Urteil des VG Arnsberg vom 02.08.1999

VG Arnsberg: politische verfolgung, drohende gefahr, anerkennung, bundesamt, demonstration, organisation, ausreise, wohnung, glaubwürdigkeit, wahrscheinlichkeit

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 9 K 582/96.A
02.08.1999
Verwaltungsgericht Arnsberg
9. Kammer
Urteil
9 K 582/96.A
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 29. Januar 1996
verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie
festzustellen, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes vorliegen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Tatbestand:
Der nach eigenen Angaben am 20. August 1970 geborene Kläger stammt aus dem
Stadtteil Veyisefendi der Stadt Erzurum in der gleichnamigen türkischen Provinz. Er ist
türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Der Kläger hat ab 1976 die
Schule besucht und den Schulbesuch im Schuljahr 1989/1990 mit dem Erwerb der
Hochschulzugangsberechtigung abgeschlossen. Anschließend war der Kläger als
mithelfender Familienangehöriger im Lebensmittelgeschäft seines Vaters erwerbstätig. Ab
1991 hielt er sich zu unterschiedlichen Zeiten in Istanbul, Ankara und Izmir auf, wo er unter
einem fremden Namen einer Erwerbstätigkeit im Paketzustelldienst nachging. Seinen
Wehrdienst hat der unverheiratete Kläger bisher nicht abgeleistet.
Am 1. Juni 1995 gelangte der Kläger von Izmir kommend auf dem Luftweg über den
Flughafen Düsseldorf in die Bundesrepublik. Hier suchte er um seine Anerkennung als
Asylberechtigter nach, die er mit anwaltlichem Schriftsatz vom 8. Juni 1995 im
wesentlichen wie folgt begründete: Mehrere Familienangehörige seien als Asylberechtigte
anerkannt. Seit 1989 sei er Mitglied der kommunistischen Partei TKP-B. In seinem
Heimatort Erzurum habe er Flugblätter verteilt und politische Parolen auf Hauswände
geschrieben. Bei einer Demonstration anläßlich des 1. Mai 1990 sei er festgenommen und
für zwei Wochen inhaftiert worden. Während der Haft sei ihm die Nase gebrochen worden.
Erneut festgenommen habe man ihn am 2. Januar 1991 mit vier weiteren Mitgliedern der
TKP-B anläßlich einer Demonstration gegen den Golf-Krieg. Gegen ihn sei Anklage
erhoben worden. Bei einem Transport zum Staatssicherheitsgericht nach Erzincan sei es
zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und Guerillas der PKK
gekommen, in deren Verlauf es ihm mit anderen Mitgefangenen gelungen sei zu fliehen. Er
sei nach Istanbul gelangt, wo er zunächst als Bauarbeiter gearbeitet habe. Ständig habe er
seinen Aufenthaltsort gewechselt, am Arbeitsplatz aber habe er beispielsweise
Zeitschriften verteilt und auch mündliche Propaganda gemacht. Wegen der Vorfälle in
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Sivas habe er im Juli 1993 an einer Demonstration in Istanbul teilgenommen. Anläßlich
einer Demonstration der türkischen Arbeiterbewegung am 15. Juni 1994, an der er auch
teilgenommen habe, seien zwei Freunde festgenommen worden. Bei einer anschließenden
Durchsuchung ihrer Wohnung seien sein Nüfus und Unterlagen über die TKP-B gefunden
worden. Die Freunde seien zwischenzeitlich zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.
Auch gegen ihn sei erneut Anklage erhoben worden. Am 12. März 1995 habe er in Istanbul
mit anderen gegen die Übergriffe auf Aleviten demonstriert. Die Demonstrationsteilnehmer
seien von der Polizei fotografiert worden und er sei nach Ankara geflohen, wo er am 14.
März 1995 auch an einer Demonstration teilgenommen habe. Dabei sei ein Freund
festgenommen worden und er, der Kläger, sei nach Izmir ausgewichen, von wo aus er
schließlich mit einem gefälschten Paß nach Düsseldorf geflüchtet sei.
Am 14. Juni 1995 wurde der Kläger vor dem Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge angehört. Dabei hat er auf Befragen im wesentlichen ausgeführt:
Zu seiner Erwerbstätigkeit könne er sagen, daß er im Paketdienst tätig gewesen sei. Diese
Transport- und Zustelltätigkeit habe er in Istanbul, Izmir und Ankara ausgeübt, allerdings
habe er nicht unter seinem eigenen Namen gearbeitet. Eine Musterungsaufforderung habe
er wohl 1991/1992 erhalten, Folge geleistet habe er dieser Aufforderung jedoch nicht. Sein
Bruder sei Verantwortlicher der TKP-B im Bereich Erzurum gewesen. Die Bezeichnung
TKP-B sei von 1976 bis 1992 richtig gewesen, die neue Bezeichnung laute jetzt TDP. Er
sei auch Mitglied dieser Organisation gewesen und habe beispielsweise Gebietskomitees
in Istanbul, Izmir oder Ankara angehört. In Istanbul habe er eine Wohnung der Partei
bewohnt. Am 15. Juni 1994 seien Mitbewohner dieser Wohnung festgenommen worden.
Bei einer Wohnungsdurchsuchung seien Ausweise und weitere Unterlagen der
Organisation aufgefunden worden. Die Festgenommenen seien zu hohen Haftstrafen
verurteilt worden. Er wisse also, was er zu erwarten habe, wenn man seiner habhaft werde.
Als er am 14. März 1995 in Ankara gewesen sei, habe er bei einem Mitglied der
Organisation gewohnt. Dieser Freund sei dann am 16. März 1995 nach einer
vorangehenden Demonstration bei einer Razzia festgenommen worden. Es sei so
gewesen, daß man ihn überall gesucht habe. Eine weitere Beherbergung in Wohnungen
der Organisation sei nicht mehr möglich gewesen. Über den konkreten Ausreisetermin
habe ein Parteigremium entschieden.
Mit Bescheid vom 29. Januar 1996 lehnte das Bundesamt das Anerkennungsbegehren ab,
stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes und
Abschiebungshindernisse nicht vorlägen und forderte den Kläger unter Androhung der
Abschiebung zum Verlassen der Bundesrepublik auf. Zur Begründung legte es im
wesentlichen dar: Soweit sich der Kläger auf Ereignisse aus dem Jahre 1991 berufe, fehle
der innere Zusammenhang mit seiner Ausreise im Jahre 1995. Was die Einleitung eines
Verfahrens gegen ihn im Jahre 1994 angehe, bestünden erhebliche Zweifel an der Echtheit
der insoweit zum Beleg vorgelegten Dokumente. Im übrigen sei sein Sachvortrag
unsubstantiiert und vage gehalten. Deshalb spreche es gegen seine Glaubwürdigkeit,
wenn er seine Parteiaktivitäten lediglich pauschal beschreibe. Schwierigkeiten wegen
seines als asylberechtigt anerkannten Bruders habe er nicht vorgetragen. Schließlich
könne der Kläger auch wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit auf eine inländische
Fluchtalternative verwiesen werden.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner mit anwaltlichem Schriftsatz vom 6. Februar
1996 erhobenen Klage, zu deren Begründung er in Ergänzung seiner Ausführungen im
Verwaltungsverfahren im wesentlichen geltend macht: Er verweise nochmals auf die
Angaben, die er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt gemacht habe. Zu den im
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Ablehnungsbescheid geäußerten Echtheitszweifeln an den von ihm vorgelegten
Dokumenten bezüglich des Verfahrens aus dem Jahre 1994 sei anzumerken, daß er nur
die Kopie eines Dokuments habe vorlegen können. Daraus lasse sich ohne weiteres
erklären, daß Stempel und Siegel nicht vollständig lesbar seien. Im übrigen dürfe es bei der
Arbeitsweise türkischer Behörden nicht völlig ausgeschlossen sein, daß die
Registriernummer eines Gerichtsschreibers in einem Dokument nicht mit angegeben
werde. Schließlich sei auch von einer Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger in
der Türkei auszugehen. In Deutschland werde er in vielfältiger Form exilpolitisch tätig.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 29. Januar 1996 zu
verpflichten, ihn - den Kläger - als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, daß
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes in seiner Person vorliegen.
Die Beklagte beantragt - schriftsätzlich -,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid.
Der Beteiligte stellt keinen Antrag.
Das Gericht hat Beweis erhoben zu den die Angelegenheit des Klägers betreffenden
Tatsachen durch Vernehmung seines Bruders Hüseyin Aka als Zeugen. Wegen des
Ergebnisses der Zeugeneinvernahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 2. August
1999 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im
übrigen wird auf den Inhalt der Verfahrensakte - hier insbesondere auf die über die
mündliche Verhandlung vom 2. August 1999 gefertigte Niederschrift - und der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Vorgänge der Herren
Hüseyin Aka (C 1 132 857-163) und Ercan Senpolat (C 1 340 396-163) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat den Antrag des Klägers
auf Gewährung politischen Asyls zu Unrecht abgelehnt. Dem Kläger steht ein Anspruch auf
die Anerkennung als Asylberechtigter zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach Artikel 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in der Fassung des Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes (Art. 16 und 18) vom 28. Juni 1993 (BGBl I 1002) genießen
politisch Verfolgte Asylrecht. In inhaltlicher Übereinstimmung mit der aufgehobenen
Regelung des früheren Artikel 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist politisch verfolgt im Sinne des Artikel
16 a Abs. 1 GG, wer wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung gezielt intensiven und
ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzenden
Rechtsverletzungen ausgesetzt ist; der eingetretenen Verfolgung steht die unmittelbar
drohende Gefahr der Verfolgung gleich.
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluß vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.
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a. -, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Bd. 83, S. 216 ff.;
BVerfGE Bd. 80, S. 315 ff.
Das Grundrecht auf Asyl beruht auf dem Zufluchtgedanken und setzt daher grundsätzlich
einen kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Ist der
Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung
ausgereist und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates unzumutbar,
so ist er gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG asylberechtigt, wenn die fluchtbegründenden
Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen. Hat
der Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nur
Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische
Verfolgung droht.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -,
Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerwG, 402.24 § 1
Nr. 146.
Das Asylrecht kann nur derjenige in Anspruch nehmen, der selbst - in eigener Person -
politische Verfolgung erlitten hat oder dem asylerhebliche Zwangsmaßnahmen unmittelbar
drohen und der deshalb gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen
Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. Bei der Prüfung der
Frage, ob sich ein Flüchtling in einer ausweglosen Lage befindet, sind alle Umstände zu
berücksichtigen, die objektiv geeignet sind, bei ihm begründete Furcht vor (drohender)
Verfolgung hervorzurufen. Die Gefahr individueller politischer Verfolgung eines
Asylbewerbers kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn
diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt,
und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit
vergleichbaren Lage befindet.
Vgl.BVerfG, Beschluß vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902.85 u. a. -, aaO.
Entscheidend ist, ob dem Asylsuchenden bei objektiver Würdigung der gesamten
Umstände seines Falles nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatland zu bleiben oder dorthin
zurückzukehren.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, Buchholz, aaO., 402.25 § 1 Nr.
147.
Das Gericht muß sowohl von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des
von dem Asylsuchenden behaupteten individuellen Vorverfolgungsschicksals die volle
Überzeugung gewinnen. Bei der anschließenden Beurteilung, ob dem Asylsuchenden in
seinem Heimatstaat erneute Verfolgung droht, ist hingegen ein abgestufter
Prognosemaßstab anzusetzen; es genügt insoweit die beachtliche Wahrscheinlichkeit, daß
dem Asylsuchenden dort eine weitere Verfolgung droht. Eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit ist zu bejahen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden
Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung
sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den
dagegensprechenden Tatsachen überwiegen.
Vgl. zusammengefaßt in Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG
NW), Beschluß vom 11. März 1994 - 25 A 2670/92.A - m.w.N.
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Dieser herabgestufte Prognosemaßstab gilt auch, soweit sich der Asylsuchende auf nach §
28 AsylVfG relevante Nachfluchtgründe, also auf Umstände, die erst während seines
"Hierseins" entstanden sind oder deren künftiges Entstehen er besorgt, beruft.
Vgl. OVG NW, Beschluß vom 11. März 1994 - 25 A 2670/92.A -; Verwaltungsgerichtshof
(VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 6. September 1993 - A 12 S 1828/91 -.
Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylsuchenden kann schon
allein sein eigener Tatsachenvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern das Gericht unter
Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugt ist.
Vgl. BVerwG, Beschluß vom 21. Juli 1989 - 9 B 239/89 -, Buchholz, aaO., 402.25 § 1 Nr.
113; Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109/84 -, Buchholz, aaO., 402.25 § 1 Nr. 32.
Der Asylsuchende ist gehalten, seine guten Gründe für eine politische Verfolgung in
schlüssiger Form vorzutragen. Er muß insbesondere seine persönlichen Erlebnisse unter
Angabe genauer Einzelheiten derart schlüssig darlegen, daß seine Schilderung geeignet
ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Da häufig andere Beweismittel nicht vorhanden
sind, muß im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung vom Vorhandensein des
entscheidungserheblichen Sachverhalts der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden auf
seine Plausibilität und Widerspruchsfreiheit überprüft werden. Enthält das Vorbringen des
Asylsuchenden erhebliche, nicht überzeugend aufgelöste Widersprüche und
Unstimmigkeiten, kann es als unglaubhaft beurteilt werden, wobei insbesondere der
persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylsuchenden entscheidende Bedeutung zukommt.
Vgl. BVerwG, Beschluß vom 21. Juli 1989 - 9 B 239/89 -, aaO.; Beschluß vom 22.
November 1983 - 9 B 1915/82 -, Buchholz, aaO., 310 § 86 Abs. 1 Nr. 152; Urteil vom 22.
März 1983 - 9 C 68/81 -, Buchholz, aaO., 402.25 § 28 Nr. 44.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Kläger asylberechtigt.
Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft darzustellen vermocht, in
welche Lebenssituation er sich zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei hineingestellt
gesehen hat, welche Erwägungen für den Entschluß maßgebend waren, sich zum
fraglichen Zeitpunkt einem weiteren befürchteten Zugriff der türkischen Sicherheitskräfte zu
entziehen. Der Kläger war bereit und in der Lage, sachlich, geradlinig, teilweise
ideologisch eingefärbt, den Weg aufzuzeigen, der ihn im Jahre 1991 als auf dem
Gefangenentransport befreiter U-Häftling aus dem Südosten der Türkei kommend in den
Westen der Türkei geführt hat. Daß es sich bei der Gefangenenbefreiung vom 10. Mai 1991
nicht lediglich um eine erzählte Geschichte ohne realen Hintergrund, sondern um eine
wahre Begebenheit gehandelt hat, hat das erkennende Gericht durch die Angaben des
vorsorglich als Zeugen geladenen Herrn F. T. in dessen eigenem Verfahren vor dem
Bundesamt (C 1 340 396-163) bestätigt erhalten. F. T. war mit dem Kläger und anderen am
2. Januar 1991 festgenommen, am 5. März 1991 inhaftiert und unter dem 26. April 1991
angeklagt worden. Ihnen wurde u.a. die Mitgliedschaft in dem Regionalkomitee
Ostanatolien der separatistischen und subversiven Organisation TKP-B (yikici ve bölücü
örgütin Doguanadolu bölge Komitesi üyesi olmak) und die Gründung des Provinzkomitees
Erzurum zur Last gelegt.
Der Kläger wußte im Termin zur mündlichen Verhandlung ferner davon zu berichten, in
welchem Umfeld er sich ab Mai 1991 hauptsächlich in Istanbul aufgehalten hat, unter
fremden Namen, zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Wohnungen, vorsichtig
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und zurückgenommen politisch tätig, teils als Kurier, teils organisatorisch eingebunden.
Das Gericht hat es als wohltuend empfunden, die Zugehörigkeit des Klägers zu den
"Gebietszentralkomitees von Izmir, Istanbul und Ankara" durch den Kläger selbst dahin
relativiert bekommen zu haben, daß es um die Betreuung von 10 bis 20 Mitgliedern und
einigen Sympathisanten gegangen sei.
Die Ausführungen des Klägers ließen das Gericht ein Bild davon gewinnen, wie er trotz der
geschilderten Sicherheitsvorkehrungen die Aufmerksamkeit der türkischen
Sicherheitskräfte erneut auf sich gezogen hat, als es im Zusammenhang mit einer
politischen Veranstaltung am 15./16. Juni 1994 zur Festnahmen von zwei politischen
Freunden und zur Durchsuchung einer auch vom Kläger genutzten Wohnung im Stadtteil
Cemberlitas kam, bei der neben anderen Parteimaterialien auch sein echter Nüfus
gefunden wurde. Nach der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen diese Freunde
war ihm klar, daß er einer vergleichbaren Verfahrensweise mündend in eine Verurteilung
zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe im Falle seiner Habhaftmachung durch die türkischen
Sicherheitskräfte ausgesetzt sein würde. Er sah sich nach alledem in einer bedrohlichen
Nähe zu einer neuerlichen Inanspruchnahme durch die Sicherheitskräfte. Daß es sich bei
den festgenommenen Freunden Metin Mertoglu und Mürsel Inanici nicht lediglich um
"Namen ohne dahinterstehende Personen" handelte, ergibt sich u.a. daraus, daß Mürsel
Inanici bereits zu jenen Mitgliedern der damaligen TKP-B gehörte, die mit dem Kläger im
Jahre 1991 zur Anklage gekommen waren. Wesentlich für die Überzeugungsbildung des
Gerichts war in diesem Zusammenhang der Umgang des Klägers mit den Namen von
Anwälten, die in der Türkei mit seinen Angelegenheiten oder den Angelegenheiten von
anderen Mitgliedern der TDP befaßt waren. Die Art, wie der Kläger spontan und gänzlich
offen trotz erstmaliger Hinterfragung nach mehrjähriger Verfahrensdauer mit den Namen
der Rechtsanwälte Mahmut Tuncer Caferoglu und Necati Güven umging, ließ das Gericht
die Überzeugung gewinnen, daß jene Anwälte im Umfeld der Organisation tätig wurden,
der der Kläger als Mitglied angehörte. Jene Anwälte existieren, werden vom türkischen
Staat behelligt, sind für ihr Engagement in politischen Prozessen vor den
Staatssicherheitsgerichten bekannt.
Vgl. Gruko, "... wichtig ist, sich nicht zu ergeben", medico international 1996, S. 67 ff.
Nicht zu teilen vermag das Gericht die Vorbehalte, die das Bundesamt der vom Kläger
vorgelegten Ablichtung einer auch ihn betreffenden gerichtlichen Entscheidung
entgegengebracht hat. Zwar ist es zutreffend, daß Entscheidungen türkischer Gerichte
regelmäßig auch mit der Dienstkennziffer des damit befaßten Schreibers (katip) versehen
sind. Aus dem Fehlen einer derartigen Kennziffer kann jedoch nicht darauf geschlossen
werden, daß eine derartige Entscheidung nicht existiert. Gerade der mit der Angelegenheit
befaßte Rechtsanwalt Caferoglu, der von dem Kläger ohne große gedankliche
Vorbereitung auf Befragen benannt wurde, ließ bei dem Gericht die Überzeugung
wachsen, daß der Vortrag des Klägers auch in diesem Punkte ein reales Geschehen und
nicht lediglich einen konstruierten Lebenssachverhalt beinhaltete.
Daß es nach dem Vorfall vom 15./16. Juni 1994 dennoch bald ein Jahr bis zur Ausreise des
Klägers gedauert hat, vermochte er plausibel zu erläutern. So will er zwar die Billigung der
Leitungskader der Partei für seine Ausreise sofort herbeigeführt haben, faktisch dennoch
nicht ausgereist sein, weil "dringendere Fälle" zur Regelung angestanden hätten. Im März
1995 will er dann einerseits seine Anwesenheit in Istanbul, Ankara und Izmir bei den dort
durchgeführten Demonstrationsveranstaltungen als erforderlich angesehen haben,
andererseits durch die Festnahme von Yadigar Sönmez in Ankara die Nähe der
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Sicherheitskräfte erneut gespürt haben.
Bei seinen Erläuterungen überzeugte der Kläger durch die präzise Schilderung von
Geschehensabläufen, chronologisch strukturiert, nachvollziehbar in der Sache, zum Teil
mit "naiv gläubigen" Einfärbungen versehen, im Ergebnis bereit, sich mit Vorhalten des
Gerichts auseinanderzusetzen. Die rechtliche Bewertung der Kammer resultiert danach aus
dem während der gesamten Dauer des Asylverfahrens im Kern im wesentlichen
gleichbleibend erfolgten Vortrag des Klägers zu den Geschehnissen in seiner Heimat im
Südosten der Türkei und seiner Wahlheimat Istanbul, aus dem von ihm im Termin zur
mündlichen Verhandlung hinterlassenen Gesamteindruck, sparsam in Mimik und Gestik,
aufmerksam in der Durchführung der Anhörung. Ein Erfordernis, kleinere "Unebenheiten im
Detail" hervorzuheben, sieht das Gericht nicht.
Das Gericht würdigt deshalb zugunsten des Klägers und seiner Glaubwürdigkeit, daß er
auf Überzeichnungen verzichtet hat, keine Zuflucht zu künstlich geschaffenen
Sachverhalten genommen hat, sondern sich bei seinen Einlassungen auf das beschränkt
hat, was er erlebt hat, ohne jede Äußerung sichtbar an dem angestrebten Ziel der
Anerkennung zu messen.
Die Kammer ist sich bewußt, - wie in allen anderen Asylanerkennungsverfahren auch -
nicht "in den Kläger hineinschauen" zu können. Aufgrund des im Termin zur mündlichen
Verhandlung gewonnenen Gesamteindrucks steht jedoch zur Überzeugung des Gerichts
fest, daß der Kläger von staatlichen Maßnahmen in Anknüpfung an asylrelevante Merkmale
- "linksextremistischer Terrorist" - bedroht war und die Verdichtung der von ihm als immer
bedrängender empfundenen Repressionen dazu geführt hat, daß er auch seine
Wahlheimat im Westen der Türkei verlassen hat, um einer befürchteten neuerlichen
Inanspruchnahme staatlicher Organe zu entgehen.
Die von dem Kläger geschilderten Zusammenhänge lassen es als wahrscheinlich
erscheinen, daß er bei einer Rückkehr in seine Heimat asylerheblichen Repressionen
ausgesetzt wäre. Denn die Verhältnisse in seiner Heimat dürften sich im wesentlichen
unverändert, für Angehörige linksextremistischer Organisationen allenfalls verschärft
darstellen, so daß mit einer vermehrten Inanspruchnahme des Klägers durch die
Sicherheitskräfte zu rechnen wäre.
Mit der Anerkennung des Kläger als Asylberechtigter sind auch die Voraussetzungen des §
51 Abs. 1 AuslG erfüllt. Dies ergibt sich aus § 51 Abs. 2 AuslG. Daher ist die Beklagte
verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG entsprechend dem
Antrag des Klägers festzustellen.
Die unter Nr. 4 des angegriffenen Bescheides der Beklagten vom 29. Januar 1996
getroffene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist aufzuheben. Aufgrund
seiner Asylanerkennung ist der Kläger nicht zum Verlassen der Bundesrepublik
Deutschland verpflichtet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit ergibt
sich aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zugelassen wird. Die Zulassung
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ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht
Arnsberg (Jägerstraße 1, 59821 Arnsberg, Postanschrift: Verwaltungsgericht Arnsberg,
59818 Arnsberg) zu beantragen. Der Antrag muß das angefochtene Urteil bezeichnen. In
dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
Vor dem Oberverwaltungsgericht muß sich jeder Beteiligte, soweit er einen Antrag stellt,
durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule als
Bevollmächtigten vertreten lassen. Das gilt auch für den Antrag auf Zulassung der
Berufung. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch
durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im
höheren Dienst vertreten lassen.
Der Antragsschrift sollen möglichst Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt
werden.