Urteil des VG Arnsberg vom 13.12.2005

VG Arnsberg: eltern, behinderung, gesellschaft, jugendhilfe, wahrscheinlichkeit, icd, legasthenie, jugendamt, schüler, krankheitswert

Verwaltungsgericht Arnsberg, 11 K 910/05
Datum:
13.12.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 K 910/05
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 27.01.2005
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2005 verpflichtet,
dem Kläger Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII für die Zeit vom
11.11.2004 bis zum 31.03.2005 in Form der Übernahme der Kosten der
von dem Kläger in der Praxis O. durchgeführten Lerntherapie zu
bewilligen. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden. Die außergerichtlichen Kosten
der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig. Das Urteil ist wegen der
Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der am 18.03.1995 geborene Kläger wurde im Sommer 2001 in den Schulkindergarten
aufgenommen und im Sommer 2002 in das 1. Schuljahr eingeschult. Die
Klassenlehrerin bemerkte bei ihm eine Teilleistungsschwäche im Bereich der visuellen
und akustischen Wahrnehmung sowie Beeinträchtigungen in der Feinmotorik und der
Auge-Hand-Koordination.
2
Am 11.11.2004 beantragten die Eltern des Klägers für ihren Sohn Eingliederungshilfe
gemäß § 35 a des Sozialgesetzbuches - 8. Buch: Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII)
und gaben zur Begründung an, dass dieser extreme Schwächen im Schreiben und
Lesen habe; er leide an erheblichen Selbstwertproblemen, sei zu Hause aggressiv und
säße stundenlang über seinen Hausaufgaben. Zur weiteren Begründung des Antrages
legten die Eltern eine fachärztliche Bescheinigung des Facharztes für Kinder- und
Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie E. vom 29.11.2004 vor. Dieser diagnostizierte
bei dem Kläger, der seit längerem sein Patient ist, eine Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung mit Störung des Sozialverhaltens sowie eine
therapiebedürftige, schwere Lese- Rechtsschreib-Schwäche (LRS). Außerdem stellte er
bei dem Kläger ausgedehnte Teilleistungsstörungen und eine sekundäre
3
Neurotisierung mit Krankheitswert fest und kam zu dem Schluss, dass die Störungen
nicht nur mit schulischen Mitteln behandelbar seien.
Auch die Klassenlehrerin des Klägers legte in dem vom Jugendamt angeforderten
Schulfragebogen vom 01.12.2004 dar, dass die schulischen Förderungsmöglichkeiten
angesichts des Umfangs der Teilleistungsstörungen nicht ausreichten, zumal über die
Differenzierung im Unterricht keine weitere Förderung erfolgen könnte. Bei der Frage
nach beobachteten Auffälligkeiten wies die Klassenlehrerin auf ein negatives
Selbstbildnis des Klägers, Schulverweigerung sowie auf seine Misserfolgsangst hin.
4
Bei einer am 28.12.2004 durchgeführten kollegialen Beratung kamen die zuständigen
Fachkräfte des Jugendamtes überein, dass zwar grundsätzlich ein Hilfebedarf bestehe,
vor einer abschließenden Entscheidung aber noch weitere Ermittlungen erforderlich
seien. Die fallzuständige Fachkraft des Jugendamtes nahm sodann erneut Kontakt zur
Klassenlehrerin, zu E. sowie zu den Eltern auf. Die Klassenlehrerin gab an, dass es für
die vom Kläger besuchte 3. Klasse keine gezielte LRS-Förderung gebe; der hohe
Förderbedarf des Klägers beschränke sich im Übrigen nicht auf den Bereich der
Legasthenie. Der Kläger habe Freunde in der Klasse, mit denen er in der Pause gerne
Fußball spiele. E. äußerte auf die Frage des Jugendamtes nach dem konkreten
Therapiebedarf, dass die bestehende massive psychosoziale Störung nicht nur auf die
LRS zurückzuführen sei, sondern in erster Linie als Folge der Hyperaktivität gesehen
werden müsse.
5
Nach Durchführung einer weiteren kollegialen Beratung lehnte der Beklagte den Antrag
des Klägers auf Eingliederungshilfe mit Bescheid vom 27.01.2005 ab. Zur Begründung
ist ausgeführt, dass ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nur bestehe, wenn durch eine
seelische Störung die Eingliederung des Kindes in die Gesellschaft in erheblichem
Umfang beeinträchtigt oder gefährdet sei. Der Kläger sei aber im Klassenverband
integriert und besuche in seiner Freizeit nach Anagabe der Eltern einen Fußballverein.
6
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger, vertreten durch seine Eltern, am 11.03.2005
Widerspruch und legte einen Bericht seiner Klassenlehrerin vom 05.03.2005 sowie ein
Schreiben der Lerntherapeutin O. , bei der er seit Januar 2005 an einem
Förderprogramm teilnahm, vor. Der Beklagte wies diesen Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 30.03.2005 zurück. Er wiederholte, dass die Eingliederung
des Klägers in die Gesellschaft nicht gefährdet sei; sein Rückzugsverhalten zeige der
Kläger nur, wenn er mit Lernsituationen konfrontiert werde.
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Mit seiner am 22.04.2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er
macht geltend, dass sich sein Anspruch auf Eingliederungshilfe aus § 35 a SGB VIII
ergebe. Der Beklagte verkenne, dass ein Anspruch nach dieser Norm gegeben sei,
wenn eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Kindes am Leben in der Gesellschaft auf
Grund der Störung der seelischen Gesundheit zu erwarten sei. E. habe festgestellt, dass
bei ihm wegen der Teilleistungsstörung bereits eine sekundäre Neurotisierung vom
Krankheitswert mit deutlichen Verhaltensstörungen eingetreten sei. Damit sei er von
einer seelischen Behinderung zumindest bedroht.
8
Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 27.01.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30.03.2005 zu verpflichten, ihm - dem Kläger -
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Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII für die Zeit vom 11.11.2004 bis zum
31.03.2005 in Form der Übernahme der Kosten der von ihm in der Praxis O.
durchgeführten Lerntherapie zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
12
Zur Begründung seines Antrags führt der Beklagte aus, dass ein Anspruch des Klägers
schon deswegen nicht gegeben sei, weil es an einer seelischen Behinderung im Sinne
des § 35 a Abs. 1 SGB VIII fehle. Eine solche Behinderung setze voraus, dass die
Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sei, dass sie die Fähigkeit zur
Eingliederung in die Gesellschaft erheblich beeinträchtige. Hierfür reichten generelle
Schulprobleme und Schulängste nicht aus. Aus der Stellungnahme der Klassenlehrerin
ergebe sich, dass der Kläger zwar unter seiner LRS leide, er sich aber andererseits sehr
viel Mühe gebe, am Unterrichtsgeschehen mitzuwirken. Er stehe offensichtlich unter
großem Leistungsdruck und sei betrübt, wenn er die Anforderungen nicht erfüllen könne.
Hierbei handele es sich um typische Strategien zum Umgang mit Schwächen, nicht aber
um eine drohende seelische Behinderung.
13
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im übrigen wird auf den Inhalt der Verfahrensakte sowie der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
15
Entscheidungsgründe:
16
Die Klage ist zulässig und begründet.
17
Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Gewährung von
Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten der von ihm in der Praxis O.
durchgeführten Therapie in der Zeit vom 11.11.2004 bis zum 31.03.2005. Der
ablehnende Bescheid des Beklagten vom 27.01.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30.03.2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in
seinen Rechten.
18
Der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Eingliederungshilfe für die Zeit vom
11.11.2004 bis zum 31.03.2005 ergibt sich aus § 35 a Abs. 1 des Sozialgesetzbuches -
8. Buch: Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII). Nach dieser Norm haben Kinder oder
Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit
hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter
typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2).
Bei der Bestimmung des auf Grund dieser Anspruchsnorm leistungsberechtigten
Personenkreises hat sich der Gesetzgeber bei der zum 01.07.2001 in Kraft getretenen
Neufassung der Norm an der Terminologie des 9. Buches des Sozialgesetzbuches -
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) und insbesondere an der
dort in § 2 enthaltenen Legaldefinition der Behinderung orientiert.
19
Vgl. Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Sozialgesetzbuches - 9. Buch:
20
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) - Bun-
destagsdrucksache 14/5074 zu Art. 8 des Gesetzes; Harnach-Beck, in:
Jans/Happe/Saurbier: SGB VIII, Loseblattkommentar, Stand: April 2005, Rdnr. 20 vor §
35 a.
Nach dieser Gesetzesbegründung ist ein untypischer Gesundheitszustand im Sinne der
gesetzlichen Regelung gekennzeichnet durch den Verlust oder die Beeinträchtigung
von Funktionen oder Fähigkeiten, die mit einem normalerweise vorhandenen Zustand
seelischer Gesundheit verbunden sind. Die in § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII als erste
Leistungsvoraussetzung benannte Störung der seelischen Gesundheit betrifft damit
medizinisch fassbare und feststellbare Normabweichungen, wie sie in dem Kapitel V
der 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) der
Weltgesundheitsorganisation verzeichnet sind. Bei der Bezeichnung der konkret
vorliegenden Störung der seelischen Gesundheit ist auf den vierstelligen Schlüssel
dieser Internationalen Klassifikation zurück zu greifen.
21
Vgl. Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Loseblattkommentar, Stand: Juli 2005, § 35 a,
Rdnr. 15; Kunkel: Welche Bedeutung hat das SGB IX für die Jugendhilfe?, in: Zeitschrift
für Sozialhilfe und Sozialgesetzgebung (ZFSH/SGB) 2001, S. 707 (708).
22
Damit eine Zugehörigkeit zum Personenkreis der seelisch Behinderten festgestellt
werden kann, muss aus der (mit hoher Wahrscheinlichkeit) mehr als sechs Monate
andauernden psychischen Störung oder Erkrankung eine Erschwerung für das Leben in
der Gesellschaft im Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII resultieren.
23
Weiter gehören zum Personenkreis des § 35 a SGB VIII auch die von einer seelischen
Behinderung Bedrohten. Insofern besteht der Anspruch auf Eingliederungshilfe bereits
dann, wenn auf Grund eines Abweichens der seelischen Gesundheit im Sinne der
Regelung in Abs. 1 Nr.1 der genannten Norm eine Beeinträchtigung der Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft zu erwarten ist. Die Bedrohung von Behinderung bezieht sich
also nicht auf den zu erwartenden Eintritt einer seelischen Krankheit, sondern auf die
Erwartung einer Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das
bedeutet für die Annahme einer drohenden Behinderung, dass entweder eine mehr als
sechs Monate andauernde seelische Störung oder Krankheit bereits vorliegt oder eine
solche mit hoher Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren ist.
24
Vgl. Stähr, aaO., § 35 a, Rdnr. 33.
25
Die Prognose bezieht sich dabei lediglich auf die mutmaßliche Dauer einer bereits
vorliegenden seelischen Erkrankung beziehungsweise Störung.
26
Vgl. Vondung in: Kunkel, Lehr- und Praxiskommentar zum SGB VIII, 2. Auflage 2003, §
35 a, Rdnr. 6 c; Harnach-Beck, in: Jans/Happe/Saurbier, aaO, § 35 a Rdnr. 46.
27
Dementsprechend droht einem Kind oder Jugendlichen eine seelische Behinderung im
Sinne des § 35 a Abs. 1 SGB VIII dann, wenn der Betreffende seelisch erkrankt oder
gestört ist, dieser Zustand bereits länger als sechs Monate andauert oder mit hoher
Wahrscheinlichkeit andauern wird und infolgedessen eine Beeinträchtigung der
Teilhabe an der Gesellschaft zu erwarten ist.
28
Ausgehend hiervon gehört der Kläger zu dem in § 35 a SGB VIII angesprochenen
29
Personenkreis der seelisch behinderten bzw. von einer solchen Behinderung bedrohten
Personen. Aufgrund der bei ihm vorliegenden Therapie bedürftigen schweren LRS (ICD
10 F 81.0, 81.1), neben der noch ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ICD 10 F 90)
besteht, hat sich bei ihm ein seine seelische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes
Störungsbild entwickelt. E. diagnostizierte eine im Wesentlichen durch die LRS
bedingte sekundäre Neurotisierung von Krankheitswert und eine reaktive psychosoziale
Störung (ICD 10 F 43.8). Mit Rücksicht auf diese auch vom Jugendamt nicht in Frage
gestellten fachärztlichen Aussagen hat der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid
vom 30.03.2005 ausdrücklich das Vorliegen einer seelischer Störung im Sinne des § 35
a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII bejaht. Aus der fachärztlichen Stellungnahme des E. und dem
von der Klassenlehrerin am 01.12.2004 ausgeführten Schulfragebogen ergibt sich
weiter, dass diese Störung der seelischen Gesundheit des Klägers nicht nur
vorübergehend ist, sondern schon zu Beginn seiner Schulzeit deutlich erkennbar war
und sich seither verfestigte.
Die Störung der seelischen Gesundheit des Klägers hat auch bereits zu einer
beginnenden Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft geführt,
und bei Verzicht auf therapeutische Maßnahmen ist eine weiter fortschreitende
Beeinträchtigung dieser Teilhabefähigkeit zu erwarten. Das Bestehen einer
Teilhabestörung im Sinne des § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII lässt sich daran erkennen,
dass die Einbindung des Kindes in die zentralen Lebensbereiche wie Familie, Schule
und Gleichaltrigengruppe erschwert ist und das Kind nur noch bedingt die Fähigkeit hat,
sich in diesen Bereichen altersangemessen selbst zu verwirklichen und das benötigte
Maß an Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren.
30
Vgl. Harnach-Beck, aaO., § 35 a, Rdnr. 43; Vondung, in: LPK-SGB VIII, aaO., § 35 a,
Rdnr. 6 c, Kunkel: § 35 a SGB VIII aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht, in:
Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzgebung (ZFSH/SGB) 2005, S. 327 f. (328).
31
Bei dem Kläger bestehen, wie in der fachärztlichen Stellungnahme von E. ausgeführt ist,
deutliche Verhaltensstörungen. In welcher Weise sich diese im familiären und
schulischen Bereich auswirken, haben die Eltern des Klägers im Zusammenhang mit
der Antragstellung beim Jugendamt ausführlich dargelegt. Danach nässt der Kläger
nachts häufig ein, hat kein Selbstvertrauen und verhält sich teilweise aggressiv. Im
schulischen Bereich ist die Integration wegen der diagnostizierten Störung der
seelischen Gesundheit ebenfalls beeinträchtigt, wie sich aus dem von der
Klassenlehrerin ausgefüllten Schulfragebogen vom 01.12.2004 ergibt. Der Kläger fällt in
der Schule durch ein negatives Selbstbildnis, Schulverweigerung sowie Angst vor
Misserfolg auf und ist durch die festgestellte psychische Beeinträchtigung bei der
Integration in den Klassenverband benachteiligt.
32
Die vorliegenden Stellungnahmen der Klassenlehrerin und auch das fachärztliche
Gutachten des E. belegen ferner, dass sich diese beginnende Teilhabestörung
zusehends verschlimmerte, weshalb sowohl E. als auch die Lehrerin die kurzfristige
Einleitung therapeutischer Maßnahmen für notwenig erachteten. In ihrem Schreiben
vom 05.03.2005 beschreibt die Lehrerin die vom Kläger zur Verschleierung seiner
Teilleistungsstörung angewandten Strategien. Diese reichten aber angesichts der
ständig steigenden Leistungsanforderungen immer weniger aus, um seine erheblichen
Defizite im Bereich des Lesens und Schreibens zu überdecken, so dass sich der Kläger
zunehmend verzweifelt zeigte und sich mehr und mehr zurückzog.
33
Zählt der Kläger hiernach zu den nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII grundsätzlich
leistungsberechtigten Personen, so steht dem geltend gemachten
Eingliederungshilfebegehren des weiteren nicht die Regelung in § 10 Abs. 1 SGB VIII
entgegen. Nach § 1 SGB VIII in der hier noch maßgeblichen, bis zum 30.09.2005 gültig
gewesenen Fassung werden Verpflichtungen anderer, insbesondere
Unterhaltspflichtiger oder der Träger anderer Sozialleistungen, durch das SGB VIII nicht
berührt; Leistungen anderer dürfen nicht versagt werden, weil nach dem SGB VIII
entsprechende Leistungen vorgesehen sind. Diesen Bestimmungen ist nach einhelliger
Auffassung zu entnehmen, dass Jugendhilfeleistungen subsidiär sind und dass
insbesondere auch die Verpflichtung der Schule, etwa bei Teilleistungsstörungen
besonderen Förderunterricht zu erteilen, gegenüber der Jugendhilfe vorrangig ist.
34
Vgl. Wiesner u. a., aaO., § 10, Rdnr. 25; Schellhorn, SGB VIII, Kommentar, 2. Auflage
2000, § 10, Rdnr. 11; Bieritz-Harder, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Loseblattkommentar,
Stand: Juli 2005, § 10, Rdnr. 17 mit weiteren Nachweisen.
35
Insofern hat die Neufassung des § 10 Abs. 1 SGB VIII durch das Gesetz zur
Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom 08.09.2005 (BGBl. I S. 2729), in der
jetzt ausdrücklich auch die Verpflichtung der Schule genannt ist, nur zu einer
Klarstellung, nicht aber zu einer Änderung der Rechtslage geführt.
36
Auf eine gegenüber der Jugendhilfe vorrangige Leistungsverpflichtung eines anderen
Trägers kann ein Hilfesuchender allerdings nach ebenfalls einhelliger Auffassung nur
dann verwiesen werden, wenn dieser vorrangige Anspruch rechtzeitig durchgesetzt
werden kann. Es dürfen also nur solche vorrangigen Alternativleistungen in Betracht
gezogen werden, die tatsächlich zur kurzfristigen Bedarfsdeckung zur Verfügung
stehen. Es muss sich um sogenannte präsente Mittel handeln.
37
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 12.06.2002 - 16 A 5013/00 -, in: Rechts- dienst der
Lebenshilfe (RDLH) 2002, S. 104, und vom 15.06.2000 - 16 A 3108/99 -, in: Deutsches
Verwaltungsblatt (DVBl.) 2000, S. 1793; VG Aachen, Beschluss vom 18.11.2004 - 2 L
577/04 -, in: Entscheidungen und Gutachten (EuG) 59, S. 301 (304).
38
Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht gegeben. Die von dem Kläger besuchte
beigeladene Wieseschule kam ihrer Verpflichtung, den von Legasthenie betroffenen
Schülerinnen und Schüler im notwendigen Umfang Förderunterricht zu erteilen, nicht
nach. Aus dem von der Klassenlehrerin ausgefüllten Schulfragebogen sowie aus den
weiteren Stellungnahmen der Beigeladenen ergibt sich, dass diese aus
organisatorischen Gründen die vom Kläger ersichtlich benötigte zusätzliche Förderung
nicht sicherstellen konnte. In einer solchen, durch die eindeutige Ablehnung der
notwendigen Förderung durch die Schule gekennzeichneten Situation ist es dem
Schüler bzw. seinen Eltern nicht zuzumuten, gegen die Schulverwaltung etwa im Wege
eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorzugehen.
39
Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 22.01.2001 - 19 K 11140/98 -, in: Nordrhein-Westfälische
Verwaltungsblätter (NWVBl.) 2001, S. 362.
40
Grundsätzlich wäre es aber primär Aufgabe der von dem Kläger besuchten Schule, der
Beigeladenen, gewesen, die notwendigen allgemeinen und zusätzlichen
Fördermaßnahmen wie z. B. schulische Förderkurse anzubieten. Die Verpflichtung der
Beigeladenen zur Durchführung entsprechender Fördermaßnahmen ergibt sich aus § 1
41
Abs. 3 des hier noch maßgeblichen, erst mit Wirkung vom 01.08.2005 durch das neue
Schulgesetz außer Kraft gesetzten Schulordnungsgesetz für das Land Nordrhein-
Westfalen (SchOG) in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung für das Land
Nordrhein-Westfalen und dem Runderlass des Kultusministeriums vom 19.07.1991 zur
Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Erlernen
des Lesens und Rechtschreibens (LRS). Nach § 1 Abs. 3 SchOG hat die Schule die
Aufgabe, die Jugend zu bilden und ihr das für Leben und Arbeit erforderliche Wissen
und Können zu vermitteln. In § 8 Abs. 1 Landesverfassung ist der Anspruch des Kindes
auf Erziehung und Bildung formuliert. Zum Inhalt dieses an die Schule gerichteten
Bildungsauftrages und -anspruchs ist in dem LRS-Runderlass ausgeführt, dass der
Beherrschung der Schriftsprache für die sprachliche Verständigung, für den Erwerb von
Wissen und Bildung, für den Zugang zum Beruf und für das Berufsleben besondere
Bedeutung zukommt, weshalb es zu den wesentlichen Aufgaben der Grundschule
gehört, das Lesen und Schreiben zu lehren. Diese Aufgabe hat die Grundschule auch
dann, wenn das ihr anvertraute Kind von Legasthenie betroffen ist und daher besondere
Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens hat. Hierzu heißt es unter
1.3 des Runderlasses, dass die Schule gerade auch diese Schüler gezielt zu fördern
hat, und in Punkt 2 des Runderlasses sind verschiedene allgemeine und zusätzliche
Fördermaßnahmen beschrieben, die die Schule je nach Ausmaß der
Teilleistungsstörung anbieten muss. Hinsichtlich der Dauer der Fördermaßnahmen ist
unter 3.4 des Erlasses ausgeführt, dass die Förderkurse für einen Zeitraum von
mindestens einem halben Schuljahr eingerichtet werden sollen und je nach Bedarf drei
Wochenstunden umfassen.
Mit diesen Bestimmungen des Erlasses, welche die Förderpflichten der Schule bei
Schülern mit Legasthenie bis ins einzelne beschreiben, hat sich die Schulverwaltung
selbst in der Weise gebunden, dass der in Art. 8 Abs. 1 Landesverfassung und § 1 Abs.
3 SchOG geregelte Bildungsanspruch des einzelnen Grundschülers im Bedarfsfall
gerade auch die in dem Runderlass festgelegten Fördermaßnahmen einschließt. Unter
dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung steht den an einer Lese-
Rechtschreibschwäche leidenden Schülern daher grundsätzlich ein Anspruch gegen
die Schule zu, ihnen diese vorgesehenen Fördermaßnahmen auch anzubieten.
42
Bietet die Schule - wie vorliegend - diese notwendigen Fördermaßnahmen nicht in dem
benötigten Umfang an, so ist der Schulträger bzw. das Land NRW allerdings nicht
verpflichtet, auf der Grundlage des - ebenfalls zum 01.08.2005 durch das Schulgesetz
außer Kraft gesetzten - § 1 Schulfinanzgesetz für die Kosten eines von den Eltern
beauftragten Therapeuten aufzukommen. Dies folgt schon daraus, dass zur Erfüllung
des Erziehungs- und Bildungsauftrages der Schule nur solche Lehrer, Beamte und
andere Bedienstete tätig werden dürfen, auf deren Auswahl und konkrete Tätigkeit das
Land oder der Schulträger einen rechtlich hinreichend gesicherten Einfluss ausüben
kann.
43
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 09.06.2004 - 19 A 2962/02 -, S. 15 des amtlichen
Urteilsabdrucks.
44
Der Eingliederungshilfeanspruch des Klägers gegen den Beklagten ist gemäß § 35 a
Abs. 2 SGB VIII auf die Übernahme der Kosten gerichtet, die dem Kläger bzw. dessen
Eltern auf Grund der Durchführung der Lerntherapie in der Praxis O. in der Zeit vom
11.11.2004 bis zum 31.03.2005 entstanden sind. Dem steht nicht entgegen, dass sich
der Kläger und dessen Eltern diese Leistung selbst beschafft haben. Der Hilfesuchende
45
ist dann zur Selbstbeschaffung einer Jugendhilfeleistung berechtigt, wenn er hierauf zur
effektiven Durchsetzung eines bestehenden Jugendhilfeanspruchs angewiesen ist, weil
der örtliche Jugendhilfeträger sie nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt
hat, obgleich der Hilfesuchende zugleich die Leistungserbringung durch eine
rechtzeitige Antragstellung und seine hinreichende Mitwirkung ermöglicht hat und auch
die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vorliegen. In
dieser Situation darf sich der Leistungsberechtigte die Leistung selbst beschaffen, wenn
es ihm wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten ist, die Bedarfsdeckung
aufzuschieben.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.03.2003 - 12 A 122/02 -.
46
Eine solche, den Kläger und seine Eltern zur Selbstbeschaffung berechtigende
Situation war hier gegeben. Der Beklagte hat die vom Kläger rechtzeitig beantragte und
auch - wie die Stellungnahmen von E. und der Klassenlehrerin belegen - dringend
benötigte Eingliederungshilfe zu Unrecht versagt.
47
Die von den Eltern eingeleitete ambulante Betreuung des Klägers in der Praxis O.
erscheint weiter als eine zur Abdeckung des bestehenden Eingliederungshilfebedarfs
geeignete Maßnahme. Der Beklagte kann insoweit auch nicht einwenden, dass andere
Maßnahmen mit einem umfassenderen therapeutischen Ansatz möglicherweise zur
erfolgreichen vollständigen Wiedereingliederung des Klägers besser geeignet gewesen
wären. Denn der Beklagte hat es unterlassen, den Kläger bzw. seinen Eltern eine
konkrete, gegebenenfalls besser geeignete Alternativmaßnahme aufzuzeigen.
Überlässt der Träger der Jugendhilfe es dem Hilfesuchenden, sich die seinem
unaufschiebbaren Bedarf deckende Leistung selbst zu beschaffen, kann er der
Zulässigkeit der Selbstbeschaffung später nicht entgegenhalten, er hätte eine andere
Hilfe für geeignet und notwendig erachtet.
48
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.03.2003 - 12 A 122/02 -.
49
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO). Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei. Die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht gemäß § 162 Abs. 3 VwGO für
erstattungsfähig zu erklären gewesen, weil die Beigeladene keinen Antrag gestellt und
damit auch kein eigenes Kostenrisiko übernommen hat.
50
Die übrigen Nebenentscheidungen folgen aus § 167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 11, 711 der
Zivilprozessordnung.
51
Rechtsmittelbelehrung:
52
Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung beim
Verwaltungsgericht Arnsberg (Jägerstraße 1, 59821 Arnsberg, Postanschrift:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 59818 Arnsberg) Antrag auf Zulassung der Berufung
gestellt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von
zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die
Berufung zuzulassen ist.
53
Die Berufung ist nur zuzulassen, 1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des
Urteils bestehen, 2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche
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Schwierigkeiten aufweist, 3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des
Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des
Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung
beruht oder 5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender
Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung
beruhen kann.
Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Zulassungsantrag vorgelegt
worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
(Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, bzw. Postfach 6309, 48033 Münster) einzureichen.
Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss.
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Vor dem Oberverwaltungsgericht muss sich jeder Beteiligte, soweit er einen Antrag
stellt, durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im
Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen.
Das gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Juristische Personen des
öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit
Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst,
Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum
Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen
Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In
Abgabenangelegenheiten sind vor dem Oberverwaltungsgericht als
Prozessbevollmächtigte auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zugelassen.
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Der Antragsschrift sollen möglichst Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt
werden.
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