Urteil des VG Berlin vom 14.03.2017

VG Berlin: glaubensfreiheit, schule, neutralität, schüler, eltern, staat, zusammenleben, bekenntnisfreiheit, erlass, islam

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Gericht:
VG Berlin 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 A 983.07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 4 Abs 1 GG, Art 4 Abs 2 GG,
Art 7 Abs 1 GG, § 123 Abs 1 S 1
VwGO, § 154 Abs 1 VwGO
Antrag auf einstweilige Anordnung zur Verrichtung des
islamisches Gebets in der Schulpause
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem
Antragsteller vorläufig zu gestatten, auf dem Gelände des D.-Gymnasiums außerhalb
der Unterrichtszeit einmal täglich sein islamisches Gebet zu verrichten.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der 14-jährige Antragsteller besucht seit dem Schuljahr 2007/2008 das D.-Gymnasium.
Er ist muslimischen Glaubens, sieht sich nach seinem Glaubensbekenntnis verpflichtet,
fünfmal täglich zu festgelegten Zeiten das islamische Gebet zu verrichten und praktiziert
dies nach seinem Vortrag auch so.
Nachdem der Antragsteller am 1. November 2007 zusammen mit sieben weiteren
Schülern - nach eigenen Angaben etwa 10 Minuten lang - während einer
Unterrichtspause in der Ecke eines Flures des Schulgebäudes betete und hierbei von
anderen Schülern beobachtet wurde, wandte sich die Schulleitung mit Schreiben vom 2.
November 2007 an dessen Eltern und wies unter anderem darauf hin, dass an
öffentlichen Schulen in Deutschland religiöse Bekundungen nicht erlaubt seien. Die
Schule habe vielmehr dafür Sorge zu tragen, dass das Neutralitätsgebot des Staates in
dessen Einrichtungen Durchsetzung finde. Religiöse Bekundungen gehörten daher in den
privaten Raum.
Nachdem ein Gespräch zwischen der Schulleitung und den Eltern des Antragstellers
nicht zu einer Lösung führte, hat der Antragsteller Klage erhoben und den Erlass einer
einstweiligen Anordnung beantragt. Er begehrt, bis zu einer Entscheidung in der
Hauptsache einmal täglich in einer Unterrichtspause bzw. in einer Freistunde das
islamische Gebet verrichten zu dürfen.
Der Antragsgegner tritt dem Begehren entgegen und beruft sich darauf, dass die
Glaubensfreiheit des Antragstellers nicht berührt sei, da er das Gebet nach eigenem
Vortrag grundsätzlich auch nachholen könne. Das durch ihn praktizierte Gebet stelle
eine Demonstration religiöser Riten bzw. eine Werbung für seinen Glauben dar, die nicht
zu dulden sei, weil die negative Religionsfreiheit der Mitschüler verletzt werde.
II.
Der nach Auslegung des Antragsbegehrens sinngemäß dem Tenor entsprechende
Rechtsschutzantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO hat Erfolg. Da das Schreiben der
Schulleitung vom 2. November 2007 keine unmittelbare Regelungswirkung beinhaltet
und damit keinen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG darstellt, kam ein Verfahren nach §
80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht. Der Antragsteller hat sowohl einen
Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
1. Die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Dringlichkeit ergibt sich
daraus, dass es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, bis zur Entscheidung über seine
Klage seiner Gebetspflicht nicht in dem Maße nachkommen zu können, wie er sie für sich
als verbindlich ansieht.
2. Der Antragsteller hat nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen
und erforderlichen summarischen Prüfung glaubhaft gemacht (§ 920 Abs. 2 i.V.m. § 294
ZPO), dass er aufgrund der ihm durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG verbürgten
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ZPO), dass er aufgrund der ihm durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG verbürgten
Glaubensfreiheit verlangen kann, auch während des Schulbesuchs, jedoch außerhalb der
Unterrichtszeit, auf dem Schulgelände einmal täglich das islamische Gebet zu
verrichten.
a) Art. 4 GG garantiert - vorbehaltlos - in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des
Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das
Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein
umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (vgl. BVerfGE 24, 236, 245 f.; 32,
98, 106; 44, 37, 49; 83, 341, 354). Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu
glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu
bekunden. Hierzu gehört insbesondere auch das Beten (vgl. BVerfGE 24, 236, 246).
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist das Recht zu beten nicht nur insoweit
geschützt, als es sich um ein stilles, persönliches und unauffälliges Gebet handelt.
Spannungen zwischen der Glaubensfreiheit und mit dieser in Widerstreit tretenden
anderen Verfassungsgütern sind im Einzelfall durch Güterabwägung im Sinne einer
praktischen Konkordanz zu lösen (vgl. BVerfGE 52, 223; BVerwGE 44, 196).
b) Der Antragsteller trägt glaubhaft vor, dass die Gebetspflicht, die bekanntermaßen zu
den „fünf Säulen des Islam“ gehört (vgl. Enzyklopädie Wikipedia, Portal Islam; zum
muslimischen Gebet auch:,,Das Gebet in Bibel und Koran – ein Vergleich“ von Dr.
Christine Schirrmacher, (http://efg-
hohenstaufenstr.de/downloads/texte/islam_gebet.html), und die Beachtung der
vorgeschriebenen Gebetszeiten nach seiner Glaubensüberzeugung für ihn einen hohen
Stellenwert habe. Entscheidend ist, dass der Antragsteller es nach seinem insoweit
plausiblen Vortrag für sich als verbindlich ansieht, zumindest eines dieser Gebete
während des Schultages zu verrichten. Dem Staat ist es verwehrt, derartige
Glaubensüberzeugungen zu bewerten, bzw. von dem Betreffenden als verbindlich
angesehene Glaubensgebote in Frage zu stellen (vgl. BVerfGE 33, 32, 30). Der
Antragsgegner darf den Antragsteller daher nicht generell darauf verweisen, dass der
islamische Glaube ausnahmsweise auch eine Abweichung von den festgelegten
Gebetszeiten zulasse.
c) Der Verzicht auf das Gebet kann dem Antragsteller auch nicht im Hinblick auf
diejenigen Beschränkungen abverlangt werden, denen auch die - grundsätzlich
vorbehaltlos garantierte - Glaubensfreiheit unterliegt. Die Glaubensfreiheit nach Art. 4
GG erfährt Einschränkungen allein durch die Verfassung selbst. Diese Einschränkungen
können sich aus entgegenstehenden Grundrechten Dritter sowie Gemeinschaftswerten
von Verfassungsrang ergeben (vgl. bereits BVerfGE 28, 243, 260 f.). Weder aus dem mit
Verfassungsrang ausgestatteten staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7
Abs. 1 GG) noch aus der negativen Bekenntnisfreiheit der Mitschüler des Antragstellers
(Art. 4 Abs. 1 GG) und deren Eltern sowie deren elterlichem Erziehungsrecht (Art. 6 Abs.
2 GG) ergeben sich Beschränkungen, aufgrund deren dem Antragsteller das Beten in
dem von ihm begehrten Umfang untersagt werden dürfte.
d) Eine konkrete und nicht hinnehmbare Beeinträchtigung des Bildungs- und
Erziehungsauftrags und des Schulbetriebes hat der Antragsgegner nicht dargelegt.
Insbesondere ergibt sich aus seinem Vorbringen nicht, dass Mitschüler oder Angehörige
des Lehrpersonals der Verrichtung des Gebets durch den Antragsteller unentziehbar
ausgesetzt wären, selbst wenn sich ihm einzelne Mitschüler anschließen sollten.
Ersichtlich ist auch nicht, dass es dem Antragsgegner unmöglich wäre, durch
entsprechende organisatorische Vorkehrungen und in Absprache mit dem Antragsteller
zumutbare Bedingungen zu schaffen, die dem Antragsteller ein ungestörtes Beten in
einem für andere nicht ohne weiteres zugänglichen Bereich des Schulgeländes
ermöglichen und so der von ihm gesehenen Gefahr einer demonstrativen bzw.
werbenden Präsentation des Gebets zu begegnen.
e) Nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung ist eine Beeinträchtigung des
Schulbetriebes auch nicht im Zusammenhang damit zu erkennen, dass die Schule
verpflichtet ist, die negative Bekenntnisfreiheit der anderen Schüler zu gewährleisten.
Insbesondere gebietet es die dem Staat obliegenden Pflicht zu weltanschaulich-religiöser
Neutralität der Schule nicht, religiöse Bekundungen von Schülern generell zu
unterbinden. Zum friedlichen Zusammenleben in einer bekenntnisfreien Schule gehört
es vielmehr, dass die Schüler lernen, die religiöse Überzeugung anderer zu tolerieren
und zu respektieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. November 1973 – VII C 59.72 -
BVerwGE 44, 196, 200).Es ist nicht Aufgabe heutiger Schulen, Kindern den Eindruck einer
„geschlossenen Welt“ zu vermitteln, die es in Wirklichkeit nicht mehr gibt (vgl.
Böckenförde, „Kopftuchstreit“ auf dem richtigen Weg?, NJW 2001, 723).
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Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist ohnehin nicht als eine
distanzierende, weltanschaulich-religiöse Bezüge strikt abweisende, sondern als eine
offene und übergreifende Neutralität zu verstehen (Böckenförde a.a.O., S. 725). Art. 4
Abs. 1 und 2 GG gebietet auch in positivem Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der
Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf
weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (vgl. BVerfGE 41, 29, 49; 93, 1, 16). Diese
Form der offenen, übergreifenden Neutralität liegt im Übrigen auch den im Berliner
Schulgesetz festgelegten Bildungs- und Erziehungszielen zugrunde, wonach Schüler
unter anderem befähigt werden sollen, ,,die eigene Kultur sowie andere Kulturen kennen
zu lernen und zu verstehen, Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung
vorurteilsfrei zu begegnen, zum friedlichen Zusammenleben der Kulturen durch die
Entwicklung von interkultureller Kompetenz beizutragen und für […] die Würde aller
Menschen einzutreten“ (§ 3 Abs. 3 Nr. 3 SchulG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf
§§ 39 ff., 52 f. GKG (Hälfte des Auffangstreitwertes).
Im Hinblick auf die Kostenentscheidung bedurfte es keiner Entscheidung über den
Prozesskostenhilfeantrag.
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