Urteil des VG Arnsberg vom 12.08.2004

VG Arnsberg: einbürgerung, öffentliches interesse, aufschiebende wirkung, ermittlungsverfahren, staatsangehörigkeit, arglistige täuschung, strafverfahren, rücknahme, behörde, marokko

Verwaltungsgericht Arnsberg, 1 L 558/04
Datum:
12.08.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 558/04
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruches vom
23. April 2004 gegen den Rücknahmebescheid des Antragsgegners vom 22. März 2004
wiederherzustellen,
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ist als Antrag gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig.
Dabei geht das Gericht davon aus, dass sich der Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes bei sachgerechter Auslegung allein auf die in Ziffer 1 des Bescheides
des Antragsgegners vom 22. März 2004 ausgesprochene Rücknahme der Einbürgerung
bezieht, da nur insoweit die sofortige Vollziehung angeordnet worden ist. Im Hinblick auf
die in Ziffer 3 enthaltene Aufforderung, die Einbürgerungsurkunde zurückzugeben, tritt
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 1 Satz 1
VwGO) ein.
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Der Antrag ist jedoch unbegründet. Denn der Antragsgegner hat die Anordnung der
sofortigen Vollziehung in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügenden
Weise begründet und das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der
Ordnungsverfügungen vom 22. März 2004 überwiegt das private Interesse des
Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Hierfür ist
maßgeblich, dass bei der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen
Beurteilung der Sach- und Rechtslage viel für die Rechtmäßigkeit des
Rücknahmebescheides spricht und auch im Übrigen dem öffentlichen Interesse an der
sofortigen Vollziehung dieses Bescheides Vorrang vor den privaten Interessen des
Antragstellers am einstweiligen Nichtvollzug einzuräumen ist.
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Rechtsgrundlage für die Rücknahme der am 2. Oktober 2001 erfolgten Einbürgerung
des Antragstellers ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das
Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW). Nach dieser Vorschrift kann ein
rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder
teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen
werden. Mangels einer abschließenden spezialgesetzlichen Regelung im
Staatsangehörigkeitsrecht ist diese Vorschrift im Fall einer von vornherein
rechtswidrigen Einbürgerung jedenfalls dann anwendbar, wenn die Einbürgerung durch
bewusste Täuschung erwirkt worden ist. Hingegen spricht viel dafür, dass die in Art. 16
Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) getroffene Wertentscheidung, wonach die
deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf, jedenfalls die Rücknahme
solcher Einbürgerungen verbietet, deren Fehlerhaftigkeit der Sphäre der Verwaltung
und nicht der des Eingebürgerten zuzurechnen ist.
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Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 3. Juni 2003 - 1 C 19.02 -,
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 118, 216, 218, 221.
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Es spricht viel dafür, dass ein solcher Fall der erschlichenen Einbürgerung mit der Folge
der Anwendbarkeit des § 48 Abs. 1 VwVfG NRW hier vorliegt.
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Die Einbürgerung des Antragstellers auf der Grundlage der §§ 85 ff. des
Ausländergesetzes (AuslG) war von vornherein objektiv rechtswidrig. Nach § 88 Abs. 3
Satz 1 AuslG ist für den Fall, dass gegen einen Ausländer, der die Einbürgerung
beantragt hat, wegen des Verdachts einer Straftat ermittelt wird, die Entscheidung über
die Einbürgerung bis zum Abschluss des Verfahrens, im Falle der Verurteilung bis zum
Eintritt der Rechtskraft des Urteils auszusetzen. Diese Norm schreibt zwingend vor, dass
für die Dauer eines laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens das
Einbürgerungsverfahren auszusetzen ist. Zum Zeitpunkt der Einbürgerung am 2.
Oktober 2001 lief gegen den Antragsteller bei der Staatsanwaltschaft E. das
Ermittlungsverfahren 00000 das am 16. Mai 2001 eingeleitet worden war und
letztendlich zu einer Verurteilung des Antragstellers zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren
und 3 Monaten führte (Urteil des Amtsgerichts I. vom 11. Juni 2002 in Verbindung mit
dem Urteil des Landgerichts E. vom 4. Februar 2003). Trotzdem ist der Antragsteller
eingebürgert worden. Dieser Gesetzesverstoß ist auch nicht unbeachtlich. Insbesondere
handelt es sich nicht um einen nach § 45 oder § 46 VwVfG NRW unbeachtlichen oder
heilbaren Verfahrens- oder Formfehler.
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Es spricht auch viel dafür, dass die Einbürgerung durch bewusste Täuschung
erschlichen worden ist, weil der Antragsteller seine Mitteilungspflichten bewusst verletzt
hat.
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Der Einbürgerungsbewerber ist im Einbürgerungsverfahren mitwirkungspflichtig und hat
der Behörde alle Umstände zu offenbaren, die für die Entscheidung über die
Einbürgerung relevant sind. Hierzu gehört es auch, die Behörde über anhängige
Strafverfahren zu unterrichten, unabhängig davon, ob sich diese Verfahren noch im
Ermittlungsstadium befinden oder ob bereits Anklage erhoben ist. Der Antragsteller ist
nicht seiner Pflicht nachgekommen, den Antragsgegner über das Ermittlungsverfahren
0000 zu informieren. Hierzu reichte es nicht, dem Antragsgegner lediglich eine Kopie
des Schreibens der Staatsanwaltschaft E. - Zweigstelle I. - vom 4. Juli 2001 zukommen
zu lassen. Dieses bei der Behörde am 18. Juli 2001 eingegangene Schreiben bezog
sich auf die Einstellung des Ermittlungsverfahrens 0000 und ließ nicht mit hinreichender
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Klarheit und ohne weitere Nachfragen erkennen, dass ein weiteres, dem Antragsgegner
noch nicht bekanntes Ermittlungsverfahren anhängig war. Den Hinweis, das Verfahren
sei „im Hinblick auf die gegen Ihren Mandanten laufende Haftsache" eingestellt worden,
konnte ein sorgfältiger Sachbearbeiter lediglich zum Anlass nehmen, weitere
Nachforschungen anzustellen. Eine ausreichende Information seitens des Antragstellers
lag darin nicht. Der Antragsteller behauptet auch selbst nicht, die Behörde über die
Übergabe der Kopie des Schreibens vom 4. Juli 2001 hinaus mündlich oder schriftlich
ausdrücklich auf das Verfahren 0000 gewiesen zu haben. In dem anwaltlichen
Schreiben vom 27. Mai 2003 heißt es insoweit lediglich, der Antragsteller habe bereits
am 18. Juli 2001 mitgeteilt, dass ein weiteres Strafverfahren gegen ihn anhängig sei;
dies ergebe sich aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft E. vom 4. Juli 2001. Im
Widerspruchsschreiben vom 23. April 2004 wird nur ausgeführt, dass „mit Schreiben
vom 18. Juli 2001" auf das laufende Ermittlungsverfahren hingewiesen worden sei. Ein
Schreiben vom 18. Juli 2001 existiert aber nicht. Gemeint sein kann nur das am 18. Juli
2001 beim Antragsgegner eingegangene Schreiben der Staatsanwaltschaft E. vom 4.
Juli 2001.
Es spricht auch viel dafür, dass der Antragsteller bewusst gegen seine
Mitwirkungspflichten verstoßen, die Einbürgerung also erschlichen hat.
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Der Antragsteller war auf seine Pflicht, laufende Ermittlungsverfahren bei der Behörde
anzuzeigen, ausdrücklich hingewiesen worden. Allerdings kann zu Gunsten des
Antragstellers angenommen werden, dass die Frage nach Strafverfahren auf Seite 3 des
Antragsformulars missverständlich ist und auch so aufgefasst werden kann, dass nur
bereits bei Gericht anhängige Strafverfahren gemeint sind. Zwar fällt bereits das
staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren unter den Begriff „Strafverfahren", die im
Formular vorgesehenen Antwortalternativen beziehen sich aber allein auf gerichtliche
Verfahren, da jeweils die Angabe des Gerichts verlangt wird. Dies ist aber letztlich nicht
entscheidend, da der Antragsteller mit Schreiben des Antragsgegners vom 27. Juni
2000 allgemein auf seine Mitteilungspflichten u.a. in Bezug auf „Straffälligkeit"
hingewiesen und ihm mit Schreiben vom 22. Dezember 2000 der Wortlaut des § 88 Abs.
3 AuslG mitgeteilt worden ist, wo ausdrücklich der Fall der Ermittlung wegen einer
Straftat angesprochen ist. Der Antragsteller wusste also, dass er verpflichtet war, den
Antragsgegner über eingeleitete Ermittlungsverfahren zu informieren. Seine
Behauptung im Widerspruchsschreiben und in der Antragsschrift an das Gericht, ein
Sachbearbeiter des Antragsgegners habe ihm gegenüber erklärt, nicht die
Ermittlungsverfahren, sondern erst erhobene Anklagen seien von Bedeutung, ist vor
diesem Hintergrund nicht glaubhaft. Der Antragsteller hat in keiner Weise substantiiert,
wann und bei welcher Gelegenheit und durch wen diese Äußerung gefallen sein soll.
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Gegen die Annahme einer erschlichenen Einbürgerung spricht nicht, dass der
Antragsgegner bei äußerst umsichtiger Bearbeitung des Einbürgerungsantrages hätte
erkennen können, dass es sich bei der im Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 4. Juli
2001 genannten „laufenden Haftsache" nicht um das bereits abgeschlossene Verfahren
0000 handeln konnte, sondern ein weiteres Verfahren gemeint sein musste. Dieses
Versäumnis ändert nichts daran, dass die Fortsetzung des Einbürgerungsverfahrens
jedenfalls auch darauf beruhte, dass der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nicht
in ausreichendem Maße nachgekommen war.
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Die Rücknahme der Einbürgerung erfolgte auch rechtzeitig, weil die Jahresfrist des § 48
Abs. 4 VwVfG NRW in den Fällen des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 VwVfG NRW (hier:
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arglistige Täuschung) nicht gilt (§ 48 Abs. 4 Satz 2 VwVfG NRW). Zudem wäre die
Jahresfrist auch noch nicht abgelaufen, da der Antragsgegner erst am 8. April 2003
definitiv erfahren hat, dass das Strafverfahren 0000 bereits am 16. Mai 2001 eingeleitet
worden war.
Der Antragsgegner hat das ihm eingeräumte Rücknahmeermessen auch rechtsfehlerfrei
erkannt und ausgeübt. Er hat die für und gegen die Rücknahme sprechenden Interessen
des Antragstellers und der Allgemeinheit umfassend gewürdigt. Es ist auch nicht zu
beanstanden, dass der Antragsgegner im Rahmen der Ermessensausübung davon
ausgegangen ist, dass der Antragsteller die marokkanische Staatsangehörigkeit bislang
nicht verloren hat. Dies entspricht der Rechtslage. Nach Art. 19 Nr. 1 des Gesetzes über
die marokkanische Staatsangehörigkeit verliert ein volljähriger Marokkaner die
marokkanische Staatsangehörigkeit, wenn er freiwillig im Ausland eine ausländische
Staatsangehörigkeit erworben hat und durch Dekret ermächtigt worden ist, auf die
marokkanische Staatsangehörigkeit zu verzichten.
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Vgl. Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Marokko S. 4 f.;
Brandhuber/Zeyringer, Standesamt und Ausländer, Marokko II. 2.
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Es ist nicht ersichtlich, dass die zuständigen marokkanischen Behörden ein solches
Dekret erlassen haben könnten. Zwar hat der Antragsteller beim Antragsgegner eine an
die Königlich Marokkanische Botschaft in Berlin gerichtete Erklärung abgegeben, mit
der er beantragte, ihn durch Dekret zu ermächtigen, auf die marokkanische
Staatsangehörigkeit zu verzichten; zugleich hat er beim Antragsgegner seinen
marokkanischen Nationalpass abgegeben. Diese Unterlagen hat der Antragsgegner
jedoch - aus welchen Gründen auch immer - nicht an die marokkanische Botschaft
weitergeleitet. Es besteht deshalb kein Anhaltspunkt dafür, dass der marokkanische
Staat den Verzicht auf die Staatsangehörigkeit genehmigt haben könnte. Soweit der
Antragsteller in der Antragsschrift behauptet, er würde bei Entzug der deutschen
Staatsangehörigkeit staatenlos, weil er seinen marokkanischen Pass abgegeben habe,
trifft dies nach den obigen Ausführungen offensichtlich nicht zu, da sich der
marokkanische Pass noch beim Antragsgegner befindet.
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Es ist auch nicht ermessensfehlerhaft, dass die Einbürgerung zurückgenommen wurde,
obwohl trotz der Verurteilung zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten, zu der
das seinerzeit laufende Ermittlungsverfahren geführt hat, eine Einbürgerung theoretisch
denkbar wäre. Die Verurteilung müsste zwar nicht nach § 88 Abs. 1 Satz 1 AuslG
zwingend außer Betracht bleiben, könnte aber im Einzelfall nach § 88 Abs. 1 Satz 2
AuslG außer Betracht bleiben. Ein solcher Sonderfall liegt aber offenkundig nicht vor.
Weder aus der Art der Straftat noch unter Berücksichtigung des Lebensweges des
Antragstellers und des Zeitablaufs lassen sich besondere Umstände herleiten, die eine
Einbürgerung trotz des hohen Strafmaßes rechtfertigen könnten. Hinzu kommt, dass
zum Zeitpunkt des Rücknahmebescheides erneut zwei strafrechtliche
Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller anhängig waren, die nach § 88 Abs. 3
AuslG einer Einbürgerung entgegengestanden hätten.
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Wenn nach alledem viel für die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der Einbürgerung
spricht, fällt auch die Interessenabwägung zu Ungunsten des Antragstellers aus. Dabei
ist zu berücksichtigen, dass ein erhebliches öffentliches Interesse daran besteht, dass
Personen, die in erheblichem Maße straffällig geworden sind, nicht in den deutschen
Staatsverband eingebürgert werden. Gleichermaßen besteht ein erhebliches
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öffentliches Interesse daran, dass die rechtswidrige Einbürgerung solcher Personen
alsbald rückgängig gemacht wird, damit ggf. auch ausländerrechtliche Konsequenzen
gezogen werden können. Der Antragsteller hat sich in der Vergangenheit wiederholt
strafbar gemacht. Der strafrechtlichen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren
und 3 Monaten lagen - wie sich aus der Begründung der entsprechenden Strafurteile
und der Höhe des Strafmaßes ergibt - schwerwiegende Straftaten zu Grunde. Im
Hinblick darauf wäre es nicht hinnehmbar, wenn es - auch nur vorübergehend - bei der
Einbürgerung des Antragstellers bliebe. Es kann zudem keine Rede davon sein, dass
der Antragsteller kaum noch mit der marokkanischen Kultur und Gesellschaft verbunden
ist. Zwar lebt er seit 1993 in Deutschland, er hat aber weiterhin durchaus enge
Beziehungen nach Marokko, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er sich auch aktuell
für längere Zeit in Marokko aufgehalten hat oder auch jetzt noch aufhält. Aus diesem
Grunde konnte auch der vom Gericht ins Auge gefasste Erörterungstermin nicht
stattfinden.
Der Antragsteller trägt gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens. Die
Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 3 des
Gerichtskostengesetzes in der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung. In
einem Hauptsachestreitverfahren wäre wegen der Bedeutung einer Einbürgerung der
Streitwert entsprechend der Praxis in vergleichbaren Fällen in Höhe des doppelten
Auffangstreitwertes festzusetzen. Dieser Betrag ist in Anbetracht der Vorläufigkeit dieses
Verfahrens wiederum zu halbieren.
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