Urteil des VG Berlin vom 02.06.2007
VG Berlin: öffentliche sicherheit, polizei, auflösung, körperliche unversehrtheit, aufzug, unmittelbare gefahr, anmeldepflicht, demonstration, behörde, versammlungsfreiheit
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Gericht:
VG Berlin 1. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 A 137.07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Tenor
Hinsichtlich des Klageantrages zu 2. aus der Klageschrift wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit der vom Kläger als „Auflösung“ des am 2.
Juni 2007 am Brandenburger Tor durchgeführten Aufzuges gewerteten polizeilichen
Maßnahmen.
Am 2. Juni 2007 fuhr der Kläger zusammen mit anderen Teilnehmern aus Thüringen mit
einem Reisebus zu einer in Schwerin geplanten Protest-Demonstration der NPD gegen
den G-8-Gipfel. Diese Demonstration war von der zuständigen Versammlungsbehörde
verboten, das Verbot durch das Verwaltungsgericht Schwerin außer Vollzug gesetzt,
diese Entscheidung jedoch am 1. Juni 2007 durch das Oberverwaltungsgericht
Mecklenburg-Vorpommern in Greifswald revidiert worden. Gegen die zuletzt genannte
Entscheidung hatte die NPD am 1. Juni 2007 beim Bundesverfassungsgericht den Erlass
einer einstweiligen Anordnung beantragt. Als den Kläger und die übrigen Teilnehmer
gegen 10 Uhr auf der Autobahn A9 kurz vor Berlin die Nachricht erreichte, dass das
Verbot mangels einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bestand habe,
fuhren sie in das Zentrum Berlins und trafen sich mit weiteren Teilnehmern der
geplanten Demonstration, die aus Bayern per Bus angereist waren. Beide Busse parkten
in Höhe des russischen Ehrendenkmales in der Straße des 17. Juni. Aus den Reisenden
beider Busse formierte sich ein Demonstrationszug Richtung Brandenburger Tor. Die
Teilnehmer liefen auf der Fahrbahn der Straße des 17. Juni, überquerten ohne
Berücksichtigung der Lichtzeichen oder des auf der Friedrich-Ebert-Straße fahrenden
Verkehrs die Friedrich-Ebert-Straße, durchschritten das Brandenburger Tor sowie den
Pariser Platz und liefen dann auf der Fahrbahn Unter den Linden Richtung
Friedrichstraße. Um 9.56 meldete ein Polizeiangestellter, der vor der französischen
Botschaft Dienst tat, den Aufzug dem Lagedienst. Daraufhin wurden Polizeibeamte zum
Aufzug beordert. Der Aufzug drehte Höhe Glinkastraße und lief Richtung Brandenburger
Tor zurück. Den Aufzug begleitende Polizeibeamte versuchten mehrmals ohne Erfolg, zu
einzelnen Teilnehmern Kontakt aufzunehmen. Daraufhin stellte sich an der Baustelle
Unter den Linden Ecke Wilhelmstraße ein Einsatzfahrzeug der Polizei quer, an dem die
Demonstranten jedoch Richtung Pariser Platz vorbeiliefen. Ein weiteres Fahrzeug der
Polizei stellte sich zwischen die Säulen des Brandenburger Tores. Ferner liefen sechs
Beamte eines herbeigerufenen Einsatzwagens zu Fuß und ohne Schutzkleidung von der
West-Seite des Brandenburger Tores auf die Demonstranten zu, wobei sie eine optische
Sperrlinie bildeten. Daraufhin rannten die Teilnehmer auf das Brandenburger Tor und die
ihnen im Weg stehenden Beamten zu. Diese forderten die Teilnehmer auf, stehen zu
bleiben und versuchten, sie festzuhalten. Dabei kam es vor dem Brandenburger Tor zu
einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen einigen Teilnehmern des Aufzuges und
Polizeikräften, bei der ein Polizist verletzt wurde und ein anderer Beamter CS-Gas
einsetzte. Im Zuge der Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher
Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 124, 113 StGB)
wurden nachfolgend mehrere Personen direkt am Brandenburger Tor festgenommen
und Identitätsfeststellungen bezüglich der zu den Bussen zurückgekehrten Teilnehmer,
zu denen der Kläger gehörte, angeordnet. Anschließend wurden der Kläger sowie weitere
Businsassen erkennungsdienstlich behandelt.
Der Kläger wendet sich mit der am 28. Juni 2007 erhobenen Klage gegen die
Maßnahmen der Polizei. Er meint, die Polizei hätte das Recht auf spontanes
Demonstrieren verweigert, dies verletze sein Recht aus Art. 8 GG. Er behauptet, es sei
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Demonstrieren verweigert, dies verletze sein Recht aus Art. 8 GG. Er behauptet, es sei
nicht geplant gewesen, im Falle der Aufrechterhaltung des Verbotes in Berlin zu
demonstrieren. Man habe vielmehr darauf vertraut, dass das Bundesverfassungsgericht
dem Eilantrag stattgeben werde. Da die Reiseroute von Thüringen nach Schwerin auf der
A 9 über Berlin geführt habe, habe man geplant, nach Berlin zu fahren, um dort die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten und ggf. den Tag als Tourist
zu verbringen Erst als kurz vor Berlin die Nachricht eingetroffen sei, dass das Verbot
Bestand habe, habe man beschlossen, in das Zentrum Berlins zu fahren. Dort sei man
mit Insassen eines aus Bayern kommenden Busses – nach Meinung des Klägers zufällig
- zusammengetroffen. Sein Prozessbevollmächtigter erklärte jedoch im Termin, dass
zwischen den einzelnen Bussen, mit denen Teilnehmer der Demonstration aus dem
übrigen Bundesgebiet nach Schwerin angereist seien, ein reger Kontakt via Mobiltelefon
bestanden hätte, um Nachrichten zum Ausgang des Gerichtsverfahrens auszutauschen.
Nachdem beide Busse in Höhe des russischen Ehrendenkmales in der Straße des 17.
Juni geparkt worden seien, hätte man sich spontan entschlossen, gegen den G8-Gipfel
und gegen das Versammlungsverbot am Brandenburger Tor zu demonstrieren. Die
Polizei hätte aufgrund der fehlenden Anmeldung versucht, wahllos Leute festzunehmen
und den Aufzug zu stoppen. Als die Teilnehmer auf die Beamten zugerannt seien, hätte
ein Beamter Reizgas eingesetzt, mit einer geringfügigen Menge des Sprühstoßes sei
auch der Kläger, allerdings ohne eine relevante Beeinträchtigung, in Berührung
gekommen.
Der Kläger wertet das Vorgehen der Polizei als Auflösung der Versammlung. Insoweit
verweist er auf eine Vorladung wegen einer Ordnungswidrigkeit im Zusammenhang mit
der Versammlung, in der unter Art der Ordnungswidrigkeit „Verstoß gegen das
Versammlungsgesetz, Nichterntfernen nach Auflösung“ angegeben gewesen sei. Ferner
hätten die Beamten ihm im Rahmen der Personalienfeststellung mitgeteilt, es handele
sich um Maßnahmen aufgrund eines Verfahrens wegen Durchführung einer verbotenen
Versammlung. Der Kläger hält die Auflösung für rechtswidrig. Denn das Fehlen einer
Anmeldung stelle keinen Auflösungsgrund dar. Darüber hinaus habe es sich um eine
Spontanversammlung gehandelt, die weder anmeldefähig noch –pflichtig sei. Das
Feststellungsinteresse folge daraus, dass künftige spontane Planungen von
Versammlungen seitens des Klägers am Brandenburger Tor nicht auszuschließen seien.
Der Kläger hat zunächst in der Klageschrift (sinngemäß) beantragt
festzustellen, dass
1. die Auflösung der am 2. Juni 2007 am Brandenburger Tor in Berlin
durchgeführten Versammlung und
2. die in diesem Zusammenhang durchgeführte Feststellung der Personalien und
erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers
rechtswidrig waren und ihn in seinen Rechten verletzten.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger den Antrag zu 2.
zurückgenommen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die Klage mangels Feststellungsinteresses für unzulässig. Eine
Wiederholungsgefahr setze voraus, dass der Kläger des Öfteren Veranstaltungen im
Zentrum Berlins mit planmäßigem Überrennen von Polizeibeamten plane; ein darauf
gestütztes Interesse sei nicht feststellungswürdig. Im Übrigen sei die Klage auch
unbegründet: Das Vorgehen der Polizei habe keine Auflösung dargestellt. Der Versuch
der Polizei, ein Durchschreiten des Brandenburger Tores zu verhindern, habe vielmehr
der Ordnung des Geschehens dienen sollen. Die ca. 100 Teilnehmer der Versammlung
seien einfach losgelaufen und hätten die Fahrbahn betreten, ohne Kontakt mit der
Polizei aufzunehmen. Auch bei einer Spontandemonstration müssten die Teilnehmer es
der Polizei ermöglichen, das Geschehen zu ordnen, so dass keine Gefahren für die
öffentliche Sicherheit eintreten könnten. Dies setze voraus, dass die Teilnehmer der
Polizei mitteilten, was man beabsichtige, welche Örtlichkeiten man frequentieren möchte
und wie lange die Veranstaltung dauern solle. Die anwesenden Beamten hätten nicht die
Möglichkeit zur Kontaktaufnahme erhalten. Demonstrationsteilnehmer hätten am
Brandenburger Tor Maßnahmen zur Ordnung des Geschehens mit Gewalt unterbunden,
wodurch der Anfangsverdacht von Straftaten gem. §§ 113, 125 und 224 StGB begründet
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wodurch der Anfangsverdacht von Straftaten gem. §§ 113, 125 und 224 StGB begründet
worden sei. Die Personalienfeststellung und erkennungsdienstliche Behandlung des
Klägers seien im Rahmen dieser eingeleiteten Ermittlungsverfahren erfolgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Streitakte sowie den Inhalt des von der Beklagten vorgelegten
Verwaltungsvorganges verwiesen.
Entscheidungsgründe
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gem. § 92 Abs. 2
Satz 1 VwGO einzustellen.
Im Übrigen ist die als Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO
analog statthafte Klage nur zum Teil zulässig und insoweit unbegründet.
1. Soweit der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Versammlungsauflösung
begehrt, hat er ein berechtigtes Interesse. Es kann insoweit offen bleiben, ob ein solches
Interesse auch unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr bestehen würde.
Jedenfalls stellt die vom Kläger behauptete Auflösung der Versammlung einen
schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar, der sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in
welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung nicht erlangen konnte, so dass die
grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit in Verbindung mit dem
verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz eine Bejahung
des für einen Antrag nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderlichen
Feststellungsinteresses erfordern (vgl. BVerwGE 61, 164, 166 m.w.N.; ferner BVerfG,
Beschluss vom 14. Dezember 2004 - 2 BvR 1451/04 -, NJW 2005, 1855 - zu § 98 StPO -
m.w.N.).
Die Klage ist insoweit jedoch unbegründet. Die Maßnahmen der Beklagten waren
rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4
VwGO analog). Der Kläger wertet die angegriffenen polizeilichen Maßnahmen zu Unrecht
als Auflösung der Versammlung.
Als Auflösung der Versammlung i.S.d. § 15 Abs. 3 VersG ist die Beendigung einer bereits
durchgeführten Versammlung mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen,
zu verstehen; sie stellt zusammen mit dem Verbot den intensivsten Eingriff in das
Grundrecht der Versammlungsfreiheit dar (vgl. BVerfGE 87, 399, 409). Der Schutz
dieses Grundrechts erfordert daher, dass die Auflösungsverfügung, deren
Nichtbefolgung nach § 26 VersG strafbewehrt ist, eindeutig und unmissverständlich
formuliert ist und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringt, dass die
Versammlung aufgelöst ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2004, 1 BvR
1726/01- NVwZ 2005, 80 f.; VG Hamburg, Urteil vom 30. Oktober 1986 – 12 VG 2442/Sb
-, NVwZ 1987, 829, 831 m.w.N.; Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und
Versammlungsfreiheit, 14. Aufl. 2005, § 13 Rn. 6 m.w.N.). Gemessen daran lag eine
Auflösung des Aufzuges nicht vor.
Nach den Angaben des Klägers und des Beklagtenvertreters sowie den im
Verwaltungsvorgang enthaltenen Berichten der eingesetzten Polizeibeamten setzten
Polizeikräfte Fahrzeuge zwischen die Säulen des Brandenburger Tores, bildeten eine aus
sechs Personen bestehende optische Sperrlinie und forderten die Aufzugsteilnehmer
zum Stehenbleiben auf; ferner stellten sie sich den auf das Brandenburger Tor und die
Friedrich-Ebert-Straße zurennenden Teilnehmern, zu denen auch der Kläger zählte, in
den Weg und versuchten, diese an- und festzuhalten. Bei diesem Verhalten der
Beklagten handelte es sich um keine Auflösung. Denn es war ersichtlich darauf gerichtet,
Teilnehmer anzuhalten und um Information über den weiteren Verlauf der Versammlung
zu ersuchen, nicht jedoch den – ohnehin augenscheinlich in Auflösung begriffenen -
Aufzug zu beenden und zu zerstreuen. Wie im Anschluss an diese Maßnahmen mit der
Bearbeitung von Ermittlungsverfahren befasste Beamte den Vorgang rechtlich
würdigten, ist für die hier zu treffende Einschätzung ohne Bedeutung. Denn für diese ist
allein auf den objektiven Empfängerhorizont eines Versammlungsteilnehmers
abzustellen.
2. Soweit der Antrag des Klägers gem. § 88 VwGO dahin gehend ausgelegt wird, nicht
nur die Rechtswidrigkeit der behaupteten Auflösung, sondern allgemein die
Rechtswidrigkeit der vorgenannten, gegen die Versammlung gerichteten polizeilichen
Maßnahmen festzustellen, kann die Klage keinen Erfolg haben. Zu unterscheiden ist
insoweit zwischen a) der Aufforderung zum Stehenbleiben und b) deren Durchsetzung
im Wege des unmittelbaren Zwanges.
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a) Hinsichtlich der an die Versammlungsteilnehmer gerichteten Aufforderung zum
Stehenbleiben bezweifelt die Kammer bereits die Zulässigkeit einer
Fortsetzungsfeststellungsklage. Denn ein das Feststellungsinteresse rechtfertigender
erheblicher Grundrechtseingriff erscheint insoweit fraglich. Dessen ungeachtet ist die
Klage jedenfalls insoweit auch unbegründet, da diese Aufforderung rechtmäßig war.
Rechtsgrundlage der an die Versammlungsteilnehmer gerichteten Aufforderung zum
Stehenbleiben ist § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs.1 VersG.
Gem. § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde einen Aufzug
auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen
die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung des Aufzuges unmittelbar
gefährdet ist. Reicht zur Gefahrenabwehr auch eine mildere Maßnahme als die
Auflösung, kann auch diese auf der Grundlage des § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG
getroffen werden (Schlussfolgerung a maiore ad minus; vgl. BVerfGE 69, 315, 353;
Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 15 Rn. 138 m.w.N.). Im vorliegenden Fall verfolgte das
Anhalten der Versammlungsteilnehmer erkennbar zwei Ziele: Es sollte zum einen (1.)
das unkontrollierte Betreten der westlich des Brandenburger Tores verlaufenen Friedrich-
Ebert-Straße verhindert werden. Ferner (2.) wollte die Polizei Auskunft über den weiteren
Verlauf der Demonstration erhalten, um möglicherweise erforderliche Maßnahmen der
Gefahrenabwehr (Verkehrsregelungen) treffen zu können. Ausgehend davon war das
Anhalten der Teilnehmer rechtmäßig.
(1.) § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG ermächtigte die Polizei, den Aufzug anhalten, um ein
unkontrolliertes Betreten der Friedrich-Ebert-Straße zu verhindern. Denn zum Schutzgut
der Öffentlichen Sicherheit i.S.d. § 15 VersG zählt u.a. die Sicherheit des
Straßenverkehrs, die körperliche Unversehrtheit der Verkehrs- sowie der
Versammlungsteilnehmer. Eine unmittelbare Gefahr i.S.d. § 15 Abs. 1, 3 VersG liegt vor,
wenn aus Sicht eines objektiven Beobachters in der Position des handelnden Beamten
aufgrund einer auf Tatsachen basierenden Gefahrenprognose jederzeit, unter
Umständen sofort, ein Schaden für das Schutzgut eintreten kann (vgl.
Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 15 Rn. 28 m.w.N.).
Vorliegend durfte daher die Polizei den Zug anhalten, um die Sicherheit des
Straßenverkehrs auf der Friedrich-Ebert-Straße und Straße des 17. Juni sowie die
körperliche Unversehrtheit der Verkehrs- und Aufzugsteilnehmer zu sichern. Denn diese
waren nach den erkennbaren Umständen unmittelbar gefährdet, da der Aufzug auf der
Fahrbahn stattfand, die Versammlungsteilnehmer bereits auf dem Hinweg durch das
Brandenburger Tor auf Lichtzeichen, den Straßenverkehr auf der Straße des 17. Junis
sowie den die Friedrich-Ebert-Straße befahrenden Querverkehr keine Rücksicht
genommen hatten, sowohl die Straße des 17. Junis als auch die Friedrich-Ebert-Straße
stark befahren sind und die Teilnehmer des Aufzuges auf diese zuliefen. An der
Verhältnismäßigkeit hat die Kammer keine Zweifel, da ein milderes, gleich geeignetes
Mittel als die an die Teilnehmer gerichtete Aufforderung zum Stehenbleiben nicht zur
Verfügung stand, nachdem sich kein Versammlungsleiter zu erkennen gegeben hatte
und vorherige Kontaktaufnahmen mit Demonstrationsteilnehmern gescheitert waren.
(2.) Unabhängig vom Vorliegen einer konkreten Verkehrsgefährdung war die
Aufforderung zum Stehenbleiben auch wenn nicht bereits (aa) wegen Verstoßes gegen
die Anmeldepflicht als „Minus“- Maßnahme zur Auflösung auf Grundlage des § 15 Abs. 3
1. Fall VersG, so jedenfalls (bb) als Maßnahme der Gefahrenerforschung gem. § 15 Abs.
3 3. Fall i.V.m. Abs. 1 VersG gerechtfertigt.
aa) § 15 Abs. 3 VersG ermächtigt die zuständige Behörde, gegen eine Versammlung
oder einen Aufzug Maßnahmen bis zur Schwelle der Auflösung zu ergreifen, wenn diese
nicht angemeldet ist (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 15 Rn. 120 ff.,122 m.w.N.).
Gem. § 14 Abs. 1 VersG muss der Veranstalter eine öffentlichen Versammlung unter
freiem Himmel oder einen Aufzüge spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der
zuständigen Behörde anmelden. Besonderheiten gelten für Versammlungen, die aus
aktuellem Anlass augenblicklich entstehen. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen
Eilversammlungen, bei denen Entschluss und Durchführung kurz hinter einander folgen,
und echten Spontan- bzw. Sofortversammlungen, bei denen Entschluss und
Durchführung unmittelbar zusammenfallen (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 14 Rn.
18 m.w.N.). Bei Eilversammlungen, bei denen die 48–Stunden - Frist nicht eingehalten
werden kann, gilt diese Frist nicht; der Veranstalter ist stattdessen gehalten,
unverzüglich die Anmeldung vorzunehmen, sobald der Entschluss zur Durchführung
feststeht (vgl. BVerfGE 85, 69,74 f.; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 14 Rn. 22 m.w.N.).
Die Kammer neigt dazu anzunehmen, dass vorliegend gegen die in § 14 VersG
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Die Kammer neigt dazu anzunehmen, dass vorliegend gegen die in § 14 VersG
statuierte Anmeldepflicht verstoßen wurde und daher die Ermächtigungsgrundlage des §
15 Abs. 3 1. Fall VersG (nicht angemeldete Versammlung) einschlägig war. Denn die
Behauptung des Klägers, es habe sich um keine anmeldepflichtige Eil-, sondern um eine
echte Spontanversammlung gehandelt, überzeugt die Kammer nicht: Es ist nämlich -
insbesondere angesichts des vom Prozessbevollmächtigten bestätigten
Mobiltelefonkontakts zwischen den einzelnen Reisebussen – nicht glaubhaft, dass die
zwei Reisebusse aus Thüringen und Bayern zufällig vor dem russischen Ehrendenkmal
auf der Straße des 17. Juni zusammentrafen und deren Insassen sich ohne jegliche
Absprache zu einer Demonstration entschlossen. Der in der Verhandlung vom
Prozessbevollmächtigten erhobene Einwand, als Ortsfremde hätte keiner der Teilnehmer
aus Thüringen und Bayern den Aufzug kurzfristig anmelden können, da ihnen die
zuständige Behörde unbekannt war, lässt die Anmeldepflicht unberührt. Denn ein Anruf
zumindest bei der bundeseinheitlichen Notrufnummer der Polizei hätte diese Information
in Erfahrung bringen können.
bb) Dies brauchte jedoch nicht abschließend entschieden zu werden, da jedenfalls auch
bei Spontanversammlungen eine § 14 VersG sinnentsprechende Auskunftspflicht gilt
und die Polizei gem. § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG ermächtigt ist, einen Aufzug
anzuhalten, um diese Pflicht durchzusetzen und die entsprechenden Informationen
einzuholen.
Wie oben ausgeführt, rechtfertigt § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG Eingriffe in das
Grundrecht der Versammlungsfreiheit im Falle einer unmittelbaren Gefahr für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung. Der Begriff der Gefahr erfasst auch den bloßen
Gefahrenverdacht, unter dem eine Situation verstanden wird, in welcher der handelnde
Beamte über die tatsächlichen Gegebenheiten auch bei Einsatz größter Sorgfalt und
Besonnenheit im Ungewissen ist, und daher ein Schaden für das Schutzgut der
Öffentlichen Sicherheit und Ordnung zwar möglich erscheint, die Tatsachengrundlage der
Gefahrenprognose jedoch mit Unsicherheiten behaftet ist (vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel,
Polizei- und Ordnungsrecht, 2002, § 4 Rn. 50 m.w.N.). § 15 VersG trifft insoweit bezüglich
des Gefahrenbegriffes keine Sonderregelung. Denn das Erfordernis der Unmittelbarkeit
der Gefahr in § 15 Abs. 1 VersG erhöht – wie oben dargelegt - nur die Anforderungen an
die Nähe des Schadenseintritts, trifft jedoch zur Sicherheit der Tatsachengrundlage, auf
der die Gefahrenprognose basiert, keine Aussage. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit
fordert allerdings von den handelnden Beamten, sich bei Vorliegen eines bloßen
Gefahrenverdachtes grundsätzlich auf vorläufige Maßnahmen zur Gefahrenerforschung
zu beschränken (vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, a.a.O., § 4 Rn. 59, m.w.N.).
Dem entsprechend ermächtigt § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG die Vollzugspolizei,
aufgrund Gefahrenverdachts bei Spontanversammlungen unter freiem Himmel zur
Gefahrerforschung die von § 14 VersG im Zusammenhang mit der
Versammlungsanmeldung geforderten Informationen von den
Versammlungsteilnehmern einzuholen.
Bei Versammlungen unter freiem Himmel besteht typischerweise die Möglichkeit einer
Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; Gefahren drohen
insbesondere neben den bereits oben genannten Schutzgütern der Sicherheit des
Straßenverkehrs und der körperlichen Unversehrtheit der Verkehrs- sowie der
Versammlungsteilnehmer einerseits für das Recht der Demonstranten, die
Versammlung ungestört durchzuführen, und andererseits für das Recht von Passanten,
an dieser nicht teilzunehmen. Die Anmeldepflicht nach § 14 VersG dient der Erforschung
dieser Gefahrenlage. Ihr Zweck ist primär, Versammlungen und Aufzüge zu ermöglichen,
indem die zuständige Behörde in die Lage versetzt wird, den störungsfreien Verlauf der
Versammlung sicherzustellen und Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
auszuschließen oder zu reduzieren(Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 14 Rn. 6 m.w.N.). Den
in der Anmeldung enthaltenen Informationen kommt insoweit wesentliche Bedeutung für
die Gefahrenabwehr und den Ausgleich drohender Grundrechtskollisionen zu (vgl.
BVerfGE 69, 315, 358 f; 85, 69, 74 f.; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 1 Rn. 194 ff, § 14 Rn.
51 ff; Hettich, Versammlungsrecht in der kommunalen Praxis, 1. Aufl. 2003, Rn. 108).
Die geschilderte, der Anmeldepflicht nach § 14 VersG zugrundeliegende
Gefahrenverdachtslage besteht ebenso bei Spontanversammlungen. Allerdings gilt die
in § 14 VersG normierte Anmeldepflicht nicht für Spontandemonstrationen, da wegen
des zeitlichen Zusammenfallens von Entschluss zur und Ausführung der Versammlung
eine vorhergehende Anmeldung bei der zuständigen Behörde nicht möglich ist (vgl.
BVerfGE 69, 315, 350; 85, 69,74; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 14 Rn. 20 m.w.N. ). Um
die Situation einschätzen und ggf. Maßnahmen der Gefahrenabwehr treffen zu können,
bedarf die Vollzugspolizei jedoch auch hier der nach § 14 VersG anzugebenden
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bedarf die Vollzugspolizei jedoch auch hier der nach § 14 VersG anzugebenden
Informationen zu Thema, Zeitdauer, Ort und Verlauf der Versammlung bzw. des
Aufzuges (vgl. zum Umfang der Anmeldpflicht Kniesel/ u.a., a.a.O., § 14 Rn. 12 m.w.N.).
Eine am Ort der Spontanversammlung zu erfüllende Auskunftspflicht greift auch nicht
unverhältnismäßig in Art. 8 GG ein. Denn zur Gefahrerforschung ist eine entsprechende
Befragung geeignetes und zugleich mildestes Mittel, das die Teilnehmer auch nur
geringfügig beeinträchtigt. Anders als eine vor Durchführung der Versammlung zu
erfüllende Anmeldepflicht, die – wie oben dargelegt – bei Spontanversammlungen nicht
erfüllt werden kann, ohne den mit der Versammlung verfolgten Zweck zu vereiteln (vgl.
BVerfGE 69, 315, 350; 85, 69,74; BVerwGE 26, 135,138; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., §
14 Rn. 20 m.w.N. ), erleichtert eine Auskunftspflicht im Ausführungsstadium vielmehr die
Erreichung dieses Zwecks und kann sie ggf. sogar erst ermöglichen.
Die einzelnen Teilnehmer der Versammlung sind vorliegend auch zutreffende
Adressaten der Auskunftspflicht. Denn sie sind als (Mit-)Verursacher der Gefahr
polizeipflichtig (§ 13 Abs. 1 ASOG). Das Auswahlermessen reduzierte sich nicht auf die
Inanspruchnahme des grundsätzlich in erster Linie heranzuziehenden Veranstalters (vgl.
§ 14 VersG), da sich ein solcher nicht zu erkennen gegeben hatte.
b) Soweit der Kläger mit seiner Klage auch Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges, die
im Zusammenhang mit der Aufforderung zum Stehenbleiben ergingen, angegriffen
haben sollte, ist die Klage unzulässig, da der Kläger – auch in der mündlichen
Verhandlung – nicht substantiiert vorgetragen hat, davon in nennenswerter Weise
betroffen gewesen zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO). Hinsichtlich des hier allein in Betracht
kommenden Einsatzes von Reizgas, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung
geschildert hat, bezweifelt die Kammer bereits, dass der Kläger ihn mit seiner die
„Auflösung“ der Versammlung betreffenden Klage angreifen wollte. Denn dieser
Reizgaseinsatz konnte weder aufgrund des Vortrages der Beteiligten in der mündlichen
Verhandlung noch der im Verwaltungsvorgang enthaltenen Berichte eindeutig der
Durchsetzung der oben genannten Aufforderung zum Stehenbleiben zugeordnet
werden; mindestens ebenso wahrscheinlich erscheint der Kammer insoweit der Einsatz
durch einen einzelnen Beamten im Rahmen einer durch körperliche Auseinandersetzung
mit Versammlungsteilnehmern entstandenen Notwehrsituation. Da im Übrigen weder
vorgetragen noch erkennbar ist, dass der Reizgaseinsatz zielgerichtet gegen den Kläger
erfolgte, fehlt es mangels Finalität oder erheblicher Beeinträchtigung insoweit jedenfalls
auch an einer die Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO vermittelnden Rechtsverletzung
des Klägers.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO.
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