Urteil des VG Arnsberg vom 03.11.2005

VG Arnsberg: neue beweismittel, ablauf des verfahrens, politische verfolgung, beweiswert, echtheit, rechtsschutz, urkunde, bundesamt, stadt, zivilprozessordnung

Verwaltungsgericht Arnsberg, 1 L 929/05.A
Datum:
03.11.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 929/05.A
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, die Mitteilung des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 des Asylverfahrensgesetzes vom
26. September 2005 über die Nichtdurchführung eines weiteren
Asylverfahrens an die Ausländerbehörde der Stadt Hamm in Bezug auf
den Antragsteller zu 1) vorläufig, bis zum Abschluss des
Klageverfahrens 1 K 2282/05.A, zurückzunehmen.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des
Antragstellers zu 1) und ein Fünftel ihrer eigenen außergerichtlichen
Kosten. Die Antragsteller zu 2) bis 5) tragen jeweils ihre eigenen
außergerichtlichen Kosten und je ein Fünftel der außergerichtlichen
Kosten der Antragsgegnerin. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe:
1
Der sinngemäß gestellte Antrag,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die
Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 des
Asylverfahrensgesetzes vom 26. September 2005 über die Nichtdurchführung eines
weiteren Asylverfahrens an die Ausländerbehörde der Stadt Hamm vorläufig, bis zum
Abschluss des Klageverfahrens 1 K 2282/05.A, zurückzunehmen,
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ist gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft.
Nur dieser Antrag ist geeignet, dem Begehren der Antragsteller zum Erfolg zu verhelfen,
bis zum Abschluss des ihren Asylfolgeantrag betreffenden Klageverfahrens die
Abschiebung zu verhindern.
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Der Antrag ist jedoch nur in Bezug auf den Antragsteller zu 1) begründet. Denn nur
dieser hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3
VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -).
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Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren
Asylantrages erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), ist gemäß § 71 Abs. 1 des
Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
(VwVfG) vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt. Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3
VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung
eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem
Verwaltungsakt zu Grunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten
des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem
Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2), oder
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr.3). Der
Folgeantragsteller hat die Tatsachen oder Beweismittel anzugeben, aus denen sich das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt (§ 71 Abs. 3
AsylVfG).
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Es genügt, dass der Folgeantragsteller die Änderung der Sachlage substantiiert und
glaubhaft vorträgt. Werden als neue Beweismittel Urkunden vorgelegt, so verpflichtet
dies dann nicht zur Durchführung eines Asylfolgeverfahrens, wenn die Urkunden
offensichtlich gefälscht oder beweiswertlos sind. Versucht ein Asylfolgeantragsteller,
mittels Vorlage einer Urkunde Glaubwürdigkeitszweifel aus dem ersten Verfahren
auszuräumen, darf das Gericht den Beweiswert der Urkunde nicht mit dem bloßen
Hinweis auf die (gerade zu widerlegenden) Glaubwürdigkeitszweifel verneinen.
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Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Beschluss vom 12. November 1991 - 2 BvR
1216/91 -, juris-Dokument Nr. KVRE215099101.
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Das Verwaltungsgericht darf nach § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG
einstweiligen Rechtsschutz nur gewähren, wenn es ernstliche Zweifel daran hat, dass
die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG
nicht vorliegen.
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Nach diesen Maßstäben ist dem Antragsteller zu 1) einstweiliger Rechtsschutz zu
gewähren. Der Antragsteller zu 1) hat dem Bundesamt verschiedene Urkunden z.T. im
Original, z.T. in Kopie vorgelegt, um damit Glaubwürdigkeitszweifel aus dem
Asylerstverfahren auszuräumen. Zugleich trägt er damit unter Vorlage entsprechender
Dokumente den neuen Sachverhalt vor, dass gegen ihn im Januar 2002 ein
Strafverfahren eingeleitet worden sei.
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Es lässt sich - jedenfalls im vorliegenden Eilverfahren - nicht feststellen, dass die
vorgelegten Urkunden offensichtlich gefälscht sind. Ihnen kann auch nicht von
vorneherein jeglicher Beweiswert abgesprochen werden. Zwar werden nach dem
Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 30. August 2005, S. 19, von
Asylbewerbern aus der Russischen Föderation und gerade auch aus den russischen
Kaukasusrepubliken häufig gefälschte oder manipulierte oder formal echte, inhaltlich
aber unrichtige Dokumente aller Art vorgelegt; wegen der Lage in Tschetschenien ist es
zudem der Deutschen Botschaft in Moskau derzeit unmöglich, die Echtheit von
Dokumenten aus Tschetschenien zu verifizieren. Deshalb dürfte in vielen Fällen
Urkunden aus Tschetschenien kein oder nur ein geringer Beweiswert zukommen.
Andererseits ist es im vorliegenden Fall, in dem ungewöhnlich viele und detaillierte
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Dokumente vorgelegt worden sind, die aus einer Ermittlungsakte stammen sollen,
möglicherweise doch möglich, die Echtheit der Urkunden zu überprüfen oder zumindest
nähere Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob die in den Dokumenten genannten
Personen tatsächlich existieren und der Ablauf des Verfahrens plausibel erscheint.
Auch könnte möglicherweise festgestellt werden, ob der vorgelegte Fahndungsaufruf
tatsächlich veröffentlicht worden ist. Hierzu könnte nicht allein auf die Hilfe des
Auswärtigen Amtes zurückgegriffen werden, sondern es könnten möglicherweise auch
Auskünfte von anderen Stellen, etwa in Tschetschenien tätigen
Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden. Den Dokumenten kommt auch nicht
allein deshalb kein Beweiswert zu, weil das Gericht im Asylerstverfahren das
Vorbringen der Antragsteller letztlich nicht für glaubhaft gehalten hat. Denn die
Urkunden sollen gerade diese Glaubwürdigkeitszweifel ausräumen. Das Vorbringen im
Erstverfahren war auch nicht in einem Maße widersprüchlich oder unsubstantiiert und
deshalb offensichtlich unwahr, dass in keinem Fall einen andere Entscheidung des
Gerichts ergehen könnte.
Wenn das Gericht im Hauptsacheverfahren die Überzeugung gewinnen sollte, dass die
vorgelegten Urkunden echt und das neue Vorbringen wahr sind, würde dies
voraussichtlich zu einer für den Antragsteller zu 1) günstigeren Entscheidung führen,
denn dieser hätte dann voraussichtlich einen Anspruch auf Feststellung eines
Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
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Das neue Vorbringen und die neu vorgelegten Beweismittel können im Rahmen dieses
Verfahrens auch nicht deshalb unbeachtet bleiben, weil die Antragsteller die Urkunden
erst jetzt vorlegen. Sie haben vorgetragen, sie hätten die Urkunden erst im August
dieses Jahres über einen entfernten Verwandten, der früher als Untersuchungsbeamter
in Tschetschenien gearbeitet habe und jetzt in Naltschik wohne, erhalten. Diesem
Verwandten sei es gelungen, nicht nur Kopien aus der Strafakte zu besorgen, sondern
auch die Erklärungen der Nachbarn zu initiieren und die Vorladungen aufzufinden.
Dieses Vorbringen ist nicht offensichtlich unglaubhaft. Die Frage, ob das Vorbringen bei
Würdigung aller Umstände letztlich als glaubhaft anzusehen ist, muss dem
Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
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In Bezug auf die Antragsteller zu 2) bis 5) ist der Antrag unbegründet. Das neue
Vorbringen und die neuen Beweismittel beziehen sich allein darauf, dass dem
Antragsteller zu 1) politische Verfolgung drohen könnte. Allein daraus kann nicht
geschlossen werden, dass auch in Bezug auf seine Ehefrau und seine Kinder die
Gefahr politischer Verfolgung oder andere, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG begründende Gefahren bestehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
diese bereits im Asylerstverfahren nicht vorgetragen haben, selbst Opfer von Übergriffen
geworden zu sein. Auch jetzt wird nicht vorgetragen, dass den Antragstellern zu 2) bis 5)
auf der Grundlage der neuen Beweismittel mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
Übergriffe drohen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1, 159 Satz 1 VwGO
in Verbindung mit § 100 ZPO und § 83 b AsylVfG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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