Urteil des VG Berlin vom 14.03.2017

VG Berlin: getrennt lebender ehegatte, erlöschen, altersgrenze, ausreise, aufenthaltserlaubnis, hauptsache, hauptwohnung, anschrift, sozialhilfe, pass

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Gericht:
VG Berlin 20.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
20 K 29.10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 41 Abs 1 Abs 2 S 1 SGB 12, §
42 S 1 Nr 1 SGB 12, § 42 S 1 Nr
2 SGB 12, § 42 S 1 Nr 3 SGB 12,
§ 30 Abs 1 Nr 1 SGB 12
Erlöschen des Aufenthaltstitels nach langer Ausreise und Frage
des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Niederlassungserlaubnis des Klägers nicht erloschen ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des
aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages
leisten.
Tatbestand
Die Kläger sind türkische Staatsangehörige. Sie wenden sich gegen die
Ungültigstempelung ihrer Aufenthaltstitel.
Der Kläger reiste 1964 zum Zweck der Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik
Deutschland ein und lebte und arbeitete zunächst in verschiedenen Orten, seit 1968 in
Berlin. Seit 1974 war er als Gartenarbeiter beim Bezirksamt Charlottenburg von Berlin
beschäftigt. Ihm wurden zunächst befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt. Am 21.
Oktober 1976 erhielt er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Am 22. Oktober 1981
wurde ihm eine Aufenthaltsberechtigung erteilt, die 1992 in einen neuen Pass
übertragen wurde. Der Kläger bezieht seit 1. Mai 1997 eine Rente.
Die Klägerin, die Ehefrau des Klägers, reiste im Dezember 1979 nach Deutschland
(Berlin) ein und erhielt zunächst befristete Aufenthaltserlaubnisse. Am 17. September
1987 wurde ihr eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Diese wurde am 20.
Oktober 1988 in einen neuen Pass übertragen. Die Klägerin bezog bis zum Erreichen der
Altersgrenze Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs –
Grundsicherung für Arbeitssuchende –, seit Vollendung des 65. Lebensjahres am 22.
Februar 2010 erhält sie Leistungen nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs –
Sozialhilfe –.
In einem Vermerk des Landeseinwohneramtes Berlin vom 8. Dezember 1999 heißt es:
„Abmeldung erfolgte am 31.5.99 nach Türkei“. In den folgenden Jahren meldeten beide
Kläger jeweils bei der Meldestelle die Verlängerung der Gültigkeitsdauer ihrer Reisepässe
durch das Türkische Generalkonsulat Berlin. Nach einer Meldebescheinigung des
Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin vom Dezember 2003 waren bis zu
diesem Zeitpunkt der Kläger jedenfalls seit März 1976, die Klägerin seit Dezember 1979
durchgehend in Berlin mit Hauptwohnung gemeldet. Im November 2006 bescheinigte
das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten auf eine Anfrage des
Versorgungsamtes zur Entscheidung über einen Antrag nach dem
Schwerbehindertenrecht, dass sich der Kläger rechtmäßig im Land Berlin aufhalte und
im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis (Aufenthaltsberechtigung) sei. In
zwei Computerausdrucken ohne Datum ist als alte Hauptwohnung der Kläger seit 31.
Mai 1999 Catalpinar, davor eine Anschrift in Berlin und seit 7. Februar 2007 die im
Rubrum bezeichnete Anschrift angegeben.
Anlässlich einer Passkontrolle am Flughafen Tegel wurde am 11. Dezember 2009
festgestellt, dass sich in den Pässen der Kläger noch alte unbefristete Aufenthaltstitel
befanden. Diese wurden auf Hinweis des Landesamtes für Bürger- und
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befanden. Diese wurden auf Hinweis des Landesamtes für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten ungültig gestempelt.
Nach einer Meldebescheinigung des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin
vom 7. Januar 2010 waren die Kläger durchgehend jedenfalls seit März 1976 bzw.
Dezember 1979 unter verschiedenen Anschriften in Berlin-Kreuzberg mit Hauptwohnung
gemeldet und sind seit 7. Februar 2007 mit dem Status „alleinige Wohnung“ unter ihrer
im Rubrum angegebenen Anschrift gemeldet.
Mit Schreiben vom 11. Januar 2010 legte der Prozessbevollmächtigte der Kläger
Widerspruch gegen die Ungültigstempelung ein und beantragte die erneute Eintragung
der Aufenthaltstitel.
Das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten teilte den Klägern mit
Schreiben vom 26. Januar 2010 mit, dass ein Widerspruch nicht möglich sei, weil der
Erlöschenstatbestand kraft Gesetzes eintrete. Es bat zugleich um Vorlage einer
Bescheinigung der Sicherheitsdirektion über Ein- und Ausreisen in die Türkei.
Die Kläger haben am 27. Januar 2010 Klage erhoben und am 22. Februar 2010 die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Das vorläufige Rechtsschutzverfahren
(VG 20 L 60.10) wurde übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt, nachdem
der Antragsgegner die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht ausgesetzt und
Bescheinigungen L 4048 ausgestellt hatte.
Aus den von den Klägern im Klageverfahren übersandten Bescheinigungen der
türkischen Sicherheitsdirektion über die Ein- und Ausreisen geht hervor, dass der Kläger
im Jahr 2009 nach seiner Ausreise in die Türkei am 19. März 2009 erst am 10. Oktober
2009 wieder nach Deutschland eingereist ist. Die Klägerin reiste am 3. Mai 2009 in die
Türkei aus und am 10. Oktober 2009 wieder nach Deutschland ein.
Nachdem der Beklagte mitgeteilt hatte, dass die Niederlassungserlaubnis der Klägerin
weiterhin Bestand habe, haben die Beteiligten den Rechtsstreit insoweit
übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die Niederlassungserlaubnis
wurde am 9. November 2010 in den Pass der Klägerin eingetragen.
Der Kläger trägt zur Begründung vor, dass es sich bei der Ungültigstempelung um einen
Widerruf der Aufenthaltserlaubnis handele, der rechtswidrig sei. Denn er habe – ebenso
wie seine Ehefrau – fortdauernd in Berlin gelebt, wie sich aus den Meldebescheinigungen
ergebe. Im Jahr 2009 habe er sich deswegen länger als sechs Monate in der Türkei
aufgehalten, weil seine erst später in die Türkei gereiste Ehefrau dort erkrankt sei und
nicht – wie ursprünglich geplant – früher habe zurückreisen können. Er habe sie aus
gesundheitlichen Gründen begleiten müssen. Zum Beleg der Erkrankung und
Reiseunfähigkeit seiner Ehefrau legt der Kläger zwei Atteste des Staatlichen
Krankenhauses E. vom 7. September 2009 und 5. Oktober 2009 vor, in denen die
Unzulässigkeit einer Flugreise für die Dauer von 25 bzw. zehn Tagen bescheinigt wird.
Der Kläger meint, dass seine Aufenthaltsberechtigung nicht erloschen sei, weil sein
Lebensunterhalt aufgrund der Rentenzahlung gesichert sei und er keine Sozialleistungen
in Anspruch nehme und dies auch noch nie getan habe.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich nur noch,
den Widerruf des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom
11. Dezember 2009, mit dem ihm die Aufenthaltsberechtigung widerrufen wurde,
aufzuheben;
vorsorglich hilfsweise,
festzustellen, dass seine Aufenthaltsberechtigung nicht erloschen ist.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass die als Niederlassungserlaubnis fortgeltende
Aufenthaltsberechtigung des Klägers gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) erloschen sei, weil er bei seinem Aufenthalt in der Türkei im Jahr 2009 nicht
innerhalb von sechs Monaten wieder eingereist sei. Da dessen Lebensunterhalt bei einer
wertenden Gesamtbetrachtung nicht gesichert sei, liege auch kein Fall des § 51 Abs. 2
Satz 1 AufenthG vor. Im Rahmen der Lebensunterhaltssicherung seien auch die
Unterhaltspflichten gegenüber einem Ehegatten sowie Kindern unabhängig von den
sozialgesetzlichen Regelungen zu berücksichtigen. Der Lebensunterhalt werde dann
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sozialgesetzlichen Regelungen zu berücksichtigen. Der Lebensunterhalt werde dann
nicht als gesichert angesehen, wenn nicht der einheitlich zu betrachtende Gesamtbedarf
der Familie als gesichert angesehen werden könne. Auch § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG
spreche dafür, dass Unterhaltspflichten im Rahmen der Lebensunterhaltssicherung zu
berücksichtigen seien. Aus §§ 1360, 1360a des Bürgerlichen Gesetzbuchs ergebe sich
ebenfalls, dass bei Familien der Unterhaltsbedarf einheitlich zu betrachten sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte, die
Verwaltungsvorgänge des Beklagten (2 Ausländerakten) und die Akten des vorläufigen
Rechtsschutzverfahrens (VG 20 L 60.10) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Über die Klage kann gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne
mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entschieden werden, weil sich die
Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.
Die mit dem Hauptantrag erhobene, auf die Aufhebung eines Widerrufs gerichtete
Anfechtungsklage ist unzulässig. Nach § 42 Abs. 1 VwGO setzt die Anfechtungsklage
voraus, dass ein belastender Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) erlassen wurde. Daran fehlt es im vorliegenden
Fall, da keine Maßnahme zur Regelung eines Einzelfalls getroffen wurde. Das Erlöschen
des Aufenthaltstitels tritt nach § 51 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vielmehr
kraft Gesetzes ein, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.
Eines zusätzlichen Verwaltungsakts, der das Erlöschen feststellt, bedarf es nicht
(Schäfer in GK-AufenthG, II-§ 51, Rdnr. 17). Ein solcher ist vorliegend auch nicht erlassen
worden. Wie sich aus den vorliegenden Unterlagen, insbesondere dem Schreiben des
Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 11. Dezember 2009 und
der Sachverhaltsdarstellung in der Strafanzeige der Bundespolizeidirektion Berlin –
Bundespolizeiinspektion Flughafen Berlin-Tegel – vom 16. Dezember 2009, ergibt, ging
die Ausländerbehörde Berlin davon aus, dass der Aufenthaltstitel gemäß § 51 Abs. 1 Nr.
6, 7 AufenthG seit dem 1. Dezember 1999 kraft Gesetzes erloschen war. Mit der
Ungültigstempelung sollte keine Rechtsfolge verbindlich festgestellt, sondern nur
kenntlich gemacht werden, dass der Aufenthaltstitel bereits erloschen war, um den
durch den Titel erweckten Anschein eines rechtmäßigen Aufenthalts zu beseitigen (vgl.
VG Kassel, Beschluss vom 14. November 2003 – 4 G 2593/03 –, zitiert nach juris; vgl.
auch BVerwG, Urteil vom 20. November 1990 – 1 C 8/89 –, zitiert nach juris). Etwas
anderes folgt auch nicht daraus, dass das Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten seine Annahme nach Vorlage weiterer Unterlagen nunmehr
auf andere tatsächliche Umstände stützt.
Die mit dem Hilfsantrag erhobene Feststellungsklage ist zulässig. Sie ist nach § 43 Abs.
1 VwGO statthaft, weil die Beteiligten darüber streiten, ob die Niederlassungserlaubnis
des Klägers gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG kraft Gesetzes erloschen ist. Das
erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass der Kläger Rechtssicherheit
darüber haben muss, ob sein gefestigtes Aufenthaltsrecht fortbesteht und er sich noch
rechtmäßig in Deutschland aufhält (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 1990 – 1 C
8/89 –, zitiert nach juris; VG Oldenburg, Urteil vom 5. Februar 2010 – 11 A 2543/08 –,
zitiert nach juris).
Die Feststellungsklage ist auch begründet. Denn die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1
AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltende Aufenthaltsberechtigung des Klägers
ist nicht erloschen. Das Erlöschen eines Aufenthaltstitels bestimmt sich nach § 51
AufenthG. In Betracht kommt vorliegend allein ein Erlöschen nach § 51 Abs. 1 Nr. 7
AufenthG, da der Kläger bei seiner Ausreise (wie bereits bei den früheren Reisen) aus
einem seiner Natur nach vorübergehenden Grund ausgereist ist, so dass § 51 Abs. 1 Nr.
6 AufenthG bereits deshalb nicht greift. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erlischt der
Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer ausgereist ist und nicht innerhalb von sechs
Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder
eingereist ist. Dies war allerdings vorliegend der Fall. Denn der Kläger war am 19. März
2009 in die Türkei eingereist. Er war aber – nach eigenen Angaben anders als geplant –
erst nach Ablauf von sechs Monaten am 10. Oktober 2009 wieder aus der Türkei
ausgereist. Eine längere Frist war von der Ausländerbehörde nicht bestimmt und vom
Kläger auch nicht beantragt worden. Damit sind die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
Nr. 7 AufenthG gegeben. Auf die Gründe für die längere Abwesenheit kommt es nicht an
(Schäfer in GK-AufenthG, II-§ 51, Rdnr. 63, 71; VG Düsseldorf, Urteil vom 17. März 2010 –
7 K 5685/09 –, zitiert nach juris).
Vorliegend folgt jedoch aus § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, dass die
Niederlassungserlaubnis des Klägers gleichwohl nicht erloschen ist. Nach dieser
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Niederlassungserlaubnis des Klägers gleichwohl nicht erloschen ist. Nach dieser
Vorschrift erlöschen die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens
15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, sowie die
Niederlassungserlaubnis seines mit ihm in ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden
Ehegatten nicht nach Absatz 1 Nr. 6 und 7, wenn deren Lebensunterhalt gesichert ist
und kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 vorliegt.
Die genannten Ausweisungsgründe liegen nicht vor. Der Kläger erfüllt zudem die
zeitliche Voraussetzung des mindestens 15-jährigen rechtmäßigen Aufenthalts im
Bundesgebiet. Entgegen der vom Beklagten vertretenen Auffassung ist auch sein
Lebensunterhalt gesichert.
Im Rahmen der Prüfung nach § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt es darauf an, ob der
Lebensunterhalt desjenigen Ausländers gesichert ist, dessen Niederlassungserlaubnis
ansonsten erlöschen würde (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 3. Juni 2008 – AN 19 K
08.00166 –, zitiert nach juris; Schäfer in GK-AufenthG, II-§ 51, Rdnr. 81). Soweit in § 51
Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausgeführt ist, dass „deren Lebensunterhalt gesichert“ sein
muss, ist diese Formulierung (nur) auf den Fall bezogen, dass die
Niederlassungserlaubnisse beider Ehegatten sonst nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder 7
AufenthG erlöschen würden. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor, da im Falle der
Klägerin, deren unbefristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG
ebenfalls als Niederlassungserlaubnis fort galt, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr.
6 oder 7 AufenthG nicht gegeben waren. Auch der Beklagte geht inzwischen davon aus,
dass die Niederlassungserlaubnis der Klägerin weiterhin Bestand hat. Liegen – wie
vorliegend – nur die Voraussetzungen für das Erlöschen der Niederlassungserlaubnis
eines Ehegatten nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder 7 AufenthG vor, kann es ebenso wie in
Fällen, in denen das Erlöschen der Niederlassungserlaubnis eines unverheirateten
Ausländers zu prüfen ist, nur darauf ankommen, ob sein Lebensunterhalt gesichert ist.
Denn die den Ehegatten betreffende Regelung in § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG enthält
eine Privilegierung, weil er keinen Voraufenthalt bestimmter Dauer aufweisen muss
(Renner-Dienelt, Ausländerrecht Kommentar, 9. Auflage 2011, § 51 AufenthG, Rdnr. 19;
vgl. auch Schäfer in GK-AufenthG, II-§ 51, Rdnr. 80, der ebenfalls von einer Privilegierung
des Ehegatten spricht). Durch die erleichterten Voraussetzungen soll verhindert werden,
dass einer der in ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Ehegatten bei gleichlanger
Abwesenheit seine Niederlassungserlaubnis verliert, während die
Niederlassungserlaubnis des anderen fort gilt. Damit wäre es nicht vereinbar, wenn in
einem Fall wie dem vorliegenden für den nur einen von dem möglichen Erlöschen
betroffenen Ehegatten eine Verschärfung der Ausnahmevoraussetzungen eintritt.
Anderenfalls würde er infolge der Eheschließung schlechter gestellt (vgl. dazu BVerfG,
Beschluss vom 11. Mai 2007 – 2 BvR 2483/06 –, zitiert nach juris). Diese auf den jeweils
von dem möglichen Erlöschen betroffenen Ehegatten bezogene Auslegung erscheint
auch deswegen sachgerecht, weil im Falle des ohnehin gegebenen Fortbestehens der
Niederlassungserlaubnis desjenigen Ehegatten, der Sozialleistungen bezieht, die
Belastung der öffentlichen Kassen nicht dadurch gemindert werden kann, dass der
andere Ehegatte seinen Aufenthaltstitel verliert.
Ein Wertungswiderspruch zur Regelung des § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG, wonach unter
anderem die Inanspruchnahme von Sozialhilfe für Familienangehörige oder sonstige
Haushaltsangehörige einen Ausweisungsgrund darstellt, besteht in Fällen des § 51 Abs.
2 Satz 1 AufenthG nicht, weil Inhaber einer Niederlassungserlaubnis, die sich seit
mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, nach § 56 Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießen. Nach dem Willen des
Gesetzgebers soll demnach der Aufenthalt von Inhabern einer Niederlassungserlaubnis
bereits nach 5-jährigem rechtmäßigem Aufenthalt nicht wegen (tatsächlichen)
Sozialhilfebezugs beendet werden. § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt demgegenüber
ohnehin erst bei einem 15-jährigen rechtmäßigem Aufenthalt in Betracht.
Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert,
wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne
Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz
2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel, u. a. solche, die auf Beitragsleistungen
beruhen, außer Betracht. Es bedarf der positiven Prognose, dass der Lebensunterhalt
des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel
gesichert ist. Dies erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit
den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Die Ermittlung des
Unterhaltsbedarfs und des zur Verfügung stehenden Einkommens richtet sich bei
erwerbsfähigen Ausländern nach den entsprechenden Bestimmungen des Zweiten
Buchs des Sozialgesetzbuchs – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II), bei nicht
erwerbsfähigen Ausländern nach den Bestimmungen des Zwölften Buchs des
Sozialgesetzbuchs – Sozialhilfe – (SGB XII).
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Die Prognose ist im Falle des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausgehend von den
Verhältnissen in dem Zeitpunkt, in dem ansonsten die Niederlassungserlaubnis
erloschen wäre, zu treffen. Denn vor diesem Zeitpunkt kann es keine Rolle spielen, ob
die Voraussetzungen, unter denen das Erlöschen nicht eintritt, gegeben sind, weil auch
ohne die Erfüllung der Voraussetzungen für den Ausnahmetatbestand die
Niederlassungserlaubnis fortbestehen würde. Nach diesem Zeitpunkt wäre die Folge des
Erlöschens bereits eingetreten, so dass nicht im Nachhinein ein „Nichterlöschen“
festgestellt werden könnte. Im Falle des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG ist maßgeblicher
Zeitpunkt demnach der Ablauf des sechsten Monats nach der Ausreise der Ausländers
(ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. März 2010 – 18 B 111/10 –, zitiert
nach juris; VG Ansbach, Urteil vom 25. Februar 2010 – AN 5 K 09.01143 –, zitiert nach
juris). Dies war vorliegend der 19. September 2009. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der
Wiedereinreise würde dazu führen, dass die Frage, ob der Aufenthaltstitel erloschen ist,
möglicherweise auch längere Zeit in der Schwebe bleibt. Dies ist mit dem Zweck der
Regelung, eine klare Aussage über das Bestehen oder Nichtbestehen eines
Aufenthaltstitels zu treffen und die eintretende Rechtsfolge berechenbar zu machen (vgl.
dazu OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010 – OVG 11 B 14.10 –),
nicht vereinbar.
Der Kläger hat bisher keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen. Ihm stand auch
im September 2009 kein Anspruch auf öffentliche Mittel im Sinne des § 2 Abs. 3
AufenthG zu. Er konnte weder einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II noch
nach dem SGB XII geltend machen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des
Umstandes, dass seine Ehefrau Leistungen nach dem SGB II bezog. Insoweit ist es
allerdings unerheblich, dass die Ehefrau des Klägers im September 2009 keinen
Anspruch auf Leistungen hatte, weil dies auf der Ortsabwesenheit, nicht auf fehlender
Hilfebedürftigkeit, beruhte und damit die Prognose künftiger Bedürftigkeit nicht
ausschloss. Ab dem 12. Oktober 2009 wurde ihr Anspruch dementsprechend wieder
anerkannt.
Der 1937 geborene Kläger hatte keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, weil
er bereits die Altersgrenze des § 7a Satz 1 SGB II erreicht hatte. Als nicht dauernd
getrennt lebender Ehegatte der im maßgeblichen Zeitpunkt erwerbsfähigen
hilfebedürftigen Klägerin gehörte er zwar gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe a SGB II zur
Bedarfsgemeinschaft. Unabhängig davon, dass nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II jede
Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf
als hilfebedürftig gilt, wenn in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus
eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist, fehlte für einen Anspruch des Klägers nach § 7
Abs. 1 SGB II auch unter Berücksichtigung seiner Zugehörigkeit zur
Bedarfsgemeinschaft die weitere Voraussetzung, dass der Berechtigte die Altersgrenze
noch nicht erreicht haben darf (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Nach § 7 Abs. 2 SBG II
erhalten zwar auch Personen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer
Bedarfsgemeinschaft leben, Leistungen nach dem SGB II. Der Kläger hatte aber nach § 7
Abs. 4 Satz 1 SGB II gleichwohl keinen eigenen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB
II. Danach erhält Leistungen nach diesem Buch unter anderem derjenige nicht, der
Rente wegen Alters bezieht. Bezieher von Altersrente haben vielmehr Anspruch auf
ergänzende Leistungen nach dem SGB XII, wenn die Rentenleistungen für die Deckung
des Lebensunterhalts nicht ausreichen (Oestreicher-Schumacher, SGB II/SGB XII,
Kommentar, § 7 SGB II, Rdnr. 30). Dass der Kläger nicht selbst als hilfebedürftig
angesehen wurde, wird durch die vorgelegten Bescheide über die Bewilligung von
Leistungen nach dem SGB II an die Klägerin bestätigt. Darin ist unter „Verteilung
Gesamtbedarf“ für ihn jeweils „0,00 Eur“ angegeben. Darüber hinaus ist diesen
Bescheiden zu entnehmen, dass das Einkommen des Klägers seinen Bedarf übersteigt.
Denn der seinen eigenen Bedarf übersteigende Anteil seines Einkommens wird bei der
„Verteilung Gesamteinkommen“ der Klägerin als „Unterhalt Einkommen“ angerechnet,
so dass sich dadurch ihr Bedarf mindert. Damit ist zugleich der Unterhaltsverpflichtung
des Klägers nach §§ 1360, 1360a BGB Genüge getan.
Dem Kläger stand auch kein Anspruch auf öffentliche Mittel nach dem SGB XII zu. In
Betracht kommt, da er die Altersgrenze des § 41 Abs. 2 Satz 2 SGB XII erreicht hatte,
ein Anspruch auf Grundsicherung im Alter. Der Bedarf bestimmt sich nach dem Umfang
der Leistungen der Grundsicherung im Alter gemäß § 42 SGB XII. Nach § 42 Satz 1 Nr. 1
und 2 SGB XII sind zunächst der für den Leistungsberechtigten maßgebende Regelsatz
nach § 28 und die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung entsprechend § 29
anzusetzen. Nach § 3 Abs. 3 der Regelsatzverordnung (RSV) beträgt der Regelsatz bei
zusammenlebenden Ehegatten oder Lebenspartnern jeweils 90 vom Hundert des
Eckregelsatzes. Dieser betrug seit dem 1. Juli 2009 359,00 Euro, so dass für den Kläger
ein Betrag von 323,00 Euro anzusetzen ist. Hinzu kommt die Hälfte der monatlichen
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ein Betrag von 323,00 Euro anzusetzen ist. Hinzu kommt die Hälfte der monatlichen
Miete (626,25 Euro), d. h. 313,13 Euro. Dies ergibt einen Betrag von 636,13 Euro. Nach §
42 Satz 1 Nr. 3 SGB XII umfassen die Leistungen der Grundsicherung im Alter auch
Mehrbedarfe entsprechend § 30 SGB XII. Nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII wird für
Personen, die die Altersgrenze erreicht haben und durch einen Bescheid der
zuständigen Behörde die Feststellung des Merkzeichens „G“ nachweisen, ein
Mehrbedarf von 17 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes anerkannt. Nach den
vorliegenden Unterlagen wurden mit Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und
Soziales Berlin – Landesversorgungsamtes – vom 12. Januar 2010 die Voraussetzungen
für die Eintragung des Merkzeichens „G“ festgestellt. Zudem wurde in diesem Bescheid
die Bezeichnung der Funktionsbeeinträchtigung ergänzt und der Grad der Behinderung
neu bewertet. Ob das Merkzeichen „G“ bereits in dem früheren Bescheid festgestellt
wurde, bedurfte keiner weiteren Aufklärung, weil auch bei Anrechnung des Mehrbedarfs
der Lebensunterhalt des Klägers gesichert ist. Der Mehrbedarf beläuft sich nämlich auf
17 % von 323,00 Euro = 54,91 Euro. Damit ergibt sich ein Gesamtbedarf von 691,04
Euro. Weitere anzuerkennende Bedarfe sind nicht ersichtlich. Die Beitragsanteile zur
Kranken- und Pflegeversicherung waren nicht gesondert in die Rechnung einzustellen,
weil sie bereits von der Rente einbehalten werden und damit bei der Ermittlung des
Einkommens abgezogen sind. Der so errechnete Bedarf wird durch die Rente des
Klägers, die im September 2009 netto 724,87 Euro betrug, gedeckt. Nach § 82 Abs. 2
und 3 SGB XII sind weitere Beträge vorliegend nicht vom Einkommen abzusetzen.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sich bis zum Zeitpunkt der Wiedereinreise des
Klägers am 10. Oktober 2009 nicht verändert. Der sich im Zeitpunkt der Ausreise des
Klägers am 19. März 2009 nach dem SGB XII ergebende Bedarf von 90 % von 351,00
Euro (= 316,00 Euro) zuzüglich (maximal) 313,13 Euro Miete und möglicherweise
zuzüglich 17 % von 316 Euro (= 53,72 Euro), d. h. insgesamt 682,85 Euro, war ebenfalls
durch seine damalige Nettorente in Höhe von 705,46 Euro gedeckt. Auch bei einem
Abstellen auf diesen Zeitpunkt wäre damit der Lebensunterhalt gesichert gewesen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, soweit über das
Klagebegehren des Klägers streitig entschieden wurde. Der Kläger ist nur zu einem
geringen Teil unterlegen, da beide Anträge im Ergebnis auf das gleiche Ziel gerichtet
sind und der Hilfsantrag den Streitwert nicht erhöht hat.
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt
erklärt haben, war über die Kosten gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen
unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Dem
entspricht es, die insoweit anfallenden Kosten ebenfalls dem Beklagten aufzuerlegen.
Denn er hat sich in die Rolle des Unterlegenen begeben, indem er an der Annahme, die
Niederlassungserlaubnis der Klägerin sei erloschen, nicht mehr festgehalten hat. Dass
dies erst nach der Vorlage der Bescheinigung der türkischen Sicherheitsdirektion
geschah, kann der Klägerin nicht angelastet werden. Denn sie hatte vor der
Ungültigstempelung keinen Anlass und keine Möglichkeit, für Aufklärung zu sorgen.
Nachdem der Beklagte mitgeteilt hatte, dass ein Widerspruch nicht zulässig sei, durfte
sie gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folg aus §§ 708 Nr. 11, 711 der
Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Berufung war nicht zuzulassen, weil keiner der in § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO
genannten Gründe vorliegt.
BESCHLUSS
Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes
für die Zeit bis zur teilweisen übereinstimmenden Erledigungserklärung auf 10.000,00
Euro, für die Zeit danach auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
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