Urteil des VG Berlin vom 13.03.2017

VG Berlin: besondere härte, behinderung, zustand, aufenthaltserlaubnis, trennung, gesellschaft, eltern, ausnahme, kosovo, vollstreckung

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Gericht:
VG Berlin 4. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 V 55.07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 30 Abs 1 AufenthG, § 25 Abs 1
AufenthG, § 154 Abs 1 VwGO
Antrag auf Familiennachzug aus dem Kosovo
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aus dem Urteil
vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrags leistet.
Tatbestand
Die Kläger zu 1) bis 4) wollen zu ihrem Vater bzw. Ehemann, dem Kläger zu 5) (F.),
nachziehen.
Die Kläger stammen aus dem Kosovo. Der Kläger F. beantragte 1993 in Deutschland
Asyl und gab dazu an, er habe aus Rache einen Polizisten erschossen, der seine Frau
vergewaltigt habe. Der Asylantrag hatte keinen Erfolg. 1996 stellte er einen Folgeantrag,
der ebenfalls erfolglos war. 1997 ließen sich die Kläger F. und B. scheiden. 1999 heiratete
er eine Deutsche, wegen deren zweifacher Vergewaltigung er im Jahr 2000 zu einer auf
Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, und erhielt eine
Aufenthaltserlaubnis. 2002 wurde die Ehe geschieden. Im Juni 2006 erhielt er eine
Niederlassungserlaubnis. Anfang 2007 heiraten die Kläger F. und B. erneut. Mitte 2007
stellten die Klägerinnen zu 1) bis 4) Visumsanträge, die die Beklagte mit Bescheid ihres
Verbindungsbüros in Pristina vom 23. Juli 2007 ablehnte, weil der Ehemann/Vater nicht in
der Lage sei, ihren Lebensunterhalt zu sichern und die örtliche Ausländerbehörde ihre
Zustimmung verweigert habe.
Die Kläger haben am 23. August 2007 Klage erhoben und machen unter Vorlage
ärztlicher Atteste geltend: Die Klägerin B., die eine achtjährige Grundschule mit
zweijährigem Englischunterricht erfolgreich abgeschlossen habe, habe mit erheblichen
psychischen Schwierigkeiten zu kämpfen, die ihr beim Erlernen fremder Sprachen
besondere Schwierigkeiten bereiteten. Bei ihr bestehe eine „Insufitientio intelectualis“
mit Rückbildung der psychischen Entwicklung. Aufgrund der Schwierigkeiten, die sie mit
der Familie ihres Ehemannes gehabt habe, sowie aufgrund der Unzufriedenheit der
Kinder, die die Trennung der Eltern nicht verarbeiten bzw. akzeptieren könnten, bestehe
bei ihr eine Verzögerung der intellektuellen Entwicklung. Diese Elemente seien
möglicherweise die Gründe, die ihr Schwierigkeiten beim Erlernen einer Fremdsprache
machten. Es sei vorstellbar, dass die lang andauernde Trennung der Klägerin B. von
ihrem Ehemann dazu führe, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten verkümmerten. Eine
erzwungene Trennung könne auf Lebenslust und Lebensfreude hemmend wirken, was
sich etwa auf die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft negativ auswirken könne.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den Lebensunterhalt der Kläger für ungesichert, sieht es als fraglich an, ob der
Familie ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht, und meint, dass von der Klägerin
zu 4) Sprachkenntnisse zu fordern, bei ihr aber nicht vorhanden sind.
Die Beigeladene hat sich zur Unterhaltssicherung und zur Wohnraumversorgung
geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der
Kammer ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die die Klägerinnen betreffenden Visumsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen
sowie die beiden Bände der Ausländerakte des Klägers zu 5) haben vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, obgleich die Kläger keinen Antrag gestellt haben. Denn aus dem
Gesamtergebnis des Verfahrens ergibt sich, dass sie begehren,
den Bescheid des Verbindungsbüros der Beklagten in Pristina vom 23. Juli 2007
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägerinnen Visa zum Nachzug zum
Kläger zu 5) zu erteilen.
Die Klage ist unbegründet, weil die Versagung rechtmäßig ist (§ 113 Abs. 5 VwGO).
A. Die Klage der Ehefrau des Klägers F. scheitert daran, dass sie sich nicht zumindest
auf einfache Weise in deutscher Sprache verständigen kann. Das verlangt § 30 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Zwar ist die Norm in einigen Fällen unbeachtlich (§ 30 Abs. 1
Sätze 2 und 3 AufenthG). Doch sind die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt.
Weil der Kläger F. keinen Aufenthaltstitel nach den §§ 19 bis 21 AufenthG besitzt bzw.
besaß und auch nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die
Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehatte, kommt eine
Ausnahme nach § 30 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht.
Ein Fall des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AufenthG ist nicht gegeben, weil der Kläger F. zwar
als Asylbewerber einreiste, mit seinen Anträgen aber keinen Erfolg hatte und sein
Aufenthaltstitel nicht auf den §§ 25 Abs. 1 oder 2, 26 Abs. 3 AufenthG beruht.
Daneben erörterungsbedürftig ist allenfalls noch die Ausnahme des § 30 Abs. 1 Satz 3
Nr. 2 AufenthG. Die Regelung zum Spracherfordernis ist danach unbeachtlich, wenn der
Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder
Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache
nachzuweisen. Die Klägerin B. ist zwar nicht in der Lage, solche Kenntnisse
nachzuweisen, weil sie sie nicht hat. Jedoch fehlt es ihr an einer entsprechenden
Krankheit oder Behinderung.
Unter „Behinderung“ wird im deutschen Recht verstanden, dass die körperliche Funktion
eines Menschen, seine geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen
Zustand abweicht und daher die Teilhabe des Menschen am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, § 3 Behindertengleichstellungsgesetz).
Es gibt keinen Anhalt für ein anderes Begriffsverständnis im Ausländerrecht. Ein solcher
ergibt sich nicht aus dem zur Ratifizierung anstehenden Übereinkommen der Vereinten
Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
(vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/10808), das in Art. 1 Abs. 2 definiert, wer zu
den Menschen mit Behinderungen zählt. Danach sind es Menschen, die langfristige
körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in
Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und
gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Anders als in den
bisherigen gesetzlichen Definitionen fehlt hier der Maßstab für die Beeinträchtigung.
Doch dürfte er auch im Rahmen des Übereinkommens im typischen Zustand eines
Lebensaltersgleichen zu finden sein. Jemand ist nicht bereits deshalb behindert, weil
etwa seine Körperkräfte altersgerecht nachlassen, mithin gegenüber seinem früheren
Zustand beeinträchtigt sind. Mit der Ausrichtung an einem typischen Zustand kommt
eine Bandbreite von Zuständen weit unterhalb der maximalen menschlichen
Leistungsfähigkeit in den Blick.
Davon ausgehend sieht sich das Gericht nicht in der Lage, in der attestierten
„Insufitientio intelectualis“ und der „Rückbildung der psychischen Entwicklung“ (Bl. 53
d.A.) eine Behinderung der Klägerin B. zu erkennen. Sie mag „nicht mehr ganz die Alte“
sein, mag an Fähigkeiten verlieren, was sie einst hatte. Doch zeigt das nicht, dass damit
bereits der typisch bestimmte Rahmen nach unten verlassen ist. Der fachärztliche
Bericht vom 13. November 2008 (Bl. 66 d.A.), mit dem die Kläger wohl auf die
gerichtliche Auflage vom 27. Oktober 2008 (Bl. 60 d.A.) reagiert haben, bringt keine
weiterführende Erkenntnis. Zu weiteren Ermittlungen sieht sich das Gericht angesichts
dessen nicht veranlasst.
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Selbst wenn man aber den ärztlich beschriebenen Zustand als Behinderung der Klägerin
B. wertete, käme man nicht zur Unbeachtlichkeit des Spracherfordernisses. Denn es
lässt sich nicht sagen, dass sie wegen dieser Behinderung nicht einmal einfache
Kenntnisse der deutschen Sprache erlangen kann. Das erste Attest spricht von
Schwierigkeiten, fremde Sprachen zu lernen. In dieser Allgemeinheit dürfte es sich um
ein verbreitetes Phänomen handeln, wie man es auch an allgemeinbildenden Schulen
bei Nichtbehinderten täglich beobachten könnte. Gleichwohl wird erwartet, dass sich am
Nachzug Interessierte über diese Schwierigkeiten hinwegsetzen bzw. sich trotz ihrer auf
das Erlernen der deutschen Sprache einlassen. Das zweite Attest nennt auch nur diese
Schwierigkeiten, deren Ursache es übrigens nur in „diesen Elementen“ der familiären
Gegebenheiten vermutet.
Ob der Zustand der Klägerin B. Krankheitswert hat, kann offenbleiben, weil auch dafür
die vorstehenden Erwägungen zur Ursächlichkeit für das Fehlen der Sprachkenntnisse
gelten.
§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist gültiges Recht, an das das Gericht gebunden ist
(Art. 20 Abs. 3 GG). Das Verfahren ist nicht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen.
Denn das setzte voraus, dass das Gericht die Norm für verfassungswidrig hält, wofür
etwa Bedenken, wie sie zuweilen in Bezug auf diese Norm geäußert werden mögen, nicht
reichten. Auch in Anbetracht der dezidiert positiven Wertungen (= Norm ist
verfassungsgemäß), die in der Rechtsprechung des Berliner Verwaltungsgerichts
vorherrschen, ist die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm im Falle
einer Ehe unter Ausländern außer Reichweite.
B. Die auf den Kindernachzug gerichtete Klage ist danach unbegründet, weil nicht beide
Eltern eine Aufenthaltserlaubnis besitzen/erhalten (§ 32 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG), der
Kläger F. keine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt (§ 32 Abs. 2a
AufenthG) und hier keine besondere Härte zu vermeiden ist (§ 32 Abs. 4 AufenthG).
Eingedenk der frühen Ausreise des Klägers F., der Ehescheidung und späten
Wiederverheiratung vermag das Gericht nicht einmal eine Härte zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Erstattungsfähigkeit der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ist nicht anzuordnen gewesen (§ 162 Abs. 3
VwGO). Die vorläufige Vollstreckbarkeit ist nach § 167 VwGO und den §§ 708 Nr. 11, 711
Satz 1 ZPO auszugestalten gewesen.
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