen in der Praxis offenbar weitgehend
durch ein allgemein nicht ausgeprägtes oder gar verinnerlichtes rechtsstaatliches
Selbstverständnis vieler Amtswalter bzw. eine insoweit fehlende Tradition der
Sicherheitsbehörden bedingt, welches bei vergleichbarem Anlass in etwa gleichem
Ausmaß auch andere Volkszugehörige treffen würde
Soweit demnach von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Tschetschenen außerhalb
Tschetscheniens (und der oben genannten weiteren Regionen) durch die Verweigerung
von Registrierungen, polizeiliche Übergriffe, ungerechtfertigte strafrechtliche
Anschuldigungen oder fremdenfeindliche Aggressionen auszugehen ist, handelt es sich
entweder nicht um asylrelevante Übergriffe oder sie erreichen nicht, auch nicht in der
Gesamtschau, eine Häufigkeit bzw. Intensität, dass sie asylrelevante Übergriffe für
tschetschenische Flüchtlinge wie die Kläger als nicht ganz entfernte und damit durchaus
reale Möglichkeit erscheinen lassen.
Tschetschenen wird in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens entweder
wegen ihrer Volkszugehörigkeit oder wegen ihrer regionalen Herkunft zwar mit
signifikanter Häufigkeit die Registrierung, d.h. die amtliche Bestätigung darüber
verweigert, dass sie sich am Ort ihres dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts
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verweigert, dass sie sich am Ort ihres dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts
angemeldet haben. Diese verbreitete rechtswidrige Praxis ist im Regelfall (d.h.
vorbehaltlich besonderer, sich aus der Person eines Betroffenen ergebender Umstände)
asylrechtlich jedoch irrelevant, da das Vorenthalten der Einstempelung in den
Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als
solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter
„Leben“, „körperliche Unversehrtheit“ und „Freiheit“ einhergeht, und ein derartiges
behördliches Verhalten weder die Menschenwürde verletzt noch hierdurch im Sinne von
Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie grundlegende Menschenrechte
schwerwiegend beeinträchtigt werden. Zwar legalisiert erst eine Registrierung den
Aufenthalt des Betroffenen; zudem ist sie Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe,
zu staatlich geförderten Wohnungen, zum (prinzipiell) kostenlosen Gesundheitssystem,
zum offiziellen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl.
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. März 2007, S. 29, sowie Gannuschkina,
Ausarbeitung vom 25. November 2006, S. 6). Die Ausgrenzung aus der staatlichen
Rechtsgemeinschaft, die der fehlende Besitz einer Registrierung in Bezug auf wichtige
Lebensbereiche deshalb nach sich ziehen kann, wird jedoch, was die Legalität des
Aufenthalts anbetrifft, dadurch spürbar gemildert, dass die Registrierungspflicht
nunmehr erst nach 90 Tagen ab dem Beginn des Aufenthalts an einem Ort Platz greift
(Gannuschkina, ebda., S. 4 f.). Da diese Regelung nach anfänglichen
Umsetzungsschwierigkeiten nunmehr auch tatsächlich angewendet wird (ebda. S. 5),
sind innerhalb der ersten drei Monate auch Tschetschenen vor polizeilichen und
administrativen Sanktionen wegen fehlender Registrierung sicher.
Da in polizeilichen Sistierungen, Durchsuchungen sowie kurzzeitigen Eingriffen in die
persönliche Fortbewegungsfreiheit, so lange sie sich innerhalb des auch in einem
Rechtsstaat üblichen Rahmens halten, keine Verfolgungshandlungen im asylrechtlichen
Sinne liegen, scheidet die Tatsache, dass sich Tschetschenen nach den ins Verfahren
eingeführten Erkenntnissen häufiger als andere Bewohner der Russischen Föderation mit
derartigen Maßnahmen konfrontiert sehen, von vornherein als Anknüpfungspunkt für die
Bejahung einer kollektiven Verfolgung der Angehörigen dieser Volksgruppe aus.
Soweit pauschal behauptet wurde, in Zusammenhang mit Kontroll- und
Durchsuchungsmaßnahmen komme es „nicht selten zu tätlichen Übergriffen und
anderen Einschüchterungsversuchen durch die Polizei“ (amnesty international an den
VGH München vom 16. April 2004, S. 2), und Tschetschenen müssten ständig
befürchten, mittels gefälschter Beweismittel eines Verbrechens beschuldigt zu werden
(Gannuschkina, Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006, S. 6, und
Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 4), lassen die zur Verfügung
stehenden Erkenntnismittel nicht den Schluss zu, dass tschetschenische Flüchtlinge wie
die Kläger in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und außerhalb der
oben genannten weiteren Gebiete) derartige Repressalien nicht nur theoretisch, sondern
auch praktisch zu befürchten haben. Dagegen spricht beispielsweise, dass der Memorial-
Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006 (S. 39) nur einen einzigen Vorfall (nämlich
die Art und Weise der Verhaftung dreier Tschetschenen in Twer am 17. Juni 2006) und
der Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007 (S. 82 f.) nur zwei Vorfälle (Art
und Weise der Verhaftung zweier Tschetschenen in Moskau im Mai 2007 und der
Verurteilung eines Tschetschenen in Twer im April 2007) referiert, die die vorgenannte
Behauptung ggf. stützen könnten, obwohl diese Ausarbeitungen jeweils ein eigenes, mit
„gesetzeswidrige Verhaftungen und Verfolgungen“ überschriebenes Kapitel enthalten.
Die dort sonst erwähnten Vorkommnisse sind demgegenüber eher geeignet, die
Behauptung zu widerlegen, Tschetschenen würden (heute noch) in relevanter Häufigkeit
mit ungerechtfertigten strafrechtlichen Vorwürfen überzogen bzw. bei Kontakten mit der
Miliz in menschenrechtswidriger oder asylrechtlich sonst relevanter Weise behandelt. Die
nach Darstellung von Gannuschkina (Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember
2007, S. 82 f.) im August 2007 in Pawlow festgenommenen beiden Tschetschenen sind
vom Gericht freigesprochen worden, nachdem sie zunächst eine fünftägige Arreststrafe
wegen Nichtbefolgung einer Milizanordnung erhalten hatten. Dabei räumt Gannuschkina
selbst ein, bei der Lektüre der Papiere den Eindruck gewonnen zu haben, die beiden
Männer hätten beim örtlichen Fahndungsamt in grober Form ihre Registrierung gefordert
und auf die Aufforderung, den Raum zu verlassen, nicht reagiert. In der Sache der im Mai
2007 in Moskau inhaftierten beiden Tschetschenen (ebda., S. 84) hätten sich inzwischen
Abgeordnete des tschetschenischen Parlaments für diese eingesetzt und ein Teil der
Anschuldigungen sei fallen gelassen worden. Bei dem im April 2007 verurteilten
Tschetschenen hat das Oberste Gericht nach Darstellung von Gannuschkina (Memorial-
Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 82) das Urteil aufgehoben, allerdings das
erneute erstinstanzliche Urteil bestätigt, wobei eine Klage beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte in Vorbereitung sei. Von einer menschenrechtswidrigen
Behandlung ist in den beiden zuletzt genannten Fällen nicht berichtet worden. Zur
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Behandlung ist in den beiden zuletzt genannten Fällen nicht berichtet worden. Zur
vorübergehenden Festnahme von zwei Tschetschenen kam es nach Darstellung von
Gannuschkina (Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006, S. 37), weil sie
auf einer Baustelle in Moskau tätig waren, auf der eine größere Zahl illegaler, aus
Zentralasien stammender Beschäftigter angetroffen wurde. Wenn sie länger als die
anderen bei dieser Razzia überprüften Personen festgehalten wurden, so war dafür nach
den Angaben von Gannuschkina (ebda.) ursächlich, dass sie unflätige Äußerungen
gegenüber den Einsatzkräften der Miliz getätigt haben sollen. Wesentlich ist an diesem
Vorkommnis vor allem, dass die beiden Tschetschenen nach 48 Stunden – mithin unter
Einhaltung einer Zeitspanne, bis zu der die vollziehende Gewalt auch nach deutschem
Recht (vgl. Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG) einen Festgenommenen längstens ohne
richterliche Entscheidung in Gewahrsam halten darf – freigelassen wurden, ohne dass sie
im Polizeigewahrsam körperlich oder seelisch misshandelt worden seien. Auch die
Tschetschenen und Dagestaner, die nach der Schilderung von Gannuschkina (ebda., S.
37 f.) am 15. Juli 2006 in Moskau nach einem Schusswechsel zwischen verschiedenen
Banden deswegen festgenommen wurden, weil sie der Beteiligung an der Schießerei
verdächtigt wurden, kamen nach 24 Stunden aus dem Polizeigewahrsam frei, ohne dass
sie ausweislich der Darstellung von Memorial dort – abgesehen von unterbliebener
Verpflegung – in rechtswidriger Weise behandelt wurden. Ursächlich für die im März 2006
erfolgte Verhaftung von drei Tschetschenen war nach der Darstellung von Gannuschkina
(ebda., S. 38), dass sie der Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Bande
beschuldigt wurden. Die Behauptung von Gannuschkina, dieser Vorwurf sei „gefälscht“
(ebda.), ist nicht belegt; gegen ihre Richtigkeit spricht, dass gegen den erstgenannten
der drei Festgenommenen bereits 2003 ein diesbezügliches Ermittlungsverfahren
durchgeführt worden war. Für die Richtigkeit des inhaltsgleichen, gegen einen weiteren
Tschetschenen erhobenen Vorwurfs spricht, dass man auch gegen ihn bereits im Jahr
2000 wegen Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Vereinigung ermittelt hatte und
in seinem Keller Soldatenuniformen vorgefunden worden waren (ebda., S. 40). Dass er
sich aus Anlass der im Jahr 2005 erfolgten Festnahme einer menschenrechtswidrigen
Behandlung ausgesetzt gesehen habe, macht Gannuschkina ebenso wenig geltend, wie
eine diesbezügliche Behauptung in Bezug auf die drei vorerwähnten Tschetschenen
aufgestellt wird (ebda., S. 39 f.).
Soweit nach der Darstellung von Gannuschkina im Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20.
September 2006 rechtskräftig verurteilte, in Gefängnissen oder Lagern einsitzende
Tschetschenen dort Übergriffen des Personals ausgesetzt waren, müssen derartige
Vorkommnisse bei der Beurteilung der Frage, ob Angehörige dieser Ethnie, die in der
Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens leben, allein aufgrund ihrer
Volkszugehörigkeit oder ihrer regionalen Herkunft Gefahr laufen, gruppenverfolgt zu
werden, außer Betracht bleiben, da bei solchen Personen ein zusätzliches,
risikoerhöhendes Merkmal vorliegt. Aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen kann
zugunsten eines bestimmten Ausländers die Gefahr einer Gruppenverfolgung nur
hergeleitet werden, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt
werden, das der betroffene Ausländer mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer
nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Eine solche
Vergleichbarkeit besteht zwischen rechtskräftig verurteilten, in Gefängnissen oder
Lagern einsitzenden Tschetschenen und auf freiem Fuß lebenden Angehörigen dieser
Volksgruppe, die sich vorübergehenden polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt sehen,
nicht.
Von fremdenfeindlichen, mit Angriffen auf Leib, Leben oder Freiheit oder auf
grundlegende Menschenrechte einhergehenden Verhaltensweisen von Privatpersonen
sind Tschetschenen in der Russischen Föderation keinesfalls in solcher Häufigkeit
betroffen, dass davon gesprochen werden könnte, jeder Angehörige dieser Ethnie sei
von solchen Ausschreitungen nicht nur möglicherweise, latent oder potenziell, sondern
wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet. Den in der Russischen Föderation
zu verzeichnenden fremdenfeindlichen Vorkommnissen, die insbesondere von
rechtsradikalen russischen Kräften verübt wurden, fielen nahezu ausnahmslos
Angehörige anderer Volksgruppen – namentlich Schwarzafrikaner, Asiaten mit
mongolischem Erscheinungsbild, Menschen aus dem indischen Kulturkreis sowie andere
Kaukasier als Tschetschenen – zum Opfer (Gannuschkina, Memorial-Jahresbericht 2005
vom 1. Juli 2005, S. 6 f.). Dies bestätigen die aktuellen Erkenntnisse des Bundesamtes
(Ausarbeitung vom 1. Februar 2008, S. 6), wonach die meisten der von Januar bis
November 2007 registrierten 216 ethnisch motivierten Überfälle in Russland auf
ethnische Russen, Usbeken, Tadschiken, Aserbaidschaner, Armenier und Kirgisen verübt
worden sind, wobei sich die meisten Übergriffe in Moskau und dem Gebiet Moskau, St.
Petersburg, der Region Nishnij Novgorod und Rostov am Don ereignet haben.
Der Annahme einer inländischen Fluchtalternative steht die Einschätzung von
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Der Annahme einer inländischen Fluchtalternative steht die Einschätzung von
Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrer Stellungnahme vom 14.
Juni 2007, es sei für die absolute Mehrheit der tschetschenischen Flüchtlinge nicht
möglich, in anderen Regionen der Russischen Föderation eine Existenz zu gründen (S.
11), nicht entgegen. Die Ausführungen betreffen zum einen überwiegend
Schwierigkeiten bei der Registrierung (S. 11-13 u. 16), die – wie bereits ausgeführt –
keine politische Verfolgung begründen würden und im Übrigen ein zumutbares
Auskommen nicht ausschließen (siehe hierzu nachfolgend). Zum anderen sind sie,
soweit sie sich auf Übergriffe gegen tschetschenische Flüchtlinge beziehen (S. 14, 16),
zu pauschal, als dass über die theoretische Möglichkeit hinaus, Opfer eines Übergriffs zu
werden, objektive Anhaltspunkte dafür bestünden, dass tschetschenische Flüchtlinge wie
die Kläger durchaus mit der realen Möglichkeit eines Übergriffs rechnen müssten.
Reinke/Hetzer weisen lediglich allgemein ohne nähere Angaben auf fremdenfeindliche
Übergriffe durch die Bevölkerung und staatliche Kontrollen mit einhergehenden
Repressalien hin (S. 14), auf eine schwierige Sicherheitslage und eine besondere Gefahr
für ins Ausland geflohene Tschetschenen, die oftmals unter Verdacht stünden, wegen
angeblicher Verbindungen zu Widerstandskämpfern geflohen zu sein (S. 16). Gleiches
gilt, soweit Reinke/Hetzer unter Berufung auf die Ausarbeitung der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe vom 1. Januar 2007 eine sehr hohe Gefahr für Leib und Leben
tschetschenischer Flüchtlinge in Inguschetien, Dagestan, Nord-Ossetien oder Karbadino-
Balkarien annehmen (S. 14). Im Übrigen hat die Kammer diese Gebiete bereits bei der
Prüfung ausgeklammert, ob für tschetschenische Flüchtlinge eine inländische
Fluchtalternative in der Russischen Föderation besteht.
Für ein „flächendeckendes“, eine reale Gefahr begründendes Vorgehen des russischen
Staates gegen zehntausende von tschetschenischen Flüchtlingen und zehntausende
von jeher außerhalb Tschetscheniens in der übrigen Russischen Föderation lebende
Tschetschenen gibt es im Übrigen auch keinen einsehbaren Grund. Nach dem
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Januar 2008 (S. 20) waren laut Angaben
des UNHCR Ende Juli 2007 knapp 30.000 tschetschenische Binnenflüchtlinge offiziell
registriert, davon rund 15.000 in Inguschetien und 6.500 in Dagestan. Außerdem gibt es
danach etwa 40.000 tschetschenische Flüchtlinge und Binnenvertriebene in Russland
außerhalb dieser drei Republiken. Darüber hinaus gibt es danach in praktisch allen
russischen Großstädten eine tschetschenische Diaspora, z.B. von 200.000
Tschetschenen in Moskau (nach Angaben der Tschetschenischen Vertretung in Moskau),
70.000 im Gebiet Rostow, 40.000 in der Region Stawropol und 30.000 in der Wolgaregion
(Angaben des tschetschenischen Parlamentspräsidenten Abdurachmanow vom 5. Juni
2006). Hinsichtlich des Interesses, Tschetschenien wieder unter Kontrolle zu bringen,
würde den russischen Staat ein Vorgehen gegen Tschetschenen, welche nicht direkt in
Tschetschenien kämpfen oder gekämpft haben und auch nicht außerhalb
Tschetscheniens Anschläge verüben oder sich sonst besonders für die tschetschenische
Sache engagieren, diesem Ziel nicht näher bringen, sondern die Russische Föderation
sähe sich dann einem nochmals verstärkten internationalen Druck ausgesetzt und
zudem der Erhöhung des Risikos, dass die Auseinandersetzung noch intensiver und
großflächiger in die Russische Föderation getragen würde (vgl. VG Ansbach, Urteil vom
14. September 2007 – AN 10 K 07.30008 – Juris).
b. Zurückkehrenden tschetschenischen Volkszugehörigen ist es auch möglich, in der
Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der o.g. Gebiete) ein
zumutbares Unter- und Auskommen zu finden. Dabei wird es den Betroffenen
regelmäßig zwar nicht leicht gemacht; in der Regel wird es ihnen administrativ erschwert,
insbesondere einen legalen Aufenthalt und diesen wiederum insbesondere an
bestimmten Orten zu nehmen. Dies ist im Endeffekt jedoch nicht unmöglich, mag es
auch nicht immer am bevorzugten Ort oder stets auf Anhieb möglich sein. In diesem
Zusammenhang ist auf die Verhältnisse in der Russischen Föderation insgesamt
abzustellen, insbesondere ohne die Verhältnisse in den russischen Großstädten, wie
etwa Moskau und St. Petersburg, zu verallgemeinern, weil dort u.a. wegen der
angespannten Wohnraumsituation ein besonderer Zuwanderungsdruck für die
hinsichtlich der restlichen Russischen Föderation (mit Ausnahme Tschetscheniens) nicht
repräsentativen Verhältnisse ursächlich ist, wovon im Übrigen nicht nur Tschetschenen
betroffen sind.
(1) Bei hinreichendem Bemühen können russische Staatsangehörige tschetschenischer
Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation eine Registrierung erreichen.
Gemäß Art. 27 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung Russlands hat jeder Bürger der Russischen
Föderation das Recht, „ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren", und
Art. 27 Abs. 1 bestimmt: "Jeder, der sich legal auf dem Territorium der Russischen
Föderation befindet, hat das Recht, sich frei hin und her zu bewegen und den
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Föderation befindet, hat das Recht, sich frei hin und her zu bewegen und den
Aufenthaltsort und den Wohnsitz zu wählen". Art. 19 Abs. 2 der Verfassung verbietet
umfassend Diskriminierungen, insbesondere wegen der Rasse, der Nationalität, der
Herkunft und des Wohnsitzes. Unterhalb der Verfassung ist für die Begründung und
Änderung des Wohnsitzes auf der Ebene der föderalen Gesetze das Gesetz vom 25. Juni
1993 (zuletzt geändert am 18. Juli 2006) maßgebend, das seinerseits durch
„Verfahrensbestimmungen der Registrierung und der Streichung der Registrierung der
Bürger der Russischen Föderation aus der Registrierungsakte am Aufenthaltsort und am
Wohnort in den Grenzen der Russischen Föderation", bestätigt mit der Verordnung der
Regierung der Russischen Föderation vom 17. Juli 1995, in der Fassung vom 22.
Dezember 2004, konkretisiert wird. Danach gilt das folgende Verfahren: Der Bürger, der
seinen Wohnsitz ändern bzw. neu begründen will, hat bei der zuständigen Behörde des
von ihm gewählten (neuen) Wohnortes binnen 7 Tagen nach seiner Ankunft einen
förmlichen Antrag auf Registrierung des ständigen Wohnsitzes zu stellen und dabei
seinen „Pass oder ein anderes ihn ausweisendes Dokument" vorzulegen. Bei der
Registrierbehörde des neuen Wohnsitzes beantragt er (auf dem unteren Teil des
Formulars Nr. 6) zugleich auch seine Streichung aus der Registrierung am bisherigen
Wohnsitz. Die neue Meldebehörde hat gemäß Punkt 6.4. der vom Innenministerium der
Russischen Föderation am 23. Oktober 1995 erlassenen „Instruktion über die
Anwendung der Verfahrensbestimmungen..." (zuletzt geändert am 16. September 2002)
binnen 3 Tagen nach der Registrierung der Meldebehörde des bisherigen Wohnortes den
Antrag auf Streichung bzw. Abmeldung zu übermitteln, mit der Maßgabe, ihr die erfolgte
Streichung aus der Registrierung am früheren Wohnsitz mitzuteilen. Ist die Mitteilung
erfolgt, ist das Verfahren abgeschlossen. Die Registrierung am neuen Wohnort wird nach
Punkt 3.3 der „Empfehlungen" zur Instruktion durch einen Stempel im Pass vermerkt
(vgl. zum Vorstehenden Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 25 f.).
Sollten die amtlichen Stellen entgegen der Rechtslage eine Registrierung verweigern,
können sich Tschetschenen hiergegen mit sehr guten Erfolgsaussichten zur Wehr
setzen. In den Memorial-Jahresberichten von Gannuschkina sind zahlreiche Fälle
dokumentiert, in denen es durch die Einschaltung von Abgeordneten, Journalisten,
Menschenrechtsorganisationen oder Rechtsanwälten sowie erforderlichenfalls durch das
Beschreiten des Rechtswegs gelungen ist, Tschetschenen eine Registrierung zu
verschaffen; dies gilt selbst in Moskau. In den Fallschilderungen, die mit der Feststellung
abbrechen, Tschetschenen sei die Registrierung verweigert worden, fehlt praktisch
durchgängig eine Aussage darüber, ob der Betroffene gebührliche Anstrengungen
unternommen hat, um den Status der Illegalität zu vermeiden bzw. zu beenden. Es
muss vor diesem Hintergrund davon ausgegangen werden, dass für das Fehlen einer
Registrierung in vielen Fällen auch die mangelnde Bereitschaft von Tschetschenen
ursächlich ist, die hierfür erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten und bei
auftretenden Schwierigkeiten fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies bestätigt
der von Gannuschkina im Memorial-Jahresbericht 2003 (S. 21 f.) geschilderte Fall einer
Tschetschenin, die so lange ohne Registrierung im Gebiet von Moskau lebte, als sich für
sie hieraus keine Schwierigkeiten ergaben, und die sich erst dann entschied, sich
anzumelden, als die örtliche Miliz im Gefolge des Terroranschlags vom Oktober 2002
begann, sich in der Schule nach nicht angemeldeten Tschetschenen zu erkundigen (vgl.
zu Vorstehendem VGH München, Urteil vom 19. Juni 2006, a.a.O., Rn. 63 ff.). Ist ein
Tschetschene aber willens, seinen Aufenthalt zu legalisieren, so steht ihm z.B. in Gestalt
der 58 Beratungsstellen der Organisation „Migration und Recht“ (Memorial) ein
russlandweites Netz zur Verfügung, in dem jährlich mehr als 20.000 Menschen beraten
werden (Gannuschkina, Ausarbeitung vom 25. November 2006, S. 1) und mit dessen
Unterstützung er seine Rechte mit guten Erfolgsaussichten durchsetzen und gegen
staatliche Willkür Schutz finden kann. Soweit nicht bereits mit außerprozessualen Mitteln
Abhilfe geschaffen werden kann (nach den Darstellungen in den Memorial-
Jahresberichten von Gannuschkina genügt zu diesem Zweck bisweilen bereits die
persönliche Vorsprache einer rechtskundigen Person bei einem Vorgesetzten des die
Registrierung verweigernden Amtsträgers oder die Einschaltung der Staatsanwaltschaft,
der in Russland die Funktion einer Aufsichtsbehörde über die Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung zukommt), darf zumindest in aller Regel davon ausgegangen werden, dass
der Betroffene vor Gericht Recht erhalten wird. Denn die russischen Gerichte üben
Verwaltungskontrolle nach US-Vorbild aus; behördliche Bescheide können vor dem
örtlich zuständigen Bezirksgericht angefochten werden (Heinrich/Lobova, Ausarbeitung
vom 24. November 2005, S. 17). Die Gerichte sind die einzigen staatlichen Institutionen
in Russland, die Tschetschenen Rechtsschutz gewähren (Heinrich/Lobova, ebda.).
Darüber hinaus lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass die
Registrierungsschwierigkeiten „flächendeckend“ in der Russischen Föderation bestehen.
Es gibt Regionen, in denen keine örtlichen Vorschriften zur Registrierung erlassen worden
sind oder diese nicht restriktiv angewandt werden, in denen also eine Registrierung
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sind oder diese nicht restriktiv angewandt werden, in denen also eine Registrierung
leichter möglich ist. Das gilt vor allem für Südrussland mit der Wolga-Region sowie ganz
allgemein für die ländlich geprägten („unproblematischen“) Bereiche der Russischen
Föderation (Auswärtiges Amt, Lagebericht Tschetschenien vom 30. August 2005, S. 16,
Ad-hoc Berichte vom 16. Februar 2004, S. 19, und vom 13. Dezember 2004, S. 14 sowie
Auskunft an das OVG Koblenz vom 19. Januar 2004, S. 2). Dort ist die Registrierung auch
deshalb einfacher zu erlangen, weil der als Registrierungsvoraussetzung notwendige
Wohnraum finanziell erheblich günstiger ist als etwa in Moskau (Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 30. August 2005, S. 16, und Auskunft an den VGH München vom 12.
November 2003). Nicht einmal die Menschenrechtsorganisationen gehen von einer
„flächendeckenden“ Verweigerung der Registrierung bei tschetschenischen
Volkszugehörigen aus. So beschreibt etwa amnesty international in der Auskunft an den
VGH München vom 16. April 2004 (S. 1 f.) die Problematik mit unbestimmten Begriffen
wie „zahlreiche Städte“, „vielerorts“, „in weiten Teilen Russlands“ und räumt ein, dass
eine restriktive Registrierungspraxis konkret nur aus bestimmten (verhältnismäßig
wenigen) Regionen bzw. Teilrepubliken bekannt sei, nämlich Nischni Nowgorod,
Kaliningrad, den südlichen Republiken bzw. Regionen Stawropol, Krasnodar, Kabardino-
Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien-Alanien sowie dem sibirischen
Gebiet Tomsk. Das erscheint angesichts dessen, dass in der Wolga-Region ca. 40.000
tschetschenische Flüchtlinge leben, auch plausibel.
Bei dieser Sachlage geht die Kammer davon aus, dass es Tschetschenen bei allen
Schwierigkeiten – gegebenenfalls nach mehreren Versuchen und mit der Unterstützung
von Abgeordneten, Vertretern von Menschenrechtsorganisationen wie Memorial sowie
einflussreicher Persönlichkeiten – gelingen kann, einen legalen Aufenthalt in der
Russischen Föderation zu begründen.
(2) Im Übrigen können Tschetschenen auch ohne eine legale Registrierung ein
zumutbares Auskommen finden. Die vergleichsweise hohe Zahl der in der Russischen
Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen belegt, dass es
unabhängig von bürokratischen Schwierigkeiten (etwa bei Registrierung oder
Ausweispapierbeschaffung), teilweisen Diskriminierungen und auch Übergriffen von
Behördenangehörigen und trotz Ressentiments in der Bevölkerung möglich ist,
zumindest einen faktischen Aufenthalt zu erlangen und – wenn auch auf dem
landesüblichen niedrigen Niveau – dabei eine wirtschaftliche Grundlage zu finden und sei
es auch nur im Bereich der – sehr weit verbreiteten (Auswärtiges Amt an das VG
Stuttgart vom 30. Juni 2000, S. 2) – Schattenwirtschaft. Diese Auffassung wird zudem
durch das Vorbringen vieler „kaukasischer“, auch tschetschenischer Kläger bestätigt,
welche angeben, auch ohne Papiere langjährig und bis in die jüngste Zeit in den
verschiedensten Regionen der Russischen Föderation gelebt zu haben, dies selbst etwa
in Moskau, wenn auch dort ab 1999 ein starker Kontrolldruck, verbunden oft mit
Übergriffen und der Notwendigkeit von Schmiergeldzahlungen, eingesetzt habe (vgl.
etwa auch den tschetschenischen Kläger eines Verfahrens vor dem VG Augsburg, der
bestätigt hat, es gebe sehr viele Methoden, um in Russland ohne Registrierung zu leben,
Urteil vom 12. Juni 2006 – Au 2 K 05.30203 – Juris Rn. 19). Es ist daher davon
auszugehen, dass eine Registrierung oder das Innehaben von Personalpapieren zwar
durchaus hilft, das Leben in der Russischen Föderation leichter zu gestalten, jedoch nicht
unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Lebensverhältnisse zu schaffen, welche – unter
Berücksichtigung des allgemeinen Lebensstandards in der Russischen Föderation – als
zumutbar anzusehen sind. Insofern überbewerten der UNHCR und Gannuschkina
(Memorial) die – zwar verbreitet vorkommenden – administrativen Schwierigkeiten und
Diskriminierungen. Die Auskunft von Gannuschkina (Memorial) an den VGH Kassel vom
17. Mai 2007 (S. 10) gibt nichts Gegenteiliges her, weil dort nicht zur aufgeworfenen
Auskunftsfrage Stellung genommen und zu Unrecht lediglich auf Dagestan und den
Bezirk Chasavjurt als alleinige Orte einer tschetschenischen Diaspora eingegangen wird.
Auch der UNHCR schließt in seiner Auskunft an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007
eine inländische „Relokationsmöglichkeit“ nicht schlechthin für die gesamte Föderation
aus, zudem stellt er in seiner Auskunft vor allem auf die Möglichkeit einer rechtlich
gesicherten Stellung für Flüchtlinge ab und schließt nicht begründet aus, dass auch ein
faktischer Aufenthalt ohne unzumutbare Bedingungen möglich ist. Nach der Auskunft
von Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007 (S. 28) haben nicht wenige
Tschetschenen immer wieder Wege gefunden, um sich trotz aller Widrigkeiten eine
Existenz außerhalb Tschetscheniens aufzubauen, sei es dass sie kraft
verwandtschaftlicher oder sonstiger Beziehungen über Protektion und Fürsprecher in der
tschetschenischen Diaspora verfügen, sei es dass sie über eigene beträchtliche
Geldmittel verfügen.
(3) Die Gebiete, in denen eine inländische Fluchtalternative offen steht, sind für die
Kläger auch erreichbar. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie bei einer
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Kläger auch erreichbar. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie bei einer
Rückkehr in die Russische Föderation nicht dorthin gelangen könnten oder gar mit einer
zwangsweisen Rückführung nach Tschetschenien rechnen müssten (Auswärtiges Amt,
Ad hoc-Bericht Tschetschenien vom 16. Februar 2004, S. 19). Selbst für den Fall, dass
die behördliche Registrierung außerhalb Tschetscheniens verweigert werden sollte,
bestünde für die Kläger keine reale Gefahr, zwangsweise nach Tschetschenien
zurückkehren zu müssen; für eine Rückverbringung von russischen Staatsangehörigen
aus einem Landesteil, in dem sie nicht registriert sind, in ihre Heimat besteht keine
Rechtsgrundlage, und es dürfte dem russischen Staat hierfür auch an Mitteln fehlen (vgl.
OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005, a.a.O., Rn. 107 f. unter Bezugnahme auf die
jeweils dem VGH München erteilten Auskünfte des UNHCR vom 29. Oktober 2003, des
Auswärtigen Amtes vom 12. November 2003 und von amnesty international vom 16.
April 2004).
(4) Die inländische Fluchtalternative scheitert weiterhin nicht am fehlenden
Existenzminimum. Auch in den Fällen, in denen es tschetschenischen Volkszugehörigen
nicht gelingt, eine Registrierung zu erhalten, besteht keine Gefahr der Verelendung und
des Hungertodes. Soweit Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrer
Auskunft an den VGH Kassel vom 14. Juni 2007 (S. 11) für die „absolute Mehrheit der
tschetschenischen Flüchtlinge“ bei fehlender Registrierung keine Existenzmöglichkeit in
der Russischen Föderation erkennen, wird dies nicht belegt. Dabei wird zudem außer
Acht gelassen, dass bereits eine ganz erhebliche Anzahl nicht registrierter
Tschetschenen über Jahre (irgend-) ein Auskommen in der Russischen Föderation
gefunden hat und findet. Gannuschkina (Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember
2007, S. 78 ff.) führt aus, dass nicht registrierte Binnenflüchtlinge weniger Rechte als
registrierte haben, belegt aber ebenfalls nicht, dass zumutbare Anstrengungen zur
Existenzsicherung unmöglich erscheinen. Es liegen auch keine Erkenntnisse dazu vor,
dass es unter der erheblichen Anzahl in verschiedenen russischen Regionen
niedergelassenen Tschetschenen zu gravierenden Versorgungsengpässen oder gar zu
Hungersnöten oder vergleichbaren humanitären Katastrophen gekommen wäre (vgl.
OVG Saarlouis, Urteil vom 23. Juni 2005, a.a.O., Rn. 48). Wenngleich ein Anspruch auf die
ohnehin sehr eingeschränkte staatliche Unterstützung im sozialen Bereich und im
Gesundheitswesen an das Erfordernis einer behördlichen Registrierung geknüpft ist,
stellen die Bewohner der Russischen Föderation, die unter oder nur am Rande des
Existenzminimums leben, in Ermangelung gegenteiliger Erkenntnisse trotz ihrer
schwierigen materiellen Lage und der permanenten russischen Wirtschaftskrise ihr
Überleben in verschiedener Art und Weise sicher. Dies gilt ersichtlich auch für
tschetschenische Flüchtlinge, die sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen
Föderation aufhalten (OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005, a.a.O., Rn. 202).
Allerdings soll etwa nach Ansicht des OVG Lüneburg (Beschluss vom 16. Januar 2007,
a.a.O., Rn. 7) einiges dafür sprechen, dass ältere und schwer kranke Personen sowie
allein stehende Frauen mit Kleinkindern ohne verwandtschaftlichen Rückhalt den
Anforderungen und Belastungen einer Rückkehr in die Russische Föderation unter den
derzeitigen Verhältnissen nicht immer gewachsen sein werden. Ferner ist nach
Auffassung des VGH München (Urteil vom 31. August 2007, a.a.O.) einer Frau, die unter
einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, deswegen ständig ärztliche
Betreuung benötigt und daher den Zeitraum bis zu einer Registrierung außerhalb
Tschetscheniens nicht abwarten könne, die Rückkehr in die Russische Föderation nicht
zumutbar. Diese Fragen bedürfen hier allerdings schon deswegen keiner Entscheidung,
da die Kläger nicht zu den genannten Personen zählen.
Selbst dann, wenn man meinte, das wirtschaftliche und soziale Existenzminimum in der
Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens sei nicht gewährleistet, würde dies
keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG rechtfertigen (vgl. VGH München,
Urteil vom 19. Juni 2006, a.a.O., Rn. 91). Denn das Fehlen des wirtschaftlichen und
sozialen Existenzminimums wäre nicht verfolgungsbedingt (BVerfG,
Nichtannahmebeschluss vom 29. Juli 2003 – 2 BvR 32/03 – DVBl. 2004, 111, 112). Nach
der vorliegenden Erkenntnislage war und ist nämlich die allgemeine Lage in
Tschetschenien im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus
schlechter. Wohnraum steht nicht ausreichend zur Verfügung, auch nicht in der Form
von Übergangsunterkünften. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, etc.) ist weitgehend
zerstört. Die Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 80 %. Die Grundversorgung der
Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist insbesondere in Grosny äußerst mangelhaft.
Hilfslieferungen internationaler Hilfsorganisationen erfolgen nur sehr begrenzt und
punktuell. Das Gesundheitssystem ist weitgehend zusammengebrochen, so dass die
medizinische Versorgung unzureichend ist. Von der zugesagten massiven
Wiederaufbauhilfe werden große Summen veruntreut und es herrscht eine weit
verbreitete Korruption (Schweizerische Flüchtlingshilfe: Nordkaukasus, Januar 2007, S. 8
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verbreitete Korruption (Schweizerische Flüchtlingshilfe: Nordkaukasus, Januar 2007, S. 8
f.).
c. Auch der Umstand, dass die Kläger einen neuen (Inlands-) Pass benötigen, führt zu
keiner anderen Beurteilung.
Die Gültigkeit der alten „sowjetischen“ Inlandspässe endete am 30. Juni 2004
(Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 15. Februar 2006, S. 25); zudem ist nach dem
Erlass der Regierung der Russischen Föderation Nr. 828 vom 8. Juli 1997, zuletzt
geändert mit Erlass vom 2. Juli 2003, jeder Staatsangehörige der Russischen Föderation
verpflichtet, sich im Laufe seines Lebens, beginnend mit der Vollendung des 14.
Lebensjahrs, drei Inlandspässe ausstellen zu lassen, wobei der erste Umtausch im Alter
von 20 und der zweite im Alter von 45 Jahren vorgeschrieben ist (Auswärtiges Amt an
den VGH München vom 3. März 2006, Nr. 2).
Zwar war bislang ein neuer Inlandspass bei dem Meldeamt zu beantragen, bei dem der
Betreffende bisher (offiziell) registriert ist (Auswärtiges Amt an das VG Berlin vom 22.
November 2005, Nr. 4), weil die Geltungsdauer des Befehls Nr. 347, der einen
Passumtausch auch an einem mit dem Ort der letzten Anmeldung nicht identischen
Wohnort des Betroffenen vorsah, zwischenzeitlich ausgelaufen war und es auch sonst
keine Sonderregelungen für Tschetschenen mehr gab (ebda., Nrn. 1 und 7). Dies hatte
zur Folge, dass z.B. ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer
Volkszugehörigkeit, der offiziell in Tschetschenien registriert war, nur dort einen (neuen)
russischen Inlandspass beantragen konnte. Jedoch ist inzwischen eine Neuregelung über
die Ausstellung von Inlandspässen in Kraft gesetzt worden. Seit Inkrafttreten der
Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20. Dezember 2006
kann die Ausstellung eines Passes „am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der
Antragstellung“ erfolgen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Januar 2008, S. 28;
Auskunft an das VG Köln vom 4. Dezember 2007, S. 1). Dafür, dass es für
tschetschenische Volkszugehörige trotz dieser neuen Rechtslage schwierig oder gar
unmöglich ist, am Ort der Antragstellung einen neuen Pass zu erhalten, gibt es keine
Anhaltspunkte. Gannuschkina berichtet im Memorial-Jahresbericht 2007 (S. 81) lediglich
pauschal, die neue Vorschrift werde „bei weitem nicht immer angewandt“, und referiert
für den Beobachtungszeitraum bis Oktober 2007 nur über zwei Fälle in Saratow, die nach
ihrer Ansicht zeigten, dass „einigen Beamten“ nicht in den Kopf zu gehen scheine, dass
Tschetschenien auch Russland sei und Umsiedler aus Tschetschenien russische
Staatsbürger seien. Zudem hat die Betreffende in einem der Fälle ausweislich des
Berichtes innerhalb eines Tages einen Pass erhalten, nachdem sie auf Rat des
(örtlichen) Memorial-Büros einen Brief an die Migrationsbehörde geschrieben hatte. Der
andere Fall soll vergleichbar gewesen sein.
Selbst bei Zugrundelegen der bisherigen Rechtslage bzw. einer erforderlichen
Passausstellung in Tschetschenien ergäbe sich keine andere Beurteilung. Die
Notwendigkeit, zwecks Erlangung eines neuen Inlandspasses Tschetschenien
aufzusuchen, bestand nur für wenige Tage. Denn der Erlass Nr. 828 sieht für dieses
Verwaltungsgeschäft eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen vor
(Auswärtiges Amt an den VGH München vom 3. März 2006, Nr. 3). Auskünften der Pass-
und Visaverwaltung der Tschetschenischen Republik in Grosny zufolge wird diese Frist
auch in Tschetschenien in der Regel eingehalten (ebda.). Bei noch notwendigen
Rückfragen kann die Ausstellung allerdings bis zu einem Monat dauern. In diesen Fällen
kann dem Antragsteller jedoch ein vorübergehender Ausweis ausgestellt werden, so
dass er Tschetschenien verlassen und sich zu seinem aktuellen Wohnort begeben kann
und er nur zur Passübergabe nochmals anreisen muss (ebda.).
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger einen Inlandspass nicht
innerhalb der normativ vorgegebenen Zehn-Tages-Frist erhalten könnten. Da sie nach
Aktenlage derzeit weder über einen Reisepass noch über ein sonstiges Dokument
verfügen, mit dem sie in die Russische Föderation einreisen könnten, ist ihre
Abschiebung oder ihre freiwillige Rückkehr in den Heimatstaat nur möglich, wenn ihnen
eine russische Auslandsvertretung zuvor ein Rückreisedokument ausstellt (Auswärtiges
Amt an das VG Berlin vom 22. November 2005, Nr. 8). Die Ausstellung eines solchen
Dokuments setzt die vorherige Überprüfung der Identität der betreffenden Person durch
die Innenbehörden der Russischen Föderation voraus (Auswärtiges Amt an den VGH
München vom 3. März 2006, Nr. 4). Wurde ein Rückreisedokument erteilt, kann deshalb
davon ausgegangen werden, dass die für die Ausstellung eines Inlandspasses
benötigten Unterlagen vorliegen (Auswärtiges Amt an den VGH München vom 3. März
2006, Nr. 5).
Die Kläger müssen sich auch nicht zwangsläufig zehn Tage lang in Tschetschenien
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Die Kläger müssen sich auch nicht zwangsläufig zehn Tage lang in Tschetschenien
aufhalten. Ebenso wie in den Fällen, in denen die Bearbeitungsfrist bis zu einem Monat
beträgt, steht es ihnen frei, sich nur aus Anlass der Beantragung sowie am Tag der
Abholung des neuen Inlandspasses nach Tschetschenien zu begeben und sich während
der übrigen Zeit in nahe gelegenen anderen Landesteilen der Russischen Föderation
aufzuhalten. Das Risiko, dass die Kläger an den beiden Tagen, an denen sie sich
notwendig nach Tschetschenien begeben müssen, politischer Verfolgung ausgesetzt
sein werden, ist angesichts der oben dargestellten Sachlage derart gering, dass nicht
von einer „realen“ Gefahr für sie gesprochen werden kann (vgl. zum Vorstehenden VGH
München, Urteil vom 19. Juni 2006 – 11 B 02.31598 – Juris Rn. 42 ff.).
Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob – wie in zahlreichen bei der Kammer
anhängigen Verfahren vorgetragen worden ist – bei der Passausstellung eine Vertretung,
etwa durch Familienangehörige, möglich ist.
d. Die vorstehenden Ausführungen gelten jedenfalls für „unauffällige“ tschetschenische
Volkszugehörige, die sich im Tschetschenien-Konflikt für die tschetschenische Sache
nicht besonders engagiert oder eines solchen Engagements verdächtig gemacht haben
und deshalb konkret gesucht werden (vgl. OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 11 A
2307/03.A – Juris Rn. 171). Zu dieser „Risikogruppe“, die nach dem Lagebericht des
Auswärtigen Amtes vom 13. Januar 2008 (S. 26 unten) bei einer Rückführung
„besondere Aufmerksamkeit“ durch die russischen Behörden erfährt und auf die daher
die vorstehenden Ausführungen möglicherweise nicht oder nur eingeschränkt anwendbar
sind, zählen bekannte oder prominente Funktionäre oder Parteigänger Maschadows und
der „Tschetschenischen Republik Itschkeria“ (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8.
August 2007, S. 14; so auch UNHCR an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007, S. 5, der
allerdings auch solche Personen als besonders gefährdet ansieht, die „sehr niedrige“
offizielle Positionen im Regime Maschadow innehatten; hierfür werden jedoch keinerlei
Belege angeführt), sowie die den russischen Sicherheitskräften bekannten
Freischärler/Rebellen/Widerstandskämpfer bzw. die von ihnen als solche verdächtigt und
deshalb konkret gesucht werden (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007,
S. 21; Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 14. Juni 2007, zu
Frage 4; amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 9, mit
Fallbeispielen S. 11-15; siehe hierzu auch VGH München, Urteil vom 31. August 2007,
a.a.O., Rn. 68; Siegert an den VGH Kassel vom 20. April 2007, zu Frage 6; UNHCR an
den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007, S. 5, spricht von „Mitgliedern illegaler,
bewaffneter Formationen“; Heinrich/Lobova, Ausarbeitung vom 7. März 2006, S. 11 u. S.
17, sprechen von Angehörigen von „Terrorismusverdächtigen“).
Soweit in den Auskünften auch Familienangehörige solcher (vermuteter)
Widerstandskämpfer als besonders gefährdet angesehen werden, überzeugt dies für die
bei der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative allein relevanten Gebiete der
Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der weiteren oben genannten
Gebiete) nicht. Denn für die Russische Föderation außerhalb dieser Gebiete werden
Vorfälle, die unter dem Aspekt der „Sippenhaft“ gesehen werden könnten, nicht
berichtet (so auch VGH München, Urteil vom 24. Oktober 2007 – 11 B 03.30711 – S. 17
des Entscheidungsabdruckes). Insbesondere berichten weder Gannuschkina in ihren
jüngsten Memorial-Jahresberichten (2007, S. 82-85, und 2006, S. 37-43) noch amnesty
international (Auskunft an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 16-20) oder
Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker (Auskunft an den VGH Kassel
vom 14. Juni 2007, S. 11-15) über derartige Vorfälle. Lediglich für Tschetschenien gibt es
Erkenntnisse, dass Familienangehörige mutmaßlicher Rebellen als Geiseln genommen
werden, um diese zur Aufgabe zu zwingen (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 13.
Januar 2008, S. 18, und vom 18. August 2006, S. 16; Auskunft von Reinke/Hetzer an den
VGH Kassel vom 14. Juni 2007, S. 7 f.; Heinrich/Lobova, Ausarbeitung vom 7. März 2006,
S. 11). Diese „Risikobegrenzung“ auf Tschetschenien erscheint auch plausibel. Die vom
ehemaligen Präsidenten der Russischen Föderation Putin betriebene Politik der
„Tschetschenisierung“ des Tschetschenien-Konfliktes (s. hierzu Auskunft von
Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 7 ff.) hat dazu geführt, dass
der „Kadyrow-Clan“ in Tschetschenien immer mächtiger geworden und für die „Lösung“
des Tschetschenien-Konfliktes verantwortlich ist. Der Kadyrow-Clan betreibt dabei eine
Doppelstrategie gegen die in den Untergrund abgedrängten Parteigänger einer
unabhängigen (islamischen) „Tschetschenischen Republik Itschkeria“ (Präsident
Maschadow sowie die „Feldkommandeure“ Basaev, Gelaev, Baraev usw.): Einerseits die
persönliche Umwerbung der im Untergrund operierenden Feldkommandeure und
Freischärler („boeviki“) mit dem Versprechen, sie im Falle ihrer Unterwerfung nicht nur
nicht anzutasten, sondern sie vielmehr in die von Kadyrow kontrollierten bewaffneten
Verbände einzugliedern. Andererseits die rücksichtslose Vernichtung der die
Unterwerfung verweigernden Untergrundkämpfer mit allen, auch terroristischen Mitteln.
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Unterwerfung verweigernden Untergrundkämpfer mit allen, auch terroristischen Mitteln.
Teil dieser Doppelstrategie sei gewesen und sei bis heute die Entführung, Einschließung,
Bedrohung und ggf. Folterung von nahen Familienangehörigen widerstrebender boeviki
(vgl. zum Vorstehenden Luchterhandt, a.a.O.). Dies betrifft jedoch nur Tschetschenien
und nicht die übrige Russische Föderation und wird von der Einschätzung Luchterhandts
in seiner Auskunft an den VGH Kassel vom 8. August 2007 (S. 11 f.) bestätigt. Danach
ist selbst in Tschetschenien die Gefahr, Opfer von russischen Sicherheitseinheiten, sei es
von Soldaten oder OMON-Mitgliedern, zu werden, auf Grund der Tschetschenisierung des
Tschetschenienkonfliktes und nur noch quantitativ begrenzter Einsätze heute nur noch
gering, während die Gefahr von Übergriffen seitens tschetschenischer Sicherheitskräfte,
also den „kadyrovcy, jamadevcy und kakievcy“, immer noch relativ hoch einzuschätzen
ist.
Soweit auch (bewaffnete) Teilnehmer des 1. Tschetschenien-Krieges als besonders
gefährdet angesehen werden (so VGH München, nicht rechtskräftiges Urteil vom 24.
Oktober 2007 – 11 B 03.30710 – S. 34 des Urteilsabdruckes und rechtskräftiges Urteil
vom 15. Oktober 2007 – 11 B 06.30875 – Juris Rn. 79), überzeugt dies (zumindest) für
die Gebiete der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht, jedenfalls
soweit es sich um Personen mit untergeordneten Funktionen gehandelt hat. Es ist schon
nicht plausibel, dass die russischen Sicherheitskräfte diese Personen auch heute noch
besonders im Blick haben sollten. Den russischen Sicherheitskräften ist (heute) daran
gelegen, solcher (aktiver) Widerstandskämpfer/Rebellen habhaft zu werden, die mit
neuen Aktivitäten die mühsam erreichte Stabilisierung in Tschetschenien gefährden
könnten. Dass bei (bewaffneten) Teilnehmern allein des 1. Tschetschenien-Krieges, der
bereits im August 1996 und damit vor mehr als 11 Jahren beendet worden ist, eine
solche Gefahr angenommen werden könnte, ist jedenfalls für Teilnehmer in
untergeordneten Funktionen unwahrscheinlich. Außerdem finden sich für diese Ansicht
keine hinreichenden Belege. Insoweit führt der VGH München unter Bezugnahme auf
den Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006 (S. 38 f.) lediglich den Fall
von drei Männern an, die unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer verbotenen,
bewaffneten Vereinigung verhaftet worden seien. Zudem finden sich in dem zitierten
Memorial-Jahresbericht keinerlei Angaben zu einer Beteiligung der Männer an einem der
Tschetschenienkriege. Es wird nur ausgeführt, einer der drei Männer sei bereits 2003
wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande inhaftiert, aber
schließlich mit einer Art „Persilbescheinigung“ des örtlichen Chefs der Kriminalpolizei
freigelassen worden, und der andere habe 1996 eine heute noch vorhandene
Splitterwunde erlitten. Gegen diese Ansicht spricht auch, dass nach der Ausarbeitung
der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 1. Januar 2007 (S. 5) unter den vielen
Übergelaufenen, die von der jüngsten im September 2006 verkündeten Amnestie für
Widerstandskämpfer Gebrauch gemacht haben (nach der Ausarbeitung des
schweizerischen Bundesamtes zur Amnestie in Tschetschenien vom 19. März 2007, zu
3., etwa 500 Personen; davon 200 als aktive Kämpfer geltende Personen, von denen 8
auf der nationalen Fahndungsliste gestanden haben), im Wesentlichen (nur) solche
Kämpfer gewesen sein sollen, die zuletzt im 1. Tschetschenien-Krieg gekämpft hatten.
Diese (früheren) Kämpfer aus dem 1. Tschetschenien-Krieg haben also offenbar kein
besonderes Gefährdungspotential (mehr) für sich gesehen. Ein solches ergibt sich auch
nicht aus demAmnestie-Papier des IHF vom 16. Mai 2007, wonach amnestierte
Tschetschenen in nicht geringer Zahl gewaltsam entführt und gefoltert worden sein
sollen. In dem IHF-Papier werden nur drei Fälle von Kämpfern, die auf der Seite der
Separatisten (nur) am ersten Tschetschenien-Krieg teilgenommen haben, geschildert
(S. 13 f. und S. 34 ff.), die zudem einige Jahre (Oktober 2004, März 2005 und Mai 2005)
zurückliegen.
Die Kläger gehören nicht der o.g. „Risikogruppe“ an, auf die die vorstehenden
Ausführungen möglicherweise nicht oder nur eingeschränkt anwendbar sind.
C. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes
nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG i.V.m. Artikel 4 Abs. 4, Artikel 5 Abs. 1 und 2 und Artikel
6 bis 8 der Qualifikationsrichtlinie, die nach § 60 Abs. 11 AufenthG für die Feststellung
von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 gelten.
1. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG liegen nicht vor. Nach dieser
Vorschrift, die Artikel 15 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie umsetzt (vgl. BT-Drs.
16/5065 S. 186) und Artikel 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBI. 1952 II S. 685) – EMRK – entspricht, darf ein
Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr
besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Bestrafung unterworfen zu werden. Die allgemeinen Lebensbedingungen in der
Russischen Föderation sind keine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ in
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Russischen Föderation sind keine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ in
diesem Sinne. Wie die Stellung dieses Merkmals in der Reihe zwischen „Folter“ und
„Bestrafung“ zeigt, bedarf es für deren Annahme eines vorsätzlichen, auf eine
bestimmte Person zielenden Handelns. Daran fehlt es hier. Artikel 3 EMRK schützt
ebenso wie das Asylrecht nicht vor den allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen,
Bürgerkriegen und anderen bewaffneten Konflikten und erst recht nicht vor den Folgen
einer allgemein schlechten Versorgungslage im Heimatland (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.
September 1997 – 9 C 48.96 – InfAuslR 1998, 125 m.w.N.; VGH München, Urteil vom 26.
Januar 2007 – 9 B 01.30309 – Juris). Selbst wenn auch in menschenunwürdigen
Verhältnissen („circumstances“) eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im
Sinne des Art. 3 EMRK zu sehen sein sollte, unterschieden sich die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 2 AufenthG insoweit nicht von den zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG genannten
(dazu nachfolgend). Der Gefährdungsgrad ist im Ansatz kein anderer als der im
asylrechtlichen Prognosestab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegte (vgl. VGH
München, Urteil vom 26. Januar 2007, a.a.O.). Es bedürfte also auch hier einer beachtlich
wahrscheinlichen Gefahr einer in diesem Sinne unmenschlichen Behandlung, die sich
aber – wie ausgeführt – bei den Klägern nicht feststellen lässt.
2. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 AufenthG liegen nicht vor. Diese Vorschrift,
die Artikel 15 Buchstabe a der Qualifikationsrichtlinie umsetzt (vgl. BT-Drs. 16/5065 S.
186), verbietet die Abschiebung, wenn der Staat, in den der Ausländer abgeschoben
werden soll, diesen wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der
Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Anhaltspunkte hierfür sind weder ersichtlich noch
vorgetragen.
3. Die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liegen
ebenfalls nicht vor. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich
aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Hierfür ist
nichts ersichtlich, zumal Verletzungen im Sinne von Artikel 3 EMRK bereits im Rahmen
des § 60 Abs. 2 AufenthG/Artikel 15 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie geprüft
worden sind.
4. Schließlich lässt sich auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG
feststellen. Nach Satz 1 der Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in
einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Von der Abschiebung eines
Ausländers in einen anderen Staat ist abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der
Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen
eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist (Satz 2
der Vorschrift). Gefahren nach Satz 1 oder Satz 2, denen die Bevölkerung oder die
Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei
Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen (Satz 3 der Vorschrift). Eine
derartige Anordnung hinsichtlich der Russischen Föderation hat die hier zuständige
oberste Landesbehörde nicht getroffen.
a. Auf Grund der zuvor dargestellten Situation in Tschetschenien kann selbst in diesem
Landesteil der Russischen Föderation nicht (mehr) von einer Konfliktlage im Sinne des
Satzes 2 der Vorschrift (vgl. zu dem Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts
VGH Kassel, Urteil vom 9. November 2006 – 3 UE 3238/03.A – Juris) ausgegangen
werden. Nach der Auskunft von Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007
(S. 15 ff.) ist die Gefahr von Übergriffen tschetschenischer Rebellen auf friedliche,
„unbeteiligte“ Bürger als sehr gering einzuschätzen, da die Rebellen lediglich noch aus
dem Untergrund aktiv sind. Daher kommt bei den Klägern das hier in Rede stehende
Abschiebungsverbot unabhängig davon nicht in Betracht, dass Gefahren für Leib und
Leben im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes, denen die Bevölkerung oder die
Bevölkerungsgruppe, der ein Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, einen
Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes ohne eine Anordnung der
obersten Landesbehörde (vgl. §§ 60 Abs. 7 Satz 3, 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) nur zu
begründen vermögen, wenn der Ausländer sonst sehenden Auges einer extremen
Leibes- oder Lebensgefahr ausgesetzt würde.
b. Auch die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind im Falle der Kläger
nicht erfüllt.
Da § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG keine Norm der Qualifikationsrichtlinie umsetzt (vgl. BT-
Drs. 16/5065 S. 187: nur Satz 2), in § 60 Abs. 11 AufenthG nicht erwähnt wird und
tatbestandlich dem früheren § 53 Abs. 6 AusIG entspricht, kann weiterhin auf die hierzu
ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgestellt werden (vgl.
BVerwG, Beschluss vom 23. August 2006 – 1 B 60.06 – juris). Danach sind Gefahren,
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BVerwG, Beschluss vom 23. August 2006 – 1 B 60.06 – juris). Danach sind Gefahren,
denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört,
allgemein ausgesetzt ist, vorrangig bei Anordnungen der obersten Landesbehörde nach
§ 60 a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Solche allgemeinen Gefahren können auch
dann keine Abschiebungshindernisse nach Satz 1 begründen, wenn sie den Ausländer
konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Die Anwendbarkeit des Satz 1 im
Verfahren eines einzelnen Ausländers ist vielmehr „gesperrt“, wenn dieselbe Gefahr
zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht (vgl. BVerwG,
Urteil vom 12. Juli 2001 – 1 C 2.01 – BVerwGE 114, 379, 382 zu § 53 Abs. 6 AuslG). Dies
gilt selbst dann, wenn die Gefahren durch Umstände in der Person oder in den
Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber letztlich
gleichwohl nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (vgl. BVerwG,
Urteil vom 8. Dezember 1998 – 9 C 4.98 – BVerwGE 108, 77, 82 zu § 53 Abs. 6 Satz 1
AuslG).
Ausländer, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die ein Abschiebestopp nicht
besteht, können jedoch ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung
in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 53 Abs. 6 Satz
1 AusIG) erhalten, wenn keine anderen Abschiebungshindernisse nach § 60 AufenthG (§
53 AusIG) gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzen würde. Dies
ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen
Gefahrenlage ausgesetzt wäre, weil er im Falle seiner Abschiebung dorthin „gleichsam
sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein
würde", und ein anderweitiger Schutz, der dem aufgrund eines Erlasses nach § 60 a Abs.
1 AufenthG gewährten Schutz entspricht, nicht besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli
2001, a.a.O., S. 382 ff.). Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer individuellen Abschiebungsschutz zu
gewähren (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998, a.a.O.).
An diesen Maßstäben hat sich weder mit dem Zuwanderungsgesetz etwas geändert
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2006, a.a.O.) noch mit der
Qualifikationsrichtlinie (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 8. August 2007 – A 2 S
229/07 – Juris; OVG Schleswig, Beschluss vom 22. Dezember 2006 – 1 LA 125/06 – Juris).
Die Gefahr, dass sich eine ernsthafte Erkrankung des ausreisepflichtigen Ausländers in
seinem Heimatstaat aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, ist
in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Erforderlich aber auch ausreichend für das
Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift ist, dass sich die vorhandene
Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise
verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt.
Erheblich ist eine Gesundheitsgefahr, wenn die Umstände eine
Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität erwarten lassen, d.h. wenn sich
der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde.
Konkret ist eine Gesundheitsgefahr, wenn die (wesentliche oder gar lebensbedrohliche)
Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht.
Zielstaatsbezogene Umstände sind insbesondere unzureichende
Behandlungsmöglichkeiten im Heimatstaat oder wenn die notwendige, an sich
vorhandene ärztliche Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer im
Einzelfall aus bestimmten finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht
zugänglich ist.
Ein strengerer Maßstab gilt in Krankheitsfällen ausnahmsweise nur dann, wenn
zielstaatsbezogene Verschlimmerungen von Krankheiten als allgemeine Gefahr oder
Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG zu qualifizieren sind. Dies
kommt allerdings bei Erkrankungen nur in Betracht, wenn es – etwa bei Aids – um eine
große Anzahl Betroffener im Zielstaat geht und deshalb ein Bedürfnis für eine
ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht. In solchen
Fällen kann Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in
verfassungskonformer Anwendung nur dann gewährt werden, wenn im
Abschiebezielstaat für den Ausländer (entweder aufgrund der allgemeinen Verhältnisse
oder aufgrund von Besonderheiten im Einzelfall) landesweit eine extrem zugespitzte
Gefahr wegen einer notwendigen, aber nicht erlangbaren medizinischen Versorgung zu
erwarten ist, d.h. wenn der betroffene Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam
sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. zum
Vorstehenden BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 2004 – 1 C 14.04 – BVerwGE 122, 271,
284, und vom 17. Oktober 2006 – 1 B 18.05 – DVBl. 2007, 254).
Nach diesen Maßstäben bestünde für die Kläger mit Blick auf die allgemeinen
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Nach diesen Maßstäben bestünde für die Kläger mit Blick auf die allgemeinen
Lebensbedingungen für in der Russischen Föderation lebende Tschetschenen nach den
vorangegangenen Ausführungen zur inländischen Fluchtalternative im Falle einer
Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
erfasste Gefahrenlage.
(1) Eine solche besteht insbesondere nicht auf Grund einer schlechten (allgemeinen)
Versorgungslage in der Russischen Föderation. Insoweit gilt der Maßstab einer extremen
Gefahrenlage, d.h. die Kläger müssten im Falle ihrer Abschiebung in die Russische
Föderation wegen der dortigen Versorgungslage „gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein". Hieran fehlt es angesichts
der obigen Ausführungen, dass das Existenzminimum (rückkehrender)
tschetschenischer Flüchtlinge gesichert ist.
(2) Ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt auch nicht
wegen einer etwaigen Verschlimmerung einer bereits im Bundesgebiet bestehenden
Erkrankung in Betracht, da sich die Kläger hierauf schon nicht berufen und solches auch
sonst nicht ersichtlich ist.
D. Die Abschiebungsandrohung entspricht den gesetzlichen Anforderungen nach § 34
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 50 AuslG, nunmehr § 59 Abs. 1 bis 3 AufenthG (§ 102 Abs.
1 Satz 1 AufenthG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1VwGO.
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