Urteil des VG Arnsberg vom 09.02.2007

VG Arnsberg: bundesamt für migration, psychiatrisches gutachten, innere medizin, psychotherapeutische behandlung, politische verfolgung, psychiatrie, psychovegetatives syndrom, abschiebung, cousin

Verwaltungsgericht Arnsberg, 13 K 1978/05.A
Datum:
09.02.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 K 1978/05.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung der Ziffer 3. des
Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 18. Februar 2004 verpflichtet festzustellen, dass in der
Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1
des Aufenthaltsgesetzes vorliegt. Die Beklagte trägt die Kosten des
Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Tatbestand:
1
Der am 22. Juni 1964 geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger persischer
Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Eigenen Angaben zufolge reiste er am
19. Oktober 2003 in das Bundesgebiet ein, wo er am darauffolgenden Tag die
Anerkennung als Asylberechtigter beantragte.
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Zur Begründung führte er bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im
Folgenden: Bundesamt) am 24. Oktober 2003 im Wesentlichen aus: Am 21. August
2003 sei er illegal über die grüne Grenze in die U. gefahren. Nach ungefähr sechs
Wochen Aufenthalt in J. sei er nach Deutschland geflogen. Bis Dezember 2001 bzw.
Januar 2002 habe er bei seinen Eltern in U1. gelebt. Anschließend habe er sich bei
einem Freund in L. versteckt. Nach einem Jahr sei er bei einem Ausreiseversuch im
Bereich der Stadt L1. von der iranischen Grenzpolizei festgenommen, einen Monat im
Gefängnis festgehalten worden und danach neunzehn Monate im Evin-Gefängnis in U1.
inhaftiert gewesen. Am 6. August 2003 sei er gegen Kaution in Form der Hinterlegung
einer Grundstücksurkunde entlassen worden. Er sei zwei Tage bei seinen Eltern in U1. ,
anschließend einen Tag bei seinem Freund in L. gewesen und sodann alleine bei F. in
das Grenzgebiet U. /Iran/Irak gefahren. Bis 2000 habe er als Buchverkäufer im
Buchladen seines Vaters in U1. gearbeitet. Zwei Monate nach den Studentenunruhen
vom 9. Juli 1999 hätten zwei Jurastudenten aus U1. mit ihm in seinem Geschäft Kontakt
aufgenommen. Die Studenten - Anhänger des Präsidenten Khatami - hätten keine
Erlaubnis zum Kauf eines Kopierers bekommen und auch nicht über die dafür nötigen
finanziellen Mittel verfügt. Sie hätten erklärt, dass sie Gegner des iranischen Regimes
seien und Flugblätter mit regimekritischen Inhalt erstellen, mit dem Kopierer
vervielfältigen und unter den Studenten und der Bevölkerung verteilen wollten. Er habe
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sich bereit erklärt, den Kopierer zu erwerben. Als Buchhändler benötige er hierfür keine
staatliche Genehmigung. Zehn Tage später habe er einem der beiden Studenten
erlaubt, ein handschriftlich gefertigtes Exemplar in seiner - des Klägers - Wohnung auf
der Schreibmaschine zu schreiben. Dieses Original habe er 500 Mal kopiert. Er habe
mehr als zwanzig, jedoch weniger als dreißig Flugblätter in verschiedenen Aktionen 500
Mal kopiert und an einen Studenten weiter gegeben, der jeweils ein vorher
handschriftlich gefertigtes Flugblattexemplar auf seiner Schreibmaschine
abgeschrieben habe. Zu den beiden genannten Studenten seien später zwei weitere
Studenten hinzugekommen. Er selbst habe die Flugblätter nie verfasst. Am 5. Juli 2000,
als er nicht im Buchladen, sondern in einer Druckerei gewesen sei, habe ihm der
Inhaber seines Nachbargeschäftes telefonisch berichtet, dass iranische
Sicherheitskräfte den Buchladen durchsuchten. Er habe befürchtet, dass die
Flugblattaktion an iranische Sicherheitsbehörden verraten worden sei und er deswegen
bestraft würde. Am dritten Tage nach der Durchsuchung des Geschäfts habe eine
Nachbarin angerufen und mitgeteilt, dass seine Wohnung durchsucht und Sachen
mitgenommen worden seien. Er habe aus Gewohnheit - es sei für ihn eine Art Archiv
gewesen - jeweils ein Exemplar aller bisher von ihm fotokopierten regimekritischen
Flugblätter bei ihm zu Hause in einem Aktenumschlag hinter großen Büchern in einem
Regal versteckt. Er gehe davon aus, dass diese Flugblätter gefunden worden seien. Er
sei etwa achtzehn Monate bei seinem Freund in L. geblieben. Er habe das Gartenhaus
nicht mehr verlassen und aus Angst vor Entdeckung keine Kontakte mehr zu seiner
Familie gehabt. Den Grenzbehörden gegenüber habe er geäußert, dass er wegen
Geldschulden das Land verlassen wolle. Im Evin-Gefängnis sei er zunächst einen
Monat in Einzelhaft gewesen und sechsmal verhört worden. Während der Verhöre sei er
mit Fäusten ins Gesicht geschlagen und getreten worden. Seine Backenzähne seien
gebrochen und ihm im Gefängnis von einem Arzt samt den Wurzeln gezogen worden.
Man habe ihm gleich nach Ankunft die regimekritischen Flugblätter gezeigt, die man in
seinem Schlafzimmer gefunden habe. Er habe erklärt, man habe ihm die Flugblätter
untergeschoben.
Mit Bescheid vom 18. Februar 2004 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers
ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes
(AuslG) vom 9. Juli 1990 (BGBl I S. 1354) sowie Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG nicht vorliegen und drohte ihm die Abschiebung in den Iran an. Zur Begründung
führte es im Wesentlichen aus: Der Kläger könne nicht als Asylberechtigter anerkannt
werden, weil sein auf eine politische Verfolgung abzielender Sachvortrag unglaubhaft
sei.
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Der Kläger hat - nunmehr nur noch mit dem Ziel der Feststellung eines
Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)
vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) - Klage erhoben und hierzu u.a. einen Attest des
Arztes Dr. U2. vom 27. Januar 2004, eine psychologische Stellungnahme vom 22. Juli
2004 sowie ein fachpsychologisches Gutachten vom 3. August 2004 des Diplom-
Psychologen Dr. B. , eine psychologische Stellungnahme der Psychotherapeutin T. vom
24. März 2004, ein Attest des Facharztes für Innere Medizin G. vom 23. Mai 2006,
Arztbriefe des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. T1. vom 2. Juni und 18.
August 2005 sowie eine methodenkritische Stellungnahme des Arztes für innere und
psychotherapeutische Medizin Dr. H. vom 18. April 2006 vorgelegt.
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Zur Begründung seiner Klage macht er ergänzend geltend: Er leide unter einer
schweren posttraumatischen Belastungsstörung. Bei der Rückkehr in den Iran drohe
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ihm die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung durch
Suizidalität. Die gegenteilige Aussage des von der Ausländerbehörde beauftragten
Facharztes Dr. N. vom 6. Februar 2006 zweifle er unter Bezugnahme auf ein
methodenkritisches Gutachten des Dr. H. vom 18. April 2006 an. Dem
Anhörungsprotokoll komme nur ein geringer Wert zu, da er schwer traumatisiert und
vernehmungsunfähig gewesen sei. Er habe dort nur einen Teil seiner Aktivitäten
dargestellt. Bei der lückenhaften Darstellung eines Sachverhalts handele es sich um ein
typisches Verhalten für Traumatisierte. Seine vollständigen Aktivitäten habe er erst
gegenüber seiner Psychotherapeutin offenbart. Er habe nicht mit zwei
Studentengruppen zusammen gearbeitet, sondern nur mit einer. Der Gruppe hätten er
und seine Ehefrau angehört. Später sei noch ein Cousin hinzugekommen. Die
Flugblätter seien von seiner Ehefrau mit der Schreibmaschine geschrieben und in
seiner Buchhandlung zur Abholung bereitgestellt worden. Dann seien sie von zwei
weiteren Studenten abgeholt worden, die sie verteilt hätten. Ein Cousin habe ihm von
der Videokassette mit Aussagen des Herrn F1. erzählt. Seine Ehefrau habe hiervon ein
Flugblatt angefertigt. Dies habe er beim Bundesamt nicht erwähnt, weil es sich aus
seiner Sicht im Wesentlichen um die Anfertigung eines Flugblattes gehandelt habe, was
er bereits geschildert hätte. Seine Ehefrau habe auch an einer Studentenversammlung
teilgenommen, bei der die Q. angegriffen hätten. Dabei sei sie am Ohr verletzt worden.
Aus großer Angst habe sie ihn - vergeblich - gebeten, mit den Aktivitäten aufzuhören.
Bei der Durchsuchung seiner Privatwohnung habe sich der Cousin dort befunden. Er sei
später festgenommen und hingerichtet worden. Es seien Unterlagen sichergestellt
worden, wie er später über eine Nachbarin erfahren habe. Auf den Cousin habe er nicht
weiter hingewiesen, da es dieser einer der Studenten gewesen sei und er mehrmals
davon gesprochen habe, mit mehreren Studenten zusammen gearbeitet zu haben.
Seine Familie sei seit vielen Jahren regimekritisch eingestellt gewesen. Er sei mit
seinem Cousin zusammen aufgewachsen, der sich in herausgehobener Weise gegen
das iranische Regime eingesetzt habe. Nach und nach sei eine Gruppierung entstanden
mit dem Ziel, die kurdische Bevölkerung über Missstände im politischen System zu
informieren. Jeweils ein Exemplar der verteilten Flugblätter sei bei ihm zu Hause
gelagert worden, weil sie nicht nur einmal, sondern mehrmals verteilt worden seien. Die
Vorlagen seien durchnummeriert gewesen, sodass ihm nur noch habe mitgeteilt werden
müssen, welche Nummer er wie oft vervielfältigen solle. Die Möglichkeit der schnellen
Ausreise habe sich erst nach der Versetzung eines Freundes zu den Grenzkontrollen
eröffnet.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 18. Februar 2004 zu verpflichten
festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
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Die Beklagte beantragt auch insoweit,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung ihres Antrages hat sie eine Stellungnahme des Facharztes für
Neurologie und Psychiatrie Dr. N. vom 6. Februar 2006 vorgelegt. Im Übrigen nimmt sie
Bezug auf den Inhalt des streitbefangenen Bescheides und führt ergänzend aus: Durch
die Ergänzungen werde der Sachvortrag des Klägers nicht glaubhafter. Wegen des
fehlenden Verfolgungsschicksals könne keine posttraumatische Belastungsstörung
11
vorliegen. Vielmehr begründe sich der Gesundheitszustand des Klägers in der Angst vor
drohender Abschiebung. Unter Berücksichtigung des von der Ausländerbehörde
vorgelegten ärztlichen Gutachtens des Dr. N. sei weder ein zielstaatsbezogenes
Abschiebungsverbot noch ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis ersichtlich.
Deshalb könne das gegenteilige Ergebnis des gerichtlich bestellten Gutachters nicht
nachvollzogen werden. Eine psychische Erkrankung sei im Iran behandelbar.
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 29. August 2005 über den
Gesundheitszustand des Klägers Beweis erhoben durch Vernehmung der Therapeutin
Monika T2. als Zeugin. Wegen ihrer Bekundungen wird auf die Sitzungsniederschrift
Bezug genommen. Des weiteren hat das Gericht über die Frage, ob der Kläger unter
einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. psychischen Erkrankung leidet, die
mangels geeigneter Behandlungsmöglichkeiten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei
seiner Rückkehr in den Iran zu einer erheblichen Gefahr für Leib, Leben und Gesundheit
führt, Beweis durch Einholung eines fachärztlichen Gutachtens des Dr. Peter S. ,
Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Direktor der Abteilung für
Psychiatrie im Klinikum M. , erhoben. Auf dessen neurologisch-psychiatrisches
Gutachten vom 21. Dezember 2006 wird Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Streitakte 13 K 653/04.A und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge
des Bundesamtes Bezug genommen.
13
Entscheidungsgründe:
14
Die Klage, über die das Gericht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2
VwGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, ist als
Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 2. Alternative VwGO statthaft, auch im Übrigen
zulässig und zudem begründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes vom
18. Februar 2004 ist im hier allein noch streitbefangenen Umfang rechtswidrig und
verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dieser hat Anspruch auf die Verpflichtung des
Bundesamtes zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1
des seit dem 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (vgl. Art. 15 Abs. 3
des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. I S. 1950). Auf die Bestimmungen
dieses Gesetzes ist für die Entscheidung des Rechtsstreits mangels Vorliegens einer
Übergangsregelung maßgeblich abzustellen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
15
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) soll von der
Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort
für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese
Gefahr muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und landesweit bestehen. Erforderlich
ist - wegen des Elements der „Konkretheit" der Gefahr - eine einzelfallbezogene,
individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation, die jedoch nicht von
staatlicher oder quasistaatlicher Seite ausgehen muss.
16
Vgl. grundlegend noch zur alten Bestimmung: BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9
C 9.95 -, BVerwGE 99, 324, 330, sowie - 9 C 15.95 -, DVBl. 1996, 612, 615.
17
Für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit reicht es nicht aus, wenn eine
Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt; vielmehr muss eine solche mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein.
18
Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, NVwZ 1988, 838.
19
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit des Ausländers wegen ihrer nur
unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein
Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
20
vgl. Beschluss vom 24. Juni 2006 - 1 B 118.05 -, Informationsbrief Ausländerrecht
(InfAuslR) 2006, 485, 486; siehe zur früheren Rechtslage: Urteile vom 7. September
1999 - 1 C 6.99 -, InfAuslR 2000, 16; und vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -,
BVerwGE 105, 383, 387,
21
ist in diesen Fällen eine Gefahr erheblich, wenn sich durch die Rückkehr die Krankheit
des Ausländers alsbald nach seiner Rückkehr wegen geltend gemachter
unzureichender medizinischer Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung
in einem angemessenen Prognosezeitraum wesentlich oder sogar lebensbedrohlich
verschlechtern wird.
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Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger leidet nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer
mittelschweren bis schweren psychischen Störung, einer mittelgradigen depressiven
Episode sowie einer Somatisierungsstörung (psychovegetatives Syndrom, vegetative
Dystonie, ICD-10: somatoforme Störung mit multiplen, wiederholt auftretenden und
körperlich häufig wechselnden Symptomen von mindestens zweijähriger Dauer, vgl.
Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Auflage 2004, S. 1698). Diese
Feststellungen, denen das Gericht folgt, hat der Gutachter Dr. S. in seinem
neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 21. Dezember 2006 getroffen. Als
Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Direktor der Abteilung
für Psychiatrie im Klinikum M. verfügt Dr. S. über die persönliche Sachkunde zur
Beurteilung dieser medizinischen Fachfrage.
23
Vgl. zu den Sachkundeanforderungen: BVerwG, Beschluss vom 24. Juni 2006, a.a.O.
24
Gleiches gilt für den bei der Untersuchung anwesenden Dr. Said N1. -E. als Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, durch welchen bei dem Kläger eine Untersuchung auf
muttersprachlicher Grundlage durchgeführt werden konnte. Beide Ärzte verfügen - wie
dem Gericht auch aus anderen Verfahren bekannt ist - über eine langjährige, klinisch-
psychiatrische Erfahrung in Diagnostik und Behandlung von PTBS-Patienten.
25
Inhaltlich orientieren sich die Feststellungen des Gutachters entsprechend der
gerichtlichen Vorgabe an der International Classification of Deseases, 10. Fassung;
einer vollständigen Auflistung aller Krankheiten in einem Nummernsystem der WHO
(World Health Organisation) mit klinisch diagnostischen Leitlinien (ICD 10).
26
Quelle: Dr. Lothar Lindstedt, Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten mit
Beispielen aus dem Problemkreis traumatisierter Flüchtlinge, veröffentlicht im Internet
unter folgender Adresse:
http://www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf/asylpraxis_ban
d_7_teil_06.pdf.
27
Die PTBS (Kapitel F 43.1 nach ICD 10) ist danach eine Reaktion auf schwere
Belastungen und gehört zum Überbegriff der Anpassungsstörungen (F 43). Sie entsteht
als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine
Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes. Typische
Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden
Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, flashbacks) oder in Träumen.
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Dem Befund des Gutachters zufolge sind sämtliche diagnostischen Kriterien der PTBS
bei den objektivierbaren Symptomen und den von dem Kläger berichteten Ereignissen,
Beschwerden und Symptomen erfüllt. Die berichteten Erlebnisse und die dabei sicht-
und spürbaren Affekte passen nach der klinisch-psychiatrischen Erfahrung des
Gutachters zusammen; sie seien bei fast allen PTBS-Patienten zu beobachten. An
verschiedenen Stellen betont der Gutachter zudem, dass bei dem Kläger keine
Aggravations- (Übertreibungs-) oder Demonstrationstendenzen feststellbar gewesen
sind. Die symptomatische Darstellung habe glaubwürdig und authentisch gewirkt.
Ausgehend hiervon gelangt er zu der für das Gericht nachvollziehbaren Erkenntnis,
dass eine Rückkehr des Klägers in den Iran wegen der Gefahr der Retraumatisierung
eine erhebliche Verschlimmerung der PTBS nach sich ziehe und akute Suizidgefahr
bestehe.
29
Eine solche, dem Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit drohende
Retraumatisierung stellt einen Prozess dar, der vor der Abschiebung beginnt und sich
im Herkunftsland fortsetzt, d.h. dass eine erhebliche Verschlechterung des
Krankheitsbildes während der Durchführung einer Abschiebung ebenso zu erwarten
wäre wie alsbald nach der Abschiebung im Heimatland. Gleiches gilt bei dem hier
vorliegenden Krankheitsbild für die Suizidalität.
30
Vgl. hierzu: H. , „Die `Lebenserfahrung´ des OVG Münster", in: ZAR 2006, 405, 407;
ders.: Auskunft an das VG Aachen vom 4. Oktober 2006.
31
Die Gefahr der Retraumatisierung knüpft damit zumindest auch an die Umstände des
Zielstaats an und ist demzufolge zielstaatsbezogen. Es handelt sich demnach nicht
lediglich um ein von der Ausländerbehörde zu berücksichtigendes inlandsbezogenes
Vollstreckungshindernis.
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Vgl. zu dieser Differenzierung: BVerwG, Urteile vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -,
DVBl. 2003, 463, 464; und vom 21. September 1999 - 9 C 8.99 -, NVwZ 2000, 206, 207;
Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Juli 2003 - 11 S
389/01 -, VBlBW 2003, 482, 485.
33
Die festgestellte Krankheit des Klägers ist auch nicht im Iran behandelbar. Nach den
Feststellungen des Sachverständigen kann ungeachtet dessen, dass die mit der PTBS
verbundenen Symptome von Angst und Depression psychopharmakologisch behandelt
werden müssen, die eigentliche Behandlung der Erkrankung des Klägers nur durch eine
traumaspezifische, teilweise stationäre, teilweise ambulante psychiatrisch-
psychotherapeutische Behandlung erfolgen, die in Deutschland durchgeführt werden
kann. Jedenfalls ist es nach den Befunden des Gutachters evident, dass die
Behandlung nicht im Iran erfolgen kann. Diese Einschätzung findet ihre Bestätigung in
den dem Gericht vorliegenden Auskünften und Stellungnahmen sachverständiger
Stellen zur Situation des Gesundheitswesens im Iran. Danach ist allein die
medikamentöse Symptombehandlung in größeren Städten möglich. Dort gibt es auch
34
psychiatrische Krankenhäuser, die aber lediglich mittels medikamentöser Therapie
behandeln. Eine (ambulante oder stationäre) Psychotherapie ist im Iran „kein Thema",
weil sie als „westliche Unkultur" angesehen wird.
Vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in
Iran vom 21. September 2006 (Stand: August 2006), Az.: 508-516.80/3 IRN, S. 37;
Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das VG Mainz vom 3. Juni 2002, Az.: 418
i/br.
35
Dass allein eine medikamentöse Therapie im Fall des Klägers nicht ausreichend ist, um
eine erheblich Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes im Fall der Rückkehr in
sein Heimatland zu unterbinden, belegt zudem der Umstand, dass er nach den
Feststellungen des Gutachters, die auch den in der mündlichen Verhandlung vom 29.
August 2005 durch die Befragung der Zeugin T3. gewonnenen Erkenntnissen des
Gerichts entsprechen, sich fortlaufend in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung
befindet.
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Die Richtigkeit dieser Feststellungen des Sachverständigen werden durch die Kritik der
Beklagten nicht in Frage gestellt. Soweit diese beanstandet, die Aussage im Gutachten
des Dr. S. , dass der Kläger wegen seiner gesellschaftlichen Stellung in den Iran
zurückkehren würde, wenn dies nicht mit Lebensgefahr für ihn verbunden sein würde,
sei reine Spekulation, greift dies nicht durch. Im Gutachten ist ausgeführt, der Kläger
würde gerne seine frühere gehobene sozioökonomische Stellung gegen seinen jetzigen
und zukünftigen Status als „Asylant" eintauschen, wenn eine Rückkehr nicht mit
Lebensgefahr für ihn verbunden sei. Natürlich beinhaltet diese Aussage prognostische
Elemente. Sie finden jedoch ihre Rechtfertigung in der auf Grund einer möglichen
Retraumatisierung bestehenden, vom Sachverständigen festgestellten akuten
Suizidgefahr. Ferner ist ohne Belang, dass der Gutachter seine Feststellungen auf der
Grundlage einer ambulanten nervenärztlichen Untersuchung getroffen hat. Denn der
Gutachter hat unter Auswertung des gesamten Akteninhalts gewürdigt, dass sich der
Kläger bereits in laufender ambulanter psychotherapeutischer Therapie befindet. Er hat
in diesem Zusammenhang insbesondere die Beurteilungen der Psychotherapeutinnen
T. und T3. - vor allem die Aussage der Zeugin T3. in der mündlichen Verhandlung vom
29. August 2005 - gewürdigt. Das Gutachten stimmt im Ergebnis mit deren
Beurteilungen überein. So hat auch die Psychotherapeutin T3. , die klinische
Erfahrungen mit Traumapatienten besitzt und ihre Diagnose auf Grund von (bis zum
damaligen Zeitpunkt) acht Sitzungen abgegeben hat, bei dem Kläger eine PTBS
festgestellt. Ferner hat sie die vom Sachverständigen ebenfalls ermittelte Gefahr der
Retraumatisierung und die bestehende Suizidgefahr bestätigt und darauf hingewiesen,
dass diese Gefahr landesweit drohen würde, weil sie nicht allein an objektiven
Umständen festgemacht werden könne. Darüber hinaus stellt die im streitbefangenen
Bescheid enthaltene Würdigung der Angaben des Klägers zu seiner Vorverfolgung als
unglaubhaft, auf welche die Beklagte nach wie vor verweist, die Beurteilung des
gerichtlichen Gutachters nicht in Frage. Denn die seinerzeitigen Erklärungen des
Klägers können nicht ohne weiteres einer solchen Würdigung zu Grunde gelegt werden,
weil Dr. S. festgestellt hat, dass Angst, psychovegetative Reaktionen und dissoziative
Phänomene als typische Symptome einer PTBS bei dem Kläger in Erscheinung
getreten waren, wenn im Zusammenhang mit der Verfolgungsgeschichte z.B. von
Gefängnishaft und Folter die Rede war. Vielmehr sprächen aus gutachterlicher Sicht die
Authentizität der psychopathologischen Phänomene und die in sich schlüssigen und
konsistenten Angaben des Klägers dafür, dass die von ihm beschriebenen Tatbestände
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der Gefängnisaufenthalte, der körperlichen und psychischen Verletzungen und
Folterungen und die damit verbundene Hilflosigkeit tatsächlich erlebt worden seien.
Ungeachtet dessen ist die Frage der Glaubhaftigkeit der auf eine politische
Vorverfolgung im Einzelnen abzielenden Angaben für die Frage, ob dem Kläger auf
Grund einer im Iran nicht behandelbaren, sich dort voraussichtlich wesentlich
verschlimmernden Krankheit Abschiebungsschutz zu gewähren ist, ohne Belang.
Letztlich weckt auch die Stellungnahme des Dr. N. vom 6. Februar 2006, auf welche
sich der Beklagte beruft, keine Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des
Sachverständigen Dr. S. . Eine lediglich depressive Reaktion auf seine
sozioökonomisch ungünstige Stellung als „Asylant", wie sie Dr. N. annimmt, liegt nach
dessen Beurteilung bei dem Kläger nicht vor. Die Fehlbeurteilung durch Dr. N. ist nach
dem Befund des gerichtlichen Sachverständigen dadurch zu erklären, dass dieser auf
eine sorgfältige Exploration und empathische (in die Erlebnisweise des Patienten
einfühlende) Beurteilung der Traumatisierungen des Klägers (die insbesondere in der
Psychiatrie und Psychotherapie in der Arzt-Patienten-Beziehung wichtig ist, vgl.
Pschyrembel, a.a.O., S. 481) verzichtet hat. Hinzu kommt, dass die Stellungnahme Dr.
N2. durch die von der Klägerseite überreichte methodenkritische Stellungnahme des Dr.
H. vom 18. April 2006 nachvollziehbar in Zweifel gezogen worden ist. Im Kern kritisiert
Dr. H. die Auffassung Dr. N2. , eine PTBS könne nur nachgewiesen werden, wenn auch
ein Trauma (so genanntes „A-Kriterium") nachgewiesen sei. Der Nachweis von
Ursachen anhand von Beweisen oder die Glaubhaftigkeitsuntersuchung mit Methoden
der forensischen Psychologie gehöre nicht zum Aufgabengebiet des Klinikers. Vielmehr
sei das Fehlen von Beweisen oft ein Charakteristikum traumatisierter Gewalt. Ein
solcher „Beweis" ist - worauf Dr. H. zutreffend hingewiesen hat - in asylrechtlichen
Verfahren in aller Regel auch nicht zu führen, weshalb - auch im Rahmen der
Feststellung eines Abschiebungsverbots - lediglich der Maßstab der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit, nicht aber des Vollbeweises vorliegen muss. In diesem
Zusammenhang ist aber zu berücksichtigen, dass die Angaben des Betreffenden, die für
die Annahme beachtlicher Wahrscheinlichkeit als alleinige Grundlage genügen können,
wegen der Traumastörung nur bedingt zu Grunde gelegt oder teilweise aus
therapeutischen Gründen nicht erfragt werden können. Ferner kritisiert Dr. H. , dass Dr.
N. die mimische oder gestische Reaktion des Klägers noch andere Begleitphänomene
erwähnt oder nachgefragt habe, die wesentliche Hinweise auf wahrscheinliche Auslöser
der Traumastörung geben können. An diesen methodischen Vorgaben, die Dr. N. nicht
beachtet hat, hat sich hingegen der gerichtlich bestellte Gutachter orientiert, dessen
Feststellungen damit vollumfänglich zu folgen ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
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