Urteil des VG Berlin vom 14.03.2017

VG Berlin: einstellung des verfahrens, schuldfähigkeit, disziplinarverfahren, verfügung, aussetzung, anhörung, strafverfahren, erlass, bindungswirkung, strafbefehl

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Gericht:
VG Berlin 80.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
80 Dn 63.06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 20 DG BE, § 22 Abs 3 DG BE, §
32 DG BE, § 41 DG BE, § 62 BDG
Antrag, eine Frist zum Abschluss eines Disziplinarverfahrens zu
setzen.
Tenor
Zur Entscheidung über die Vorlage der Disziplinarklageschrift, den Erlass einer
Disziplinarverfügung oder die Einstellung des Verfahrens wird dem Antragsgegner eine
Frist von sechs Wochen ab Rechtskraft dieses Beschlusses gesetzt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
Gründe
Gemäß § 46 Abs. 2 BDG i.V.m. § 41 Disziplinargesetz – DiszG – und § 6 VwGO konnte
der Vorsitzende als Einzelrichter entscheiden, denn die Kammer hat die Sache dem
Vorsitzenden als Berichterstatter mit Beschluss vom 5. Februar 2007 nach Anhörung als
Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Mit Verfügung vom 15. Februar 2006 leitete der Vertreter des Landesbranddirektors
gegen den Antragsteller wegen des Verdachts einer außerdienstlichen
Trunkenheitsfahrt, begangen am 22. August 2005, das Disziplinarverfahren ein. Dieser
Verdacht beruhte auf dem Antrag der Amtsanwaltschaft Berlin vom 17. Januar 2006 an
das Amtsgericht Tiergarten auf Erlass eines Strafbefehls, eingegangen beim
Antragsgegner am 1. Februar 2006. Das Verfahren wurden zugleich bis zum
rechtskräftigen Abschluss des sachgleichen Strafverfahrens ausgesetzt. Das
Strafverfahren wurde durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. Juni 2006, das am
selben Tag rechtskräftig wurde, abgeschlossen (319 Cs 18/06).
Der am 6. Dezember 2006 bei der Disziplinarkammer eingegangene Antrag des
Antragstellers,
eine Frist zum Abschluss des Disziplinarverfahrens festzusetzen,
ist gemäß § 41 DiszG i.V.m. § 62 Abs. 1 Bundesdisziplinargesetz – BDG – zulässig und
begründet. Er führt zur Festsetzung einer Frist von sechs Wochen zum Abschluss des
behördlichen Disziplinarverfahrens durch Einstellung, Erlass einer Disziplinarverfügung
oder durch Erhebung der Disziplinarklage.
Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass das mit Verfügung vom 15.
Februar 2006 eingeleitete und im Hinblick auf das sachgleiche Strafverfahren zugleich
gemäß § 22 Abs. 3 DiszG ausgesetzte Disziplinarverfahren erst am 2. Februar 2007
förmlich fortgesetzt wurde. Zwar ist die Frist des § 62 Abs. 1 BDG gehemmt, solange das
Disziplinarverfahren nach § 22 DiszG ausgesetzt ist (§ 62 Abs. 1 Satz 2 BDG). Die
Aussetzung endet jedoch nicht nur durch ausdrückliche Aufhebung durch den
Dienstvorgesetzten, sondern auch durch schlichte Fortsetzung des Verfahrens (vgl.
Köhler/Ratz, BDG, 3. Aufl., § 62 Rdn. 5). Das Disziplinarverfahren ist vorliegend durch
Anforderung der Strafakten bei dem Amtsgericht Tiergarten mit Verfügung vom 3. Juli
2006 faktisch fortgesetzt worden. Eine weitere Aussetzung wäre i. Übrigen auch nicht
mehr rechtmäßig gewesen (vgl. zu dieser Anforderung Weiß in: GKÖD, M § 62 Rdn. 22).
Eine erneute Aussetzung im Hinblick auf eine ausstehende polizeiärztliche
Untersuchung, die die Personalstelle des Antragsgegners „aus fürsorgerischen
Gründen“ angeordnet hatte, erfolgte durch den Dienstvorgesetzten nicht. Dies wäre
auch nicht zulässig gewesen (siehe dazu unten). Somit sind die nach § 62 Abs. 1 BDG
einzuhaltenden sechs Monate jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung der
Disziplinarkammer abgelaufen.
Nach § 62 Abs. 1 BDG ist auf Antrag des Beamten eine Frist zu bestimmen, wenn ein
zureichender Grund für den Abschluss des behördlichen Disziplinarverfahrens innerhalb
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zureichender Grund für den Abschluss des behördlichen Disziplinarverfahrens innerhalb
von sechs Monaten seit seiner Einleitung fehlt. Ob ein zureichender Grund vorliegt,
richtet sich im Wesentlichen nach dem Umfang des Verfahrensstoffes, dessen
Schwierigkeitsgrad und der Zahl und Art der durchzuführenden Aufklärungsmaßnahmen
sowie nach den besonderen Umständen des jeweiligen Verfahrens. Unangemessen ist
eine Verzögerung, wenn die Sachaufklärung und die erforderlichen Entscheidungen bzw.
Verfahrenshandlungen nicht mit der gebotenen und möglichen Beschleunigung – § 4
DiszG – durchgeführt worden sind. Dabei ist unangemessene Verzögerung
gleichbedeutend mit sachlich nicht gerechtfertigter Untätigkeit der jeweils befassten
Disziplinarorgane (Köhler/Ratz, § 62 Rn. 10). Insofern ist eine großzügige
Betrachtungsweise geboten und nicht etwa eine fiktive Bearbeitungszeit zu errechnen
und mit der in § 62 Abs. 2 Satz 1 BDG genannten Sechs-Monats-Frist zu vergleichen (im
Anschluss an VG Berlin, Beschluss vom 24. November 2006 – VG 85 A 8.06 –).
Nach diesen Maßstäben lag zwischen dem 11. September 2006 und dem 2. Februar
2007 eine sachlich nicht gerechtfertigte Untätigkeit vor.
Nachdem die Strafakten, an deren Übersendung mit Schreiben vom 31. Juli 2006
erinnert werden musste, am 11. September 2006 bei der Disziplinarstelle des
Antragsgegners eingegangen waren, hätte die Bearbeitung des Disziplinarverfahrens
nicht mit Rücksicht auf die erst für den 8. Dezember 2006 in Aussicht stehende
polizeiärztliche Untersuchung des Antragstellers faktisch erneut ausgesetzt werden
dürfen. Denn die Beurteilung der uneingeschränkten Feuerwehrdiensttauglichkeit wie
auch des Bestehens einer Alkoholproblematik war für die Entscheidung im
Disziplinarverfahren nicht von wesentlicher Bedeutung i.S.v. § 22 Abs. 3 DiszG. Die Frage
der Schuldfähigkeit in Bezug auf das dienstrechtlich vorgeworfene Verhalten war nicht
Gegenstand des polizeiärztlichen Untersuchungsauftrags. Diese Frage war im Übrigen
durch das Strafurteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. Juni 2006 gemäß § 23 Abs. 1
DiszG für das Disziplinarverfahren bindend geklärt. Diese Bindung ist im behördlichen
Verfahrensteil absolut; allein das Disziplinargericht könnte die erneute Prüfung
offenkundig unrichtiger Feststellung beschließen (§ 57 Abs. 1 Satz 2 BDG, vgl.
Köhler/Ratz a.a.O. § 23 Rdn. 1).
Zu den bindenden tatsächlichen Feststellung gehört auch die Schuldfähigkeit im Sinn
des § 20 StGB. Diese Bindungswirkung entfällt nicht deshalb, weil das nach
Beschränkung des Einspruchs gegen den Strafbefehl abgekürzte Strafurteil keine
näheren Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Beamten – Gegenteiliges war von ihm
damals nicht geltend gemacht worden – enthält. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (z.B. Urteil vom 11. Dezember 1996 - BVerwG 1 D 56.95 -
m.w.N.) nehmen an der gesetzlich vorgeschriebenen
Bindungswirkung auch Strafurteile teil, die gemäß § 267 Abs. 4 StPO in abgekürzter
Fassung abgesetzt worden sind. Für den vorliegenden Fall der Beschränkung des
Einspruchs gegen den Strafbefehl auf den Rechtsfolgenausspruch in der mündlichen
Verhandlung vor dem Amtsgericht gilt dasselbe. Denn das Amtsgericht ist davon
ausgegangen, dass der Beamte im Tatzeitraum schuldfähig war, weil sonst eine
Verurteilung nicht hätte erfolgen dürfen (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 5.
März 1991 – BVerwG 1 D 48.89 – m.w.N.).
Es bestand im Übrigen auch kein Anhalt dafür, dass etwaig sich herausstellende
Alkoholkrankheit zur Annahme von Schuldunfähigkeit hinsichtlich der Trunkenheitsfahrt –
andere Vorwürfe waren und sind nicht Gegenstand des Disziplinarverfahrens – führen
könnte. Dem Antragsteller wurde im Strafverfahren vorgeworfen, mit 0,98 ‰ Blutalkohol
zur Zeit der Blutentnahme (eine Stunde und 40 Minuten nach der Tat) mit seinem
Motorrad am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen zu haben, wobei es zu einem
Auffahrunfall kam, bei dem der Beamte erheblich verletzt wurde. Nach dem hier
entsprechend anzuwendenden § 20 StGB handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der
Tat wegen einer in der Vorschrift näher bezeichneten psychischen Störung unfähig ist,
das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Nach der
ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wie auch der
Disziplinarkammer, die sich auf die Befassung mit einer Vielzahl von Verfahren stützt,
die Suchterkrankungen zum Gegenstand hatten und in denen z. T. fachmedizinische
Gutachten eingeholt wurden, ist Alkoholabhängigkeit für sich gesehen nicht immer und
ohne weiteres geeignet, eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit oder gar die
Schuldunfähigkeit in Bezug auf dienstpflichtwidriges Verhalten zu begründen. Dies
kommt nur dann in Betracht, wenn die Erkrankung zu schwersten
Persönlichkeitsstörungen geführt oder wenn der Betroffene Beschaffungstaten unter
starken Entzugserscheinungen verübt oder im Zustand eines akuten Rauschs gehandelt
hat (vgl. zuletzt Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11. Dezember 2002 – 1 D 11.02
–, bei Juris, Urteil der Disziplinarkammer vom 25. Juli 2002 – 80 A 77.00 –). Diese
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–, bei Juris, Urteil der Disziplinarkammer vom 25. Juli 2002 – 80 A 77.00 –). Diese
disziplinargerichtliche Rechtsprechung steht in Einklang mit der zu Fragen der
Schuldfähigkeit umfangreichen Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH,
Beschluss vom 8. November 1988 – NStZ 1989, 113 ; Urteil vom 20. September 1988 –
NStZ 1989, 17, zit. nach BVerwG a.a.O.).
Eine derartige Fallgestaltung ist hier nicht ansatzweise erkennbar.
Persönlichkeitsveränderungen i.S.v. § 20 StGB hätten auch im Dienst auffallen müssen.
Das war nach Aktenlage nicht der Fall. Die Annahme eines akuten Rauschs (vgl. F. 10.0
der ICD 10) zum Zeitpunkt der Trunkenheitsfahrt liegt im vorliegenden Fall fern.
Ausweislich des ärztlichen Berichts aus Anlass der Blutentnahme war der Antragsteller
„nicht merkbar“ beeinflusst. Sein Urteilsvermögen war sicher, der Denkablauf geordnet,
das Verhalten beherrscht, die Stimmung unauffällig. Er war vollständig orientiert.
Wenn es auch keinen medizinisch statistischen Erfahrungssatz gibt, dass ab einem
bestimmten Blutalkoholwert von dem Ausschluss oder der erheblich verminderten
Schuldfähigkeit ausgegangen werden könnte, stellt nach der strafgerichtlichen
Rechtsprechung für die – wie vorliegend – gewöhnliche Trunkenheitsfahrt im Normalfall
eine BAK von 2 Promille einen Schwellenwert für die Vermutung verminderter
Schuldfähigkeit im Sinn von § 21 StGB dar; für Schuldunfähigkeit i.S.v. § 20 StGB stellen
3 Promille den Schwellenwert dar (vgl. Schönke-Schröder, StGB-Kommentar, Rdn. 16 a
zu § 20). Von diesen Schwellenwerten war der Beamte hier weit entfernt.
Nachdem der Antragsgegner nach Vorliegen der polizeiärztlichen Beurteilung nunmehr
am 2. Februar 2007 das Disziplinarverfahren mit der Anhörung des Antragstellers
gemäß § 20 DiszG erneut fortgesetzt hat, hat dieser gesetzlich Anspruch auf Äußerung
innerhalb eines Monats. Derzeit kann deshalb dem Antragsgegner keine Untätigkeit
vorgehalten werden. Es liegt nun an dem Antragsteller selbst, durch frühzeitige
Äußerung den Abschluss des Verfahrens zu beschleunigen.
Dem Antragsgegner hat die Disziplinarkammer trotz der gegenwärtig
verfahrensrechtlich unvermeidlichen weiteren Verzögerung in diesem Einzelfall eine Frist
zum Abschluss des Disziplinarverfahrens gesetzt, weil nach dem bisherigen Gang des
Disziplinarverfahrens nicht sicher mit einer zügigen Bearbeitung gerechnet werden kann
(vgl. zur Problematik des Wegfalls der bisherigen Verzögerung Köhler/Ratz a.a.O. § 62
Rdn. 12 m.w.N.). Es ist jedoch nicht ersichtlich, worin weitere Ermittlungsmaßnahmen
begründet sein könnten, so dass bei einer weiteren Verzögerung nach der
abschließenden Anhörung gemäß § 30 DiszG erneut eine sachlich nicht gerechtfertigte
Untätigkeit im Raum stehen würde, wenn nicht alsbald eine Abschlussentscheidung
gemäß §§ 32 ff. DiszG ergeht. Aus hiesiger Sicht kommt mangels ersichtlichen
zusätzlichen Pflichtenmahnungsbedürfnisses i.S.v. § 14 Abs. 1 Nr. 2 DiszG nur eine
Einstellung gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 3 DiszG in Betracht. Diese Entscheidung sollte unter
Berücksichtigung der Verfahrensrechte des Antragstellers und der sonstigen
Beteiligungsrechte innerhalb von sechs Wochen zu treffen sein. Andernfalls steht dem
Antragsgegner die Möglichkeit zur Verfügung, unter den Voraussetzungen des § 53 Abs.
2 Satz 3 BDG i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 3 BDG und § 41 DiszG Fristverlängerung zu
beantragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 DiszG, §§ 3, 77 Abs. 4 BDG i.V.m. § 154 Abs. 1
VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 41 DiszG i.V.m. §§ 62 Abs. 2 Satz 3, 53 Abs. 2 Satz
4 und 5 BDG).
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