Urteil des VG Arnsberg vom 29.11.1999

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Verwaltungsgericht Arnsberg, 4 L 1493/99
Datum:
29.11.1999
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 L 1493/99
Tenor:
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als
Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind
erstattungsfähig.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500,00 DM festgesetzt.
Gründe:
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Der nach den §§ 80 Abs. 5, 80 a Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
zulässige Antrag,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 31. Mai 1999
gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 5.
Oktober 1998 in der Fassung des 1. Nachtrags vom 25. März 1999 betreffend die
Errichtung einer Windkraftanlage auf dem Grundstück Gemarkung E. Flur 3 Flurstück 6
anzuordnen,
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hat in der Sache keinen Erfolg. Die in dem anhängigen Verfahren gebotene Abwägung
der widerstreitenden Interessen fällt zugunsten der Beigeladenen aus. Deren Interesse,
von der ihnen erteilten Baugenehmigung umgehend Gebrauch machen zu können,
überwiegt das Interesse der Antragsteller, die Realisierung des Vorhabens bis zum
bestands- bzw. rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens zu verhindern.
Nach summarischer Prüfung werden die Antragsteller durch die streitgegenständliche
Baugenehmigung nicht in ihren Rechten verletzt, so daß der hiergegen eingelegte
Widerspruch keine Aussicht auf Erfolg hat.
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Es spricht alles dafür, daß das Vorhaben der Beigeladenen keine nachbarschützenden
Vorschriften des öffentlichen Baurechts verletzt.
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Namentlich gilt dies für die Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 2 der Bauordnung für das
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Land Nordrhein-Westfalen (BauO NW), nach der bauliche Anlagen die Standsicherheit
anderer Anlagen nicht gefährden dürfen.
Zur nachbarschützenden Wirkung dieser Bestimmung vgl. Oberverwaltungsgericht für
das Land Nord- rhein-Westfalen (OVG NW), Beschluß vom 16. März 1993 - 10 B 108/93
- mit weiteren Nachweisen; Hahn/Schulte, Öffentliches Baunachbarrecht, 1998, Rn. 301;
Mampel, Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, 1994, Rn. 1631.
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Es bestehen keine zureichenden Anhaltspunkte dafür, daß das Vorhaben der
Beigeladenen die Standsicherheit der von den Antragstellern betriebenen
Windkraftanlagen gefährdet. Welchen Grad der Wahrscheinlichkeit eines
Schadenseintritts das Tatbestandsmerkmal der "Gefährdung" erfordert, regelt das
Gesetz nicht. Es erscheint sachgerecht, insoweit auf die in der verwaltungsgerichtlichen
Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätze zum ordnungsrechtlich geprägten
Begriff der "konkreten Gefahr" zurückzugreifen. Eine solche Gefahr besteht nach
allgemeiner Ansicht dann, wenn der zu befürchtende Schaden in überschaubarer
Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten wird.
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Vgl. etwa Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 12. September 1995 - 11 B
23.95 -, Die Öffentliche Verwaltung 1996 S. 377 f.; Urteil vom 2. Juli 1991 - 1 C 4.90 -,
Entscheidungen des BVerwG (BVerwGE) Band 88 S. 348 (351); Urteil vom 13.
Dezember 1979 - 7 C 46.78 -, BVerwGE Band 59 S. 221 (225); Urteil vom 26. Juni 1970
- IV C 99.67 -, Neue Juristische Wochenschrift 1970 S. 1890 (1892).
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Eine dem entsprechende Prognose kann im vorliegenden Fall nicht gestellt werden. Es
ist nicht hinreichend wahrscheinlich, daß die von den Antragstellern betriebenen
Windkraftanlagen auf den benachbarten Flurstücken 10 und 11 aufgrund des Betriebs
des geplanten Anlage der Beigeladenen in überschaubarer Zukunft ihre Standsicherheit
einbüßen werden.
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Der von den Antragstellern beauftragte Dipl.-Ing. M. ist in seinem Gutachten vom 4.
Oktober 1999 zu dem Ergebnis gekommen, daß es bei der Anlage der Antragsteller auf
dem Flurstück 10 infolge von sog. Nachlaufeffekten, die durch die vorgelagerte Anlage
der Beigeladenen verursacht würden, zum "vorzeitigen Bruch von Bauteilen" kommen
werde; die "Lebensdauer" der Anlage der Antragsteller sei um "8-15 %" eingeschränkt
(vgl. Seite 7 des Gutachtens). Dies bedeute - so der Gutachter - indes nicht, daß die bei
Windkraftanlagen angestrebte Betriebsdauer von 20 Jahren nicht erreicht werden
könne; es sei hierzu allerdings ein "erhöhter Aufwand" erforderlich (vgl. Seite 8 des
Gutachtens).
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Der Kammer ist aus ihrer Rechtsprechungspraxis bekannt, daß Windkraftanlagen -
allein aus versicherungstechnischen Gründen - regelmäßiger Wartung unterliegen. In
Anbetracht dessen und unter Berücksichtigung der Feststellungen des Gutachters M. ist
davon auszugehen, daß eine akute Beeinträchtigung der Standsicherheit der
nachgelagerten Anlagen der Antragsteller in überschaubarer Zukunft - also etwa
innerhalb der üblichen Betriebszeit von 20 Jahren - nicht eintreten wird. Es ist vielmehr
anzunehmen, daß etwaige Schwächungen des Materials anläßlich ohnehin
vorgesehener Inspektionen auffallen und daraus resultierende Gefahrenlagen sodann,
gegebenenfalls unter Verwendung entsprechender Ersatzteile, behoben werden. Damit
stellt sich die Konkurrenz einer vorgelagerten Windkraftanlage für die Antragsteller als
Problem eines möglicherweise gesteigerten Wartungsaufwandes dar; § 15 Abs. 1 Satz
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2 BauO NW wird indes nicht verletzt.
Soweit die Kammer ihrer Einschätzung ein gefahrminderndes Verhalten der
Antragsteller - nämlich die regelmäßige Wartung der von ihnen betriebenen
Windkraftanlagen - zugrundelegt, läßt sie nicht außer acht, daß ordnungsrechtlich bei
der Schadensprognose, die der Annahme einer Gefahr voranzugehen hat, im
allgemeinen auf einen "ungehinderten Geschehensablauf" abzustellen ist.
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Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974 - I C 31.72 -, BVerwGE Band 45 S. 51
(57); OVG NW, Urteil vom 6. November 1989 - 12 A 2684/87 -, Nordrhein-Westfälische
Verwaltungsblätter (NWVBL) 1990 S. 159; Urteil vom 24. Februar 1989 - 15 A 1711/86 -,
NWVBL 1989 S. 400 (401); Bayerischer Verwal- tungsgerichtshof, Urteil vom 5.
Dezember 1996 - 22 B 96.2050 -, Bayerische Verwaltungsblätter 1997 S. 406 (407).
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Vorliegend ist jedoch zu beachten, daß der Regelungsgehalt des § 15 Abs. 1 BauO NW
sich nicht darin erschöpft, dem Bauherren einer baulichen Anlage das Verbot
aufzuerlegen, mit seinem Vorhaben die Standsicherheit einer anderen, bestehenden
Anlage zu gefährden. Die Vorschrift regelt vielmehr auch, daß die Standsicherheit
bestehender baulicher Anlagen zu erhalten ist (vgl. Satz 1). Dieses Gebot richtet sich an
den nach allgemeinem Ordnungsrecht pflichtigen Zustands- oder
Verhaltensverantwortlichen. Geht es - wie vorliegend - um Windkraftanlagen, so stehen
damit auch deren Eigentümer und Betreiber in der Pflicht, die Standsicherheit ihrer
Anlagen für die gesamte Dauer der Nutzung zu erhalten. Ob dem Eigentümer und
Betreiber einer solchen Anlage zuzumuten ist, in Erfüllung dieser ihm obliegenden
Pflicht Erhaltungsmaßnahmen durchzuführen, die (auch) durch die Konkurrenz einer
benachbarten Windkraftanlage erforderlich werden, stellt sich als Frage der
Risikoverteilung dar. Die Kammer ist der Auffassung, daß sich derartige Risiken als
Ausfluß der wirtschaftlichen Nutzung von Windkraftanlagen auf einem nur begrenzt
hierfür zur Verfügung stehenden Raum darstellen und daher vom jeweiligen Eigentümer
bzw. Betreiber der Anlage zu tragen sind.
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Vgl. hierzu auch Verwaltungsgericht Minden, Beschluß vom 27. September 1999 - 1 L
1237/99 -.
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Ein nachbarliches Abwehrrecht erwächst den Antragstellern auch nicht aus dem
bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme. Ein das gesamte Baurecht
umfassendes - außergesetzliches - Rücksichtnahmegebot existiert nicht; dessen Inhalt
und Reichweite werden vielmehr durch die einfachgesetzlichen Vorschriften des
Baurechts bestimmt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 - 4 C 8.84 -, Baurechtssammlung (BRS)
Band 46 Nr. 173; Schlichter/Roeser, in: Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 2.
Auflage 1995, Vorbem. §§ 29 bis 38, Rn. 31; Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht,
Band II, 3. Auflage 1994, S. 183.
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Da das Vorhaben der Beigeladenen im Außenbereich verwirklicht werden soll, richtet
sich dessen bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach § 35 des Baugesetzbuches
(BauGB). Die in § 35 Abs. 3 BauGB aufgeführten öffentlichen Belange entfalten keine
Schutzwirkung hinsichtlich der von den Antragstellern geltend gemachten
Beeinträchtigungen. Insbesondere wird die befürchtete Verringerung der
Wirtschaftlichkeit ihrer eigenen Windenergieanlagen nicht durch den Begriff der
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"schädlichen Umwelteinwirkungen" im Sinne des § 35 Abs. 3 Nr. 3 BauGB erfaßt.
Schädliche Umwelteinwirkungen sind nach der Definition des § 3 Abs. 1 des
Bundesimmissionsschutzgesetzes Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer
geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die
Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen; diese Begriffsbestimmung kann
auch im Rahmen des § 35 Abs. 3 Nr. 3 BauGB herangezogen werden,
vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - IV C 22.75 -, BRS Band 32 Nr. 155; Söfker,
in: Ernst/Zinkahn/Bie- lenberg/Krautzberger, Kommentar zum Baugesetzbuch, Stand:
Februar 1999, § 35 Rn. 85.
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Führt die Errichtung einer Windkraftanlage dazu, daß die Windanströmung einer bereits
bestehenden Anlage vermindert wird, so stellt dies keine "Immission" dar. Als
Immissionen gelten solche Umwelteinwirkungen, die durch Luft, Verunreinigungen,
Geräusche, Erschütterungen, Licht, Wärme, Strahlen oder vergleichbare Erscheinungen
vermittelt werden,
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vgl. Söfker, a.a.O.
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Die Verknappung der natürlichen Ressource "Wind" ist keine Umwelteinwirkung in
diesem Sinne. Immissionen setzen eine Emissionsquelle voraus. Hieran fehlt es, wenn
eine Windenergieanlage zu Lasten anderer Anlagen den Wind "abfängt", da die Anlage
nichts emittiert.
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Weitere öffentliche Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 BauGB, die vorliegend eine
Schutzwirkung zugunsten der Antragsteller entfalten, sind nicht ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 und 162 Abs. 3
VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwerts ergeht auf der Grundlage der §§ 13 Abs. 1 S. 1, 20 Abs.
3 des Gerichtskostengesetzes unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zum Streitwert in baurechtlichen Nachbarverfahren, der
einem Rahmen von 3.000,00 bis 30.000,00 DM zu entnehmen ist. Hier erachtet die
Kammer einen Streitwert von 15.000,00 DM für das Hauptsacheverfahren als
angemessen. Dieser Betrag war wegen der Vorläufigkeit des anhängigen Verfahrens
auf die Hälfte zu reduzieren.
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