Urteil des VG Berlin vom 12.05.2005

VG Berlin: unternehmen, entschädigung, rückgriff, inventar, stadt, grundstück, ausnahme, festschrift, vermögensverwaltung, rückgabe

1
2
3
4
5
Gericht:
VG Berlin 29.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
29 A 38.05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 4 Abs 3 NS-VEntschG, § 1 Abs
1 S 1 NS-VEntschG, § 1 Abs 4
VermG
Ersatzeinheitswertberechnung auf der Grundlage der
Vermögenswerte eines Betriebes
Tenor
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes zur
Regelung offener Vermögensfragen vom 12. Mai 2005 verpflichtet, die Klägerin
hinsichtlich der Entschädigung für den verfolgungsbedingten Verlust ihres früheren
Unternehmens im Mai 1933 unter Neubewertung des beweglichen Betriebsvermögens
anhand der vorgelegten Inventarliste vom Juli 1933 entsprechend der Rechtsauffassung
des Gerichts neu zu bescheiden und im Rahmen der anschließenden Neufestsetzung
der Entschädigung die damals auf dem Unternehmensgrundstücks lastenden
Verbindlichkeiten von 130.000,-- RM nur zur Hälfte abzuziehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils
beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Entschädigung für den verfolgungsbedingten Verlust des früheren
Unternehmens V. R. GmbH.
Im Rahmen des Wiederaufbaus nach einem Saalbrand im März 1927, von dem das
massive Vorderhaus des Gastwirtschaftsbetriebes und Teile des Inventars verschont
blieben, wurde am 1. Oktober 1927 die „V. R. GmbH“ mit dem Betriebsgegenstand
„Betrieb von Gast- und Schankwirtschaften, Kinos und Theatern mit allen einschlägigen
Geschäften ohne Ausnahme“ gegründet. Gesellschafter waren die Freie Turn- und
Sportvereinigung K. e.V., ein Arbeitersportverein, der als Sacheinlage, berechnet mit
einem Wert von 8.800 RM die ihr gehörige Gastwirtschaft „Z. R.“ nebst dem 4.810 m²
großen Grundstück in die Gesellschaft einbrachte, und 11 Mitglieder der Freien
Gewerkschaften. Deren - nicht vererbliche - Anteile waren beim Ausscheiden freien
gewerkschaftlichen Verbänden bzw. deren Ortsvereinen, in einem Fall dem Ortsverband
der SPD bzw. der Konzentration sozialdemokratischer Betriebe AG Berlin zum Nennwert
anzubieten. Im Jahr 1928 wurde das Stammkapital der Gesellschaft von 20.000 auf
20.500 RM erhöht, wobei Inhaber der Stammeinlage der örtliche Konsumverein war.
In einer 1928 anlässlich der Einweihung der neuen Festsäle herausgegebenen Festschrift
wird u.a. ausgeführt, der große Saal sei 24 m lang und 19 m breit, der kleine Saal 10,40
m lang und 9,40 m breit. Der große Saal fasse 900 Personen, wenn Stuhlreihen gesetzt
seien, dazu komme noch eine Galerie gegenüber der Bühne mit Platz für 100 Personen.
Die Bühnenöffnung sei 9 m breit. Die Bühneneinrichtung sei das Neueste auf diesem
Gebiet, die schwenkbaren Eisenarme der Garderoben könnten Kleidung für 700
Personen aufnehmen. In dieser Festschrift wird ferner darauf verwiesen, dass die neu
gegründete Freie Volksbühne demnächst ihre Vorstellungen in den Räumlichkeiten des
Volkshauses eröffnen werde.
Im Handbuch der GmbH von 1932 ist das Volkshaus mit dem Gegenstand „Betrieb von
Gast- und Schankwirtschaften, Kinos“ und zwei Geschäftsführern verzeichnet. Der
Einheitswert 1931 des Betriebsgrundstücks wurde durch das Finanzamt G. am 6. April
1932 auf 119.400,-- RM festgesetzt.
Am 9. Mai 1933 wurde durch Beschluss des Generalstaatsanwalts beim Landgericht
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Am 9. Mai 1933 wurde durch Beschluss des Generalstaatsanwalts beim Landgericht
Berlin das Vermögen der SPD und der freien Gewerkschaften sowie aller ihnen
angeschlossenen Vermögensverwaltungen beschlagnahmt und als
verfügungsberechtigter Pfleger der Führer der Deutschen Arbeitsfront Dr. Ley
eingesetzt. Durch Pachtvertrag vom 13. Juni 1933 überließ die Klägerin das V. „R.“ mit
sämtlichem Inventar der Stadt Kahla. Hierbei wurde eine Liste des Ende Juni 1933
übernommenen Inventars erstellt (Inventarliste vom 26. Juli 1933). Durch Beschluss vom
5. Juli 1933 löste sich die V. R. GmbH auf. Im Rahmen eines
Zwangsversteigerungsverfahrens im Januar 1935 erwarb die Vermögensverwaltung der
Deutschen Arbeitsfront das Unternehmensgrundstück. Zu diesem Zeitpunkt waren
Grundpfandrechte in Höhe von insgesamt 130.000,-- RM/GM ins Grundbuch eingetragen.
Das Unternehmensgrundstück wurde 1948 der Vermögensverwaltung des Freien
Deutschen Gewerkschaftsbundes GmbH übertragen und 1959 im Wege eines
Tauschvertrages des FDGB in Volkseigentum überführt, wobei als Rechtsträger der Rat
der Stadt Kahla eingesetzt wurde.
Nachdem 1990/91 Restitutionsantrag gestellt worden war, wurde das Grundstück im
November 1991 auf einen Eigeninvestitionsantrag der Gemeinde Kahla investiv
veräußert, wobei der Erlös von 27.098,47 € ausgekehrt wurde.
Mit Entschädigungsgrundlagenbescheid vom 3. November 2000 des Thüringer
Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen wurden die Berechtigung der
Klägerin, ihre Erlösauskehrberechtigung sowie der Ausschluss der Rückübertragung des
früheren Unternehmens und des Unternehmensgrundstücks festgestellt. Die hiergegen
vor dem Verwaltungsgericht Gera erhobene Klage der Stadt Kahla wurde in der
mündlichen Verhandlung am 21. Februar 2002 zurückgenommen.
Mit Anhörungsschreiben des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom
21. Januar 2005 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr kein Anspruch gegen den
Entschädigungsfonds wegen des Eigentumsverlusts am Unternehmen V. R. GmbH
zustehe. Der Schätzwert des beweglichen Betriebsvermögens sei im Wege der
Ersatzeinheitswertfestsetzung nach § 5 der 6. FeststellungsDV mangels Ermittelbarkeit
von Betriebsmerkmalen anhand der Mindestwerte der Richtzahlentabellen Nr. 85 -
Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe: Saalgeschäfte - und Nr. 86 - Gaststätten- und
Beherbergungsgewerbe: Schankwirtschaften - mit 1.250 RM zu berechnen. Zu addieren
sei der zum 1. Januar 1931 festgestellte Einheitswert des Betriebsgrundstücks von
119.400 RM. Die sich hieraus ergebende Summe von 120.650 RM werde jedoch von den
festgestellten Verbindlichkeiten von 130.000 RM überschritten, so dass der Gesamtwert
des Unternehmens mit Null zu berechnen sei.
Demgegenüber machten die Verfahrensbevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz
u.a. geltend, die Grundpfandrechte seien erst nach der Vervielfachung des Einheitswerts
des Betriebsgrundstücks und nur zur Hälfte in Abzug zu bringen. Hinsichtlich des
beweglichen Betriebsvermögens dürfe nicht auf das so genannte Richtzahlenverfahren
zurückgegriffen werden. Denn hier lägen Unterlagen bzw. Informationen vor, die eine
konkrete (Mindest)Berechnung ermöglichten. Dabei müsse die Bewertung in Anlehnung
an die Regelungen in den früheren Wiedergutmachungsverfahren in der Bundesrepublik
erfolgen. Verwiesen werde insoweit auf einen Auszug aus dem Bericht der Deutschen
Revisionstreuhand AG (Verzeichnis der Einrichtungsgegenstände im
Hauptverwaltungsgebäude des Deutschen Holzarbeiterverbandes in Berlin). Auf den
Restaurationsbetrieb entfielen danach 10.000 RM, auf die 1500 Stühle in den beiden
Sälen 9.750 RM und auf sechs Tische 180 RM, insgesamt somit zumindest 19.930 RM.
Durch den streitgegenständlichen Bescheid des früheren Bundesamtes zur Regelung
offener Vermögensfragen vom 12. Mai 2005 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin
keinen Anspruch gegen den Entschädigungsfonds besitze. Zur Begründung wird im
Wesentlichen geltend gemacht, die klägerischerseits eingereichten Aufstellungen und
Bewertungen von Inventaren eines anderen Objekts nach dem seinerzeitigen
Bundesrückerstattungsgesetz seien vorliegend nicht verwertbar. Es handele sich um ein
völlig anderes und nicht vergleichbares Unternehmen. Bei dieser Sachlage sei deshalb
der Rückgriff auf die Mindestwertregelung in § 5 Abs. 3 der 6. FeststellungsDV geboten.
Nicht zu beanstanden sei auch der Abzug der festgestellten Verbindlichkeiten in voller
Höhe, d.h. mit 130.000 RM und dies vor der Vervierfachung nach § 2 NS-VEntschG.
Zur Begründung der am 1. Juni 2005 erhobenen Klage macht die Klägerin unter
Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens im Wesentlichen Folgendes geltend:
Die auf das Betriebsgrundstück entfallenden Verbindlichkeiten seien nur zur Hälfte in
Abzug zu bringen und zwar erst nach Vervierfachung der Summe aus dem Einheitswert
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
Abzug zu bringen und zwar erst nach Vervierfachung der Summe aus dem Einheitswert
des Grundstücks und dem Schätzwert des beweglichen Vermögens. Die diesbezügliche
Schätzung sei auf der Grundlage der nunmehr vorgelegten Inventarliste des
Unternehmens vom 26. Juli 1933 und den vorliegenden Wertangaben hinsichtlich
Restauration, Tischen und Stühlen in der Bewertung der Deutschen Revisionstreuhand
AG und des Eisenbahner-Erholungsheims Damme möglich. Angesichts dieser
Unterlagen sei der Rückgriff auf das Richtzahlenverfahren rechtswidrig.
Die Entschädigung sei somit wie folgt zu berechnen: Die Summe aus dem Einheitswert
des Betriebsgrundstücks in Höhe von 119.400 RM und dem Schätzwert für das
bewegliche Vermögen von 19.930 RM sei mit dem Faktor 4 zu multiplizieren, woraus sich
ein Betrag von 557.320 RM ergebe. Hiervon seien die Hypotheken mit 65.000 RM
abzuziehen. Nach Umrechnung ergebe sich somit ein Entschädigungsbetrag von
251.719,21 €. Hiervon sei der bereits ausgekehrte Veräußerungserlös von 27.098,45 €
abzuziehen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes zur
Regelung offener Vermögensfragen vom 12. Mai 2005 zu verpflichten festzustellen, dass
ihr über den festgesetzten Entschädigungsanspruch ein weiterer
Entschädigungsanspruch in Höhe von 224.620,74 € nebst Zinsen in Höhe von 0,5 %
monatlich ab dem 1. Januar 2004 bis zum Kalendermonat vor Bekanntgabe des neuen
Bescheides zustehe.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie wiederholt und vertieft im Wesentlichen ihre bisherigen Ausführungen und macht
ergänzend Folgendes geltend:
Die nunmehr vorliegende Inventarliste lasse eine Schätzung nicht zu, da weiterhin
zuverlässige Wertangaben fehlten. Die klägerischerseits benannten Unterlagen beträfen
keine vergleichbaren Unternehmen. Maßgeblich sei auch nicht der Wert der einzelnen
Inventargegenstände, sondern der Wert des gesamten Unternehmens. Die Inventarliste
lasse auch keinen Rückschluss auf eines der Betriebsmerkmale in der 6. FeststellungsDV
zu. Zudem seien Inventargegenstände als „übrige Vermögenswerte“ im Sinne des § 2
Satz 8 NS-VEntschG anzusehen und deshalb deren Wert nicht zu vervierfachen, sondern
nur zu verdoppeln.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (6 Hefter und 1 Leitzordner)
verwiesen, die vorgelegen haben und - soweit erheblich - Gegenstand der mündlichen
Verhandlung und Entscheidung waren.
Entscheidungsgründe
Die Verpflichtungsklage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang
auch begründet, im Übrigen jedoch unbegründet. Der Klägerin steht gemäß § 113 Abs. 5
VwGO ein Anspruch auf Neubescheidung zu, da der Bescheid des Bundesamtes zur
Regelung offener Vermögensfragen vom 12. Mai 2005 teilweise rechtswidrig ist und die
Klägerin in ihren Rechten verletzt. Zwar ist die Beklagte zur Schätzung des Wertes des
früheren Unternehmens V. R. GmbH gemäß § 4 Abs. 3 NS-VEntschG berechtigt und der
gewählte Berechnungsmodus im Grundsatz nicht zu beanstanden; jedoch waren die auf
dem Unternehmensgrundstück lastenden Grundpfandrechte lediglich mit der Hälfte
ihres zum Zeitpunkt der Schädigung valutierenden Nennwertes abzuziehen und ist die
Bewertung des sonstigen Unternehmensvermögens, mithin von Einrichtungen und
Inventar, auf der Grundlage der Mindestwerte des Richtzahlenverfahrens angesichts der
hier vorliegenden Unterlagen fehlerhaft.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 NS-VEntschG hat der Berechtigte einen Anspruch auf
Entschädigung in Geld gegen den Entschädigungsfonds, wenn in den Fällen des § 1 Abs.
6 VermG die Rückgabe ausgeschlossen ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Denn das Thüringer Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen hat durch
Bescheid vom 3. November 2000 bestandskräftig festgestellt, dass der Klägerin aus
dem verfolgungsbedingten Verlust ihres - nicht zu restituierenden - Unternehmens im
Mai 1933 dem Grunde nach ein Anspruch auf Entschädigung und Erlösauskehr zusteht.
In der Frage der Berechnung der Entschädigungshöhe stellt der streitgegenständliche
24
25
26
27
28
In der Frage der Berechnung der Entschädigungshöhe stellt der streitgegenständliche
Bescheid des früheren Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 12.
Mai 2005 zu Recht auf § 2 Satz 2 und 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG i.V.m. § 4 Abs. 3
EntschG ab. Danach ist die Bemessungsgrundlage zu schätzen, soweit sie nicht nach § 4
Abs. 1 und 2 EntschG zu ermitteln ist. Dies ist zwischen den Beteiligten ebenso
unstreitig wie der Umstand, dass hierbei - mangels Kenntnis eines
Unternehmenseinheitswertes oder Ersatzeinheitswertes bzw. Kenntnis des
Reinvermögens - eine Ersatzeinheitswertberechnung des Unternehmens auf der
Grundlage seiner Vermögenswerte anzustellen ist. Hierzu gehören alle Teile der
wirtschaftlichen Einheit, die dem Betrieb eines Gewerbes als Hauptzweck dienen, soweit
die Wirtschaftsgüter dem Betriebsinhaber gehören (vgl. § 44 Abs. 1
Reichsbewertungsgesetz vom 22. Mai 1931 und gleichlautend § 54 Abs. 1
Reichsbewertungsgesetz vom 16. Oktober 1934). Hierzu zählt auch das dem Betrieb
dienende und dem Unternehmen gehörende Inventar (vgl. auch § 44 Abs. 2 und 3
Reichsbewertungsgesetz 1931 und § 59 Reichsbewertungsgesetz 1934). Soweit dem
Schriftsatz der Beklagten vom 12. Februar 2008 etwas anderes zu entnehmen sein
sollte, ist dies unzutreffend.
Richtig ist allerdings die dortige Annahme, dass bei der Ermittlung des Einheitswertes
eines Unternehmens die betrieblichen Schulden abzuziehen sind (vgl. § 47
Reichsbewertungsgesetz 1931 bzw. § 62 Reichsbewertungsgesetz 1934). Ist - wie
vorliegend - der Wert eines Unternehmens im Wege der Schätzung zu ermitteln, kann
nichts anderes gelten. Dies entspricht auch der Regelung in § 6 Abs. 2 der 6.
FeststellungsDV und der ständigen Rechtsprechung aller für das Entschädigungsrecht
zuständigen Kammern des Verwaltungsgerichts Berlin. Dementsprechend sind die auf
einem Betriebsgrundstück lastenden Grundpfandrechte bei der Schätzung nach § 4 Abs.
3 EntschG vor der Vervierfachung vom maßgeblichen Einheitswert abzuziehen.
Infolgedessen kann das anderweitige Begehren der Klägerin, die auf dem Grundstück
des Unternehmens V.R. GmbH lastenden Grundpfandrechte im Umfang der Regelung in
§ 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG erst nach Vervierfachung abzuziehen, keinen Erfolg
haben und war die Klage hinsichtlich dieses höheren Entschädigungsbegehrens
abzuweisen.
Zu Recht macht die Klägerin jedoch geltend, die Beklagte habe diese Grundpfandrechte
nur mit der Hälfte ihres zum Zeitpunkt der Schädigung valutierenden Nennwertes
abziehen dürfen. Die entsprechende Regelung in § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG
betrifft nach ihrem eindeutigen Wortlaut alle Fälle der Anwendung des § 3 Abs. 4 EntschG
und ist weder ausdrücklich noch sinngemäß auf die Fälle einer Wertbemessung von
Grundvermögen oder land- und forstwirtschaftlichem Vermögen beschränkt, so dass für
Betriebsvermögen nach § 4 EntschG eine Ausnahme gelten würde. Dies entspricht auch
der ständigen Rechtsprechung aller für das Entschädigungsrecht zuständigen Kammern
des Verwaltungsgerichts Berlin und ist bereits durch Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2006 - 5 C 2.06 - für den Fall der so genannten
Reinvermögensermittlung nach § 4 Abs. 2 EntschG entschieden worden. Bereits in dieser
Entscheidung hat der zuständige 5. Senat ausdrücklich ausgeführt, dass hiervon „alle
Fälle einer Anwendung des § 3 Abs. 4 EntschG, soweit dieser nach § 2 NS-VEntschG
anzuwenden ist“, betroffen sind. Zwischenzeitlich hat das Bundesverwaltungsgericht
dies für den hier einschlägigen § 4 Abs. 3 EntschG i.V.m. § 2 NS-VEntschG durch Urteil
vom 13. Dezember 2007 ausdrücklich bestätigt. Vorliegend hätte die Beklagte
dementsprechend die auf dem Betriebsgrundstück lastenden Grundpfandrechte nicht in
voller Höhe, sondern nur hälftig, d.h. mit 65.000,-- RM in Abzug bringen dürfen, so dass
die Klage insoweit Erfolg haben muss.
Unzulässig ist bei der Entschädigungsberechnung nach § 4 Abs. 3 EntschG i.V.m. § 2
NS-VEntschG im vorliegenden Fall auch der Rückgriff der Beklagten auf die Mindestwerte
der Richtzahlentabellen Nr. 85 und 86 zu § 4 der 6. FeststellungsDV vom 23. März 1956.
Zwar hat der Gesetzgeber einen solchen Rückgriff im Grundsatz durchaus für zulässig
gehalten, wie die Begründung des Entwurfs des EALG belegt (BT-Drs. 12/4887, S. 34):
„Als Anhaltspunkt für die Schätzung können z.B. die Verhältnisse bei vergleichbaren
Unternehmen herangezogen werden. Soweit dies zweckmäßig ist, kann auf die für die
Zwecke des Lastenausgleichs entwickelten Bewertungsverfahren zurückgegriffen
werden.“
Dementsprechend kommt ein Rückgriff auf das so genannte Richtzahlenverfahren im
Rahmen der Schätzung des Unternehmenswertes auch nach ständiger Rechtsprechung
der Kammer vielfach durchaus in Betracht, woran das Gericht auch festhält. Denn die
Betriebsmerkmale eines Unternehmens lassen Rückschlüsse auf den
Unternehmenswert bzw. einen zu berechnenden Ersatzeinheitswert zu. In den durch
Rechtsverordnung zu § 4 der 6. FeststellungsDV festgesetzten Richtzahlentabellen ist
29
30
31
32
33
34
Rechtsverordnung zu § 4 der 6. FeststellungsDV festgesetzten Richtzahlentabellen ist
das entsprechende Erfahrungswissen aus den lastenausgleichsrechtlichen Verfahren -
und damit auch den Wiedergutmachungsverfahren - in der Zeit nach Gründung der
Bundesrepublik sachverständig zusammengefasst.
Die Kammer stellt auch die Regelung in § 5 Abs. 3 der 6. FeststellungsDV nicht generell
in Frage, wonach für das Betriebsvermögen - allerdings mit Ausnahme des Wertes der
Betriebsgrundstücke - der Mindestersatzeinheitswert zugrunde zu legen ist, wenn
keinerlei Betriebsmerkmale bewiesen oder glaubhaft gemacht worden sind. Hinter dieser
Regelung steckt ersichtlich der (zutreffende) Gedanke, dass ein Unternehmen stets
auch sonstiges Betriebsvermögen besitzt und deshalb wenigstens vom entsprechenden
Mindestwert der Tabelle auszugehen ist.
Vorliegend jedoch ist ein Rückgriff auf diese Mindestwerte offensichtlich verfehlt und
rechtswidrig. Dabei ist schon zu berücksichtigen, dass das V.R. nach den
klägerischerseits vorgelegten Dokumenten einen großen Saal- und
Schankwirtschaftsbetrieb besaß, darunter einen großen Saal mit ca. 1.000 Plätzen und
ferner einen flächenmäßig ca. halb so großen Saal, worin Gewerkschafts-, Partei- und
Sportvereinsversammlungen, aber auch Theateraufführungen stattfanden; hinzu kam
ein Kegelbahnbetrieb. Jedenfalls aber hat die Klägerin wenige Tage vor der mündlichen
Verhandlung die Inventarliste des Unternehmens anlässlich der Übergabe des Betriebs
an die Stadt Kahla im Rahmen des Pachtvertrags vom 13. Juni 1933 vorgelegt. Diese
Liste des Ende Juni 1933 übernommenen Inventars kann der Bewertung des beweglichen
Betriebsvermögens des V.R. deshalb zugrunde gelegt werden, weil sie nur wenige
Wochen nach dem Schädigungszeitpunkt am 9. Mai 1933 erstellt wurde und nichts dafür
spricht, dass in der - kurzen - Zeit nach der Beschlagnahme etwa zusätzliches Inventar
angeschafft und auf die Liste gesetzt wurde.
Dass in dieser Inventarliste keine Werte der benannten Inventargegenstände enthalten
sind und die klägerischerseits herangezogenen Werte der Bewertung der Deutschen
Revisionstreuhand AG und des Eisenbahner-Erholungsheims Damme nicht zwangsläufig
zutreffend sein müssen, da ein gewerkschaftliches Verwaltungsgebäude mit
Restaurationsbetrieb in Berlin bzw. ein gewerkschaftliches Erholungsheim andernorts
keineswegs ein vergleichbares Restaurations- und Möbelinventar aufweisen muss, steht
einer Bewertung nicht entgegen. Denn es liegt nahe, dass unter Berücksichtigung des
Charakters und des Zwecks als Volks- bzw. Gewerkschaftshaus - hiervon gab es 1929
ca. 150 - gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe entsprechender Institutionen,
behördlicher Stellen oder unmittelbar von Sachverständigen Werte, gegebenenfalls auch
Mindestwerte der einzelnen Inventargegenstände, im Rahmen einer Schätzung ermittelt
werden können. Von hiernach ermittelten Neuwerten wären gegebenenfalls
entsprechende Abschreibungen abzuziehen (vgl. dazu auch die DB-Betriebsvermögen S.
72).
Die somit erforderliche und auch mögliche Schätzung des Wertes des Inventars des V.R.
obliegt der Beklagten, die zur entsprechenden Neubescheidung verpflichtet ist. Zwar
haben die Verwaltungsgerichte regelmäßig die so genannte Spruchreife des Verfahrens
herbeizuführen; dies gilt aber nicht in Fällen wie dem vorliegenden, wo es einer
Schätzung bedarf. Denn insoweit ist der „grundsätzliche Entscheidungsvorrang der
Behörde“ zu beachten. Die Schätzung ist „zunächst Aufgabe des Vermögensamtes ...,
während das Verwaltungsgericht lediglich zur rechtlichen Kontrolle dieser
vermögensbehördlichen Entscheidung berufen ist“ (BVerwG, Urteil vom 19. Mai 2005 - 7
C 22.04 -, ZOV 2005, 305 zum vergleichbaren Fall einer Schätzung nach § 7 Abs. 1 Satz
2 VermG, vgl. auch Urteil der Kammer vom selben Tag, VG 29 A 5/05).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Entscheidung über
die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
Die Berufung gegen dieses Urteil ist ausgeschlossen (§ 4 NS-VEntschG i.V.m. § 37 Abs.
2 VermG). Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO
genannten Gründe vorliegt (vgl. § 135 VwGO).
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum