Urteil des VG Arnsberg vom 12.07.2006

VG Arnsberg: aufschiebende wirkung, fehlende eröffnung, verfügung, vollziehung, straftat, strafverfahren, unschuldsvermutung, körperverletzung, wahrscheinlichkeit, sonntag

Verwaltungsgericht Arnsberg, 3 L 551/06
Datum:
12.07.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 L 551/06
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung
eines Rechtsanwaltes wird abgelehnt.
G r ü n d e
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Der Antrag des Antragstellers, ihm für das einstweilige Rechtsschutzverfahren mit dem
sinngemäßen Antrag,
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die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verfügung des
Antragsgegners vom 10. Mai 2006 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,
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Prozesskostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwalt L. , T2. , beizuordnen, bleibt ohne
Erfolg, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung in der Hauptsache nicht die
erforderlichen Erfolgsaussichten (§ 166 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - in
Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung - ZPO -) aufweist.
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Der einstweilige Rechtsschutzantrag wäre aller Voraussicht nach erfolglos.
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Entgegen der Auffassung des Antragstellers hat der Antragsgegner die Anordnung der
sofortigen Vollziehung des zeitlich und räumlich beschränkten Betretungs- und
Aufenthaltsverbots in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO noch
genügenden Weise begründet. Er hat sich nicht auf eine den Gesetzeswortlaut lediglich
wiederholende oder bloß formelhafte Begründung beschränkt, sondern auf den
Einzelfall bezogen das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung sinngemäß
damit begründet, dass die vom Antragsteller zu erwartenden weiteren Störungen der
öffentlichen Sicherheit nicht hingenommen werden könnten und daher eine zeitliche
Verzögerung durch die Einlegung etwaiger Rechtsbehelfe im Interesse der
Allgemeinheit nicht verantwortet werden könne.
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Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung der widerstreitenden
Vollzugsinteressen dürfte zu Lasten des Antragstellers ausgehen, weil das öffentliche
Interesse an der sofortigen Vollziehung das private Aussetzungsinteresse überwiegen
dürfte.
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Zunächst dürfte eine an den Erfolgsaussichten des Widerspruchs orientierte Abwägung
kein überwiegendes Aussetzungsinteresse ergeben. Es spricht mehr für die
Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbots.
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Der Antragsgegner war zum Einschreiten befugt, weil er zur Gefahrenabwehr tätig
geworden ist (§ 1 Satz 1 Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen - PolG NRW -).
Insbesondere war die allgemeine Ordnungsbehörde zur Gefahrenabwehr nicht
zuständig, weil diese nicht zu einem Aufenthaltsverbot nach § 34 Abs. 2 PolG NRW
befugt ist (vgl. § 34 Nr. 13 Ordnungsbehördengesetz - OBG -) und das Einschreiten auf
die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten abzielte.
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Ein etwaiger Anhörungsmangel machte den Bescheid nicht formell rechtswidrig. Selbst
wenn der Antragsgegner insoweit verfahrensfehlerhaft gehandelt hätte, wäre dies im
Ergebnis bedeutungslos, weil die Anhörung im Widerspruchsverfahren nachgeholt
werden kann und der Antragsteller auch tatsächlich in diesem Zusammenhang (und im
vorliegenden Verfahren) Stellung genommen sowie der Antragsgegner sich hiermit
auseinandergesetzt hat.
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Bei der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dürfte die
Annahme des Antragsgegners nicht zu beanstanden sein, dass die Voraussetzungen
des § 34 Abs. 2 Satz 1 PolG NRW vorlagen und -liegen. Danach kann für den Fall, dass
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen
Bereich eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, dieser Person für
eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort
aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung oder nimmt dort berechtigte
Interessen wahr. Nach Satz 3 der Regelung ist die Maßnahme zeitlich und örtlich auf
den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken; sie darf ferner die
Dauer von drei Monaten nicht überschreiten (Satz 4). Eine Maßnahme nach § 34 Abs. 2
PolG NRW setzt die hinreichende Wahrscheinlichkeit voraus, dass die Person in dem
betroffenen örtlichen Bereich eine Straftat begehen bzw. zur ihrer Begehung beitragen
wird. Nicht ausreichend sind hingegen bloße Vermutungen. Vgl.
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom
27. Juni 2006 - 5 B 1142/06 -.
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Es spricht nach der Aktenlage Überwiegendes dafür, dass die Annahme des
Antragsgegners zutrifft, aufgrund von Tatsachen sei davon auszugehen, der
Antragsteller werde in den in der angegriffenen Verfügung festgelegten Bereichen
weitere Straftaten begehen.
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Diese Prognose liegt aufgrund der vom Antragsgegner geschilderten Vorfälle in der
jüngeren Vergangenheit nahe. Nach Aktenlage ist der Antragsteller seit Januar 2006 im
Bereich der T2. Innenstadt bzw. des Bahnhofsvorplatzes mehrfach im Zusammenhang
mit Körperverletzungsdelikten und Sachbeschädigungen auffällig geworden, wobei die
Tatzeitpunkte überwiegend die Abend- oder Nachtstunden an Wochenenden waren:
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So war der Antragsteller am frühen Morgen des Sonntag, den 15. Januar 2006,
gemeinsam mit anderen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden an einer
Auseinandersetzung mit einer anderen Personengruppe beteiligt, in deren Verlauf er
einer weiblichen Person einen massiven Faustschlag in das Gesicht versetzte und sie
dadurch so schwer verletzte, dass sie im Krankenhaus behandelt werden musste; das
diesbezügliche Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Am 30. März 2006 soll sich
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der Antragsteller, der mit anderen Jugendlichen und Heranwachsenden die sog.
Frühjahrskirmes besuchte, nach den polizeilichen Feststellungen als Außenstehender
an einer bereits laufenden Auseinandersetzung anderer Personen dergestalt beteiligt
haben, dass er einer von ihnen ohne erkennbaren Grund und in lebensgefährdender
Weise drei Messerstiche in den Rückenbereich versetzte; auch das insoweit gegen den
Antragsteller eingeleitete Strafverfahren ist noch nicht beendet. Am Morgen des 6. Mai
2006, einem Sonntag, wurde der Antragsteller gegen 2.50 Uhr gemeinsam mit anderen
Jugendlichen und Heranwachsenden in der T2. Fußgängerzone von Polizeibeamten
angetroffen; obwohl andere Polizeibeamte nur kurze Zeit zuvor mit einigen
Gruppenmitgliedern - u.a. dem Antragsteller - ein sog. Präventionsgespräch geführt
hatten, traten sie gemeinsam mit anderen auf ein zuvor von ihnen entwendetes und auf
dem Boden liegendes Fahrrad ein; das deshalb eingeleitete Strafverfahren ist derzeit
noch nicht abgeschlossen.
Der Antragsteller hat den aktenkundigen Vorwürfen nichts Durchgreifendes
entgegengesetzt.
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Soweit er sinngemäß behauptet, das Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher
Körperverletzung sei eingestellt worden bzw. werde nicht weiter betrieben, trifft dies
nach Einsicht der Kammer in die Strafakte 24 Ds 322 Js 347/06 (127/06) ebenso wenig
zu wie seine Auffassung gerechtfertigt wäre, es handele sich um ein „Bagatelldelikt".
Immerhin hat der Antragsteller anläßlich des Vorfalls vom 15. Januar 2006 ohne
nachvollziehbaren Grund und ohne jede Vorwarnung einen heftigen Faustschlag in das
Gesicht einer Frau ausgeführt und zur „Rechtfertigung" bei seiner ersten Befragung
durch die Polizei lediglich vorgebracht, die geschädigte junge Frau haben ihn „mit ihrem
Gequatsche so genervt", dass er „ihr eine geklatscht" habe. Hinsichtlich der übrigen
Vorfälle bestreitet der Antragsteller die Richtigkeit der Aktenlage schon nicht (jedenfalls
nicht substantiiert), sondern trägt lediglich vor, es sei richtig, dass Verfahren wegen
gefährlicher Körperverletzung bzw. Diebstahl und Sachbeschädigung eingeleitet
worden, diese seien indes noch nicht abgeschlossen. Damit erschüttert er die
polizeilichen Feststellungen nicht.
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Wenn der Antragsteller mit seinem Hinweis auf die fehlende Eröffnung von
Hauptverfahren auf die sog. Unschuldsvermutung abzielen sollte, dürfte dies dem
vorliegenden Antrag ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen können. Das Gebot der
Unschuldsvermutung
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- vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 2002 - 1 BvR 2257/01 -, NJW 2002, 3231 -
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als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und kraft Art. 6 Abs. 2 der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zugleich
Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland schützt den
Beschuldigten zwar vor Nachteilen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe
gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozessordnungsgemäßes Verfahren
zur Schuldfeststellung vorausgegangen ist. Die hier erfolgte Verwertung und Würdigung
von Ermittlungsergebnissen stellt jedoch keine durch die Unschuldsvermutung
verbotene Schuldfeststellung oder - zuweisung dar. Polizeiliche Feststellungen zu
Straftaten, die zum Anlass zur vorbeugenden Gefahrenabwehr genommen werden, sind
etwas substantiell anderes als eine Schuldfeststellung.
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Die innerhalb weniger Monate wiederholte Auffälligkeit des Antragstellers stützt die
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Annahme des Antragsgegners, dass der Antragsteller mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit auch weiterhin einschlägige Straftaten (Körperverletzungsdelikte,
Sachbeschädigungen) begehen wird. Diese Annahme wird insbesondere durch dem
Umstand bestärkt, dass nach Aktenlage selbst bereits laufende Ermittlungsverfahren
und ein sog. Präventionsgespräch auf den Antragsteller keinen nachhaltigen Eindruck
machten und ihn nicht von der Begehung von weiteren Straftaten abhielten. Sämtliche
Taten standen im Zusammenhang mit dem Auftreten von - unterschiedlich
zusammengesetzten - Personengruppen sowie jedenfalls z.T. mit Alkoholkonsum. Die
Prognose einer erneuten Beteiligung des Antragstellers an gewalttätigen
Gruppenauseinandersetzungen - und sei es nur aus Anlass "zufälliger" Begegnungen -
erscheint angesichts dessen plausibel. Der Antragsteller setzt ihr auch nichts entgegen;
Anhaltspunkte für eine durchgreifende Verhaltensänderung des Antragstellers fehlen
ebenfalls.
Dass der angegriffenen Verfügung die Wahrnehmung berechtigter Interessen entgegen
stünde, hat der Antragsteller selbst nicht geltend gemacht. Die Benutzung der
betroffenen Straßen und Plätze ist dem Antragsteller zudem außerhalb der eng
umrissenen Versagungszeiten weiterhin möglich.
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Es sind bei summarischer Prüfung auch keine Fehler bei der Ausübung des dem
Antragsgegner eingeräumten Ermessens ersichtlich. Insbesondere erscheint es nicht
unverhältnismäßig (§ 2 PolG NRW), dass sich das Aufenthaltsverbot auf einen Zeitraum
von drei Monaten und einen relativ großen Bereich der T2. Innenstadt bzw. den
Bahnhofsvorplatz (mit Ausnahme des Betretens zum Zwecke einer Bahnreise) bezieht.
Allerdings stellt ein mehrmonatiges Aufenthaltsverbot für einen größeren Teil des T2.
Innenstadt- bzw. Bahnhofsbereichs einen nicht unerheblichen Eingriff in das Recht auf
Freizügigkeit dar. Da sich die Gruppen, mit denen der Antragsteller „durch die Stadt
zieht" bzw. mit denen er sich Auseinandersetzungen liefert, erfahrungsgemäß
insbesondere an den Wochenenden bzw. bei besonderen Veranstaltungen gerade im
Bereich der Innenstadt - auch wegen der sog. Kneipenszene - bzw. des Bahnhofs
aufhalten, ist aber das Erfassen dieses Bereichs notwendig, um weiteren einschlägigen
Straftaten hinreichend sicher vorzubeugen. Mildere Handlungsalternativen standen vor
dem Hintergrund des Verhaltens des Antragstellers insoweit nicht zur Verfügung. Auch
das zeitliche Höchstmaß nach §34 Abs. 2 Satz 4 PolG NRW dürfte voraussichtlich nicht
zu beanstanden sein, zumal den Interessen des Antragstellers ausreichend dadurch
Rechnung getragen worden ist, dass das Aufenthaltsverbot nur für die Abend-
/Morgenstunden der Wochenendtage bzw. besonderer einzelner Tage (wie dem Tag
des WM-Spiels Deutschland - Polen) gilt, ihm im übrigen aber ggf. erforderlich
werdende Besuche etwa von Ärzten oder Rechtsanwälten bzw. Einkäufe o.ä. im
Verbotsbereich auch während des dreimonatigen Aufenthaltsverbotes ohne Weiteres
möglich waren und sind.
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Darüber hinaus fällt auch die von den Erfolgsaussichten unabhängige
Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Dabei orientiert sich die Kammer
für die Entscheidung maßgeblich an den Folgen, die sich im Falle einer Stattgabe oder
Ablehnung des Antrages ergäben. Sollte sich die Unrichtigkeit der polizeilichen
Gefährdungsprognose herausstellen, hätte der Antragsteller zu Unrecht die in der
angegriffenen Verfügung bezeichneten Straßen und Plätze zeitweise nicht benutzen
können. Andererseits ist zu bedenken, dass sich das Aufenthaltsverbot auf einen
überschaubaren Zeitraum erstreckt und nur für einige Stunden bestimmter Tage gilt.
Gewichtige, dem zeitlich beschränkten Aufenthaltsverbot entgegenstehende berechtigte
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Interessen am Aufenthalt in den gesperrten Straßen während der Verbotszeiten hat der
Antragsteller nicht aufgezeigt. Würde dem Antrag gleichwohl stattgegeben und
realisierten sich dann die prognostizierten Gefahren, ergäben sich weitaus schwere
Konsequenzen, bis hin zu gravierenden Körperverletzungen zum Nachteil Dritter. Bei
dieser Sachlage müssen die Interessen des Antragstellers, die gesperrten Straßen und
Plätze auch in den nächsten Wochen innerhalb der Sperrzeit zu benutzen,
zurückstehen.
Soweit sich die beabsichtigte Rechtsverfolgung gegen die Zwangsgeldandrohung
richten sollte, ginge die Interessenabwägung bereits deshalb zu Lasten des
Antragstellers aus, weil diese offensichtlich ihre Rechtsgrundlage in §§ 50 Abs. 1, 51, 53
und 56 PolG NRW finden dürfte.
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