Urteil des VG Berlin vom 04.09.2008
VG Berlin: vertrag von maastricht, öffentliche sicherheit, ausweisung, aufenthaltserlaubnis, erpressung, körperverletzung, unionsbürgerschaft, bewährung, amtsblatt, geburt
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Gericht:
VG Berlin 21.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
21 A 49.08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Tenor
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 lit. b) und 2 EG eine Vorabentscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgender Frage eingeholt:
Kann sich ein türkischer Staatsangehöriger, der die Rechtsposition nach Art. 7
Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 innehat und seit seiner Geburt im Jahre 1989 im
Bundesgebiet lebt, auf den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der
Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30.04.2004, S. 77; berichtigt
ABl. L 229 vom 29. Juni 2004) berufen?
Gründe
I.
Der am 19. Februar 1989 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist ledig
und kinderlos. Der Kläger war seit seiner Geburt im elterlichen Haushalt in Berlin
polizeilich gemeldet, wo er mit fünf Geschwistern aufwuchs. Der Vater des Klägers - Herr
M H E - zahlte ausweislich seines Versicherungsverlaufs ab 1977 - und dabei in der Zeit
vom 1. Juni 1987 bis zum 31. Dezember 2006 fast ununterbrochen - Pflichtbeiträge zur
Rentenversicherung der Arbeiter. Das Landeseinwohneramt Berlin erteilte dem Kläger
am 5. Juni 1997 eine bis zum 19. Februar 2005 gültige Aufenthaltserlaubnis. Ab der 5.
Klasse fiel der Kläger in der Schule negativ auf. Er störte den Unterricht oder blieb
diesem fern. Es folgten Verweisungen von zwei Grundschulen und die Feststellung der
Schulunfähigkeit. Der Kläger erhielt daraufhin Einzelunterricht, der aber dann wegen des
schlechten Verhältnisses zwischen dem Kläger und seinem Lehrer beendet werden
musste. Der Kläger ging im Sommer 2003 nach der 6. Klasse von der R-Grundschule ab,
ohne danach eine Oberschule zu besuchen.
Bereits im Kindesalter mussten 23 Ermittlungsverfahren gegen den Kläger geführt und
wegen Strafunmündigkeit eingestellt werden.
Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 5. August 2003 - (391) 80 Js 381/03 Ls (122/03)
- befand das Amtsgericht Tiergarten den Kläger des gemeinschaftlichen versuchten
Raubes in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung in Tatmehrheit mit
gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung in drei Fällen für schuldig und verhängte
gegen ihn eine Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung.
Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 4. November 2003 - (391) 5 Ju Js 1682/03 Ls
(178/03) - befand ihn das Amtsgericht Tiergarten des gemeinschaftlichen Raubes, der
versuchten räuberischen Erpressung und des Diebstahls für schuldig und verurteilte ihn
unter Einbeziehung des Urteils vom 5. August 2003 zu einer Jungendstrafe von einem
Jahr und sechs Monaten, wobei es die Entscheidung über die Strafaussetzung zur
Bewährung um sechs Monate zurückstellte.
Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 23. Juni 2004 - (403) 47 Js 341/03 Ls (63/04) -
verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den Kläger wegen versuchten gemeinschaftlichen
Raubes sowie wegen gemeinschaftlichen Raubes in drei Fällen, davon in einem Fall in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils vom 4.
November 2003 zu einer einheitlichen Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.
Mit Schreiben vom 10. Mai 2005 und - nach erfolgloser Durchführung eines
Präventivgespräches - vom 4. Januar 2006 teilte das Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten dem Kläger mit, dass beabsichtigt sei, ihn aus der
Bundesrepublik Deutschland auszuweisen und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme.
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Bundesrepublik Deutschland auszuweisen und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 13. Juni 2005 beantragte der Kläger, seine
Aufenthaltserlaubnis zu verlängern und von der beabsichtigten Ausweisung Abstand zu
nehmen.
Mit Schreiben vom 10. Januar 2006 sprach das Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten gegenüber dem Kläger eine aufenthaltsrechtliche
Verwarnung aus und kündigte für den Fall der Begehung weiterer Straftaten seine
Ausweisung an.
Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 24. Juli 2006 - (423) 47 Js 1511/05 Ls (62/06) -
befand das Amtsgericht Tiergarten den Kläger des Diebstahls und der gefährlichen
Körperverletzung für schuldig und verurteilt ihn zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und
vier Monaten.
Mit Schreiben vom 23. März 2007 teilte das Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten dem Kläger mit, dass beabsichtigt sei, ihn aus der
Bundesrepublik Deutschland auszuweisen und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 18. Mai 2007 brachte der Kläger vor, ihm komme
aufenthaltsrechtlich die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu. Nach Art. 14 ARB
1/80 dürfe er deshalb nur auf der Grundlage der Regelungen ausgewiesen werden, die
für Staatsangehörige der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gelten. Nach Art. 28
Abs. 3 RL 2004/38/EG dürften Personen, die schon seit über zehn Jahren im
Aufnahmemitgliedsstaat lebten, nur aus zwingenden Gründen ausgewiesen werden, die
in seiner Person nicht gegeben seien.
Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 30. August 2007 - (394) 47 Js 1501/07 Ls
(26/07) - verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den Kläger wegen gefährlicher
Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils vom 24. Juli 2006 zu einer einheitlichen
Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten.
Mit Bescheid vom 26. Februar 2008 wies das Landesamt für Bürger- und
Ordnungsangelegenheiten den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus, lehnte
seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm für den Fall,
dass er nicht bis zum 27. März 2008 ausgereist sei, die Abschiebung an. Es stützte die
Ausweisung dabei auf § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG, wonach ein Ausländer ausgewiesen
werden kann, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige
erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt, wobei es davon
ausging, dass dem Kläger besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80
zusteht.
Dagegen hat der Kläger am 7. März 2008 Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom
26. Februar 2008 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, seinen Antrag auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an dem angefochtenen Bescheid fest und trägt zur Begründung vor: Mit der RL
2004/38/EG seien nicht nur die bestehenden, bereichsspezifischen Regelungen der
Europäischen Union zur Freizügigkeit nach Art. 39, 43, 49 EG zusammengefasst worden,
sondern das Freizügigkeitsrecht sei vereinfacht und verstärkt, mithin inhaltlich
modifiziert worden, um das im Vertrag von Maastricht geschaffene, allein an der
Unionsbürgerschaft anknüpfende Recht auszugestalten, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Der erweiterte Ausweisungsschutz in
Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG setze mithin die Unionsbürgerschaft und das
Daueraufenthaltsrecht, welches nur Unionsbürgern vorbehalten ist, voraus. Ein solches
Daueraufenthaltsrecht komme freizügigkeitsberechtigten türkischen Staatsangehörigen,
die ihre Aufenthaltsrechte aus ihrer Zugangsberechtigung zum Arbeitsmarkt herleiten,
nicht zu, vor allem da das Aufenthaltsrecht nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder beim
Verlassen des aufnehmenden Mitgliedsstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum
ohne berechtigte Gründe erlösche. Dem ARB 1/80 sei kein Anhaltspunkt dafür zu
entnehmen, dass materielle Verbesserungen des Freizügigkeitsrechts - hier: der
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entnehmen, dass materielle Verbesserungen des Freizügigkeitsrechts - hier: der
erweiterte Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG -, die nach Inkrafttreten
des ARB 1/80 geschaffen worden seien, assoziationsberechtigten türkischen
Arbeitnehmern gleichsam im Rahmen einer dynamischen Verweisung zu Gute kommen
sollen. Vielmehr sei dafür ein Beschluss des Assoziationsrates erforderlich.
II.
Das Gericht legt die im Tenor formulierte Fragestellung zur Auslegung des Art. 7 Satz 1
2. Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die
Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80) und des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG,
72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und
93/96/EWG (Amtsblatt L 158 vom 30.04.2004, S. 77; berichtigt Amtsblatt L 229 vom
29.06.2004, S. 35 - im Folgenden: RL 2004/38/EG) gemäß Art. 234 Abs. 1 lit. b) und Abs.
2 EG dem Europäischen Gerichtshof vor und setzt deshalb in entsprechender
Anwendung des § 94 VwGO das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs aus.
Zur Vorlagefrage:
Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger im Hinblick darauf, dass er in der
Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sich während des
gesamten Zeitraumes legal im Bundesgebiet aufgehalten hat und sein Vater als
Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, die Rechtsposition nach Art. 7
Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat. Er kann sich deshalb auf besonderen
Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 berufen. Beschränkungen seiner
Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 sind danach nur aus Gründen
der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zulässig. Nach der bisherigen
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfolgte die Konkretisierung des
Begriffes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bislang durch Rückgriff auf die
Richtlinie 64/221/EWG. Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 64/221/EWG bestimmten, dass
für Entscheidungen zum Schutze der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit allein das
persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend ist
und strafrechtliche Verurteilungen allein solche Entscheidungen nicht ohne weiteres
rechtfertigen. Diese Richtlinie ist aber durch Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG mit Wirkung
zum 1. Mai 2006 aufgehoben worden. Zur Auslegung des Begriffes der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung wird nunmehr auf Art. 27 ff. RL 2004/38/EG zurückzugreifen sein.
Nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG darf eine Ausweisung gegen einen
Unionsbürger u.a. nicht verfügt werden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten 10
Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat gehabt haben, es sei denn die Entscheidung beruht
auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die von den
Mitgliedsstaaten festgelegt werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat im Gesetz über
die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU)
vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986) in § 6 Abs. 5 Satz 3 bestimmt, dass zwingende
Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer
oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe
von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung
Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr
ausgeht. Da der Kläger diese Vorgaben nicht erfüllt, wäre die gegen ihn ausgesprochene
Ausweisung rechtsfehlerhaft, wenn er sich auf den besonderen Ausweisungsschutz des
Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG berufen kann. Die Beantwortung der aufgeworfenen
Frage ist deshalb für die Entscheidung des Gerichts erheblich.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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