Urteil des VG Aachen vom 06.02.2003
VG Aachen: aufschiebende wirkung, duldung, psychiatrische behandlung, beschränkung, abschiebung, erlass, kosovo, aufenthalt, auflage, republik
Verwaltungsgericht Aachen, 8 L 72/03
Datum:
06.02.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 L 72/03
Tenor:
1. Der Antragsgegner wird unter Abänderung des Beschlusses der
Kammer vom 17. Januar 2003 in dem Verfahren 8 L 1329/02 im Wege
der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig
eine Duldung zu erteilen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf EURO 1000.- festgesetzt.
GRÜNDE:
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Der Antrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO),
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den Beschluss der Kammer vom 17. Januar 2003 - Az.: 8 L 1329/02 - abzuändern und
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den
Antragsteller zu dulden und hierüber eine Bescheinigung zu erteilen,
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hat Erfolg.
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In analoger Anwendung des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die
Änderung oder Aufhebung auch von Beschlüssen nach § 123 VwGO, vgl. dazu auch
Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand:
Januar 2002, § 123 Rz. 177,
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wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend
gemachter Umstände beantragen. In Betracht kommt danach vor allem die
Geltendmachung einer Änderung der Sach - oder Rechtslage, d.h. z.B. neu
eingetretener oder nachträglich bekannt gewordener Tatsachen bzw. Änderung der
Rechtsprechung oder Gesetzeslage oder der Beweislage.
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Der vorliegende Antrag ist danach zulässig, da der Antragsteller im Hinblick auf den
unter dem 27. Januar 2003 erhobenen Widerspruch gegen die mit der Duldung
verbundene räumliche Beschränkung veränderte Umstände geltend gemacht hat, aus
denen sich die Möglichkeit einer Änderung der früheren Entscheidung ergibt.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn ein Antragsteller glaubhaft
macht, dass ihm ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln zusteht
(Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch gefährdet ist und durch vorläufige
Maßnahmen gesichert werden muss (Anordnungsgrund). Der Antragsteller hat den
Anordnungsgrund und -anspruch glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§
920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO).
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Zunächst hat der Antragsteller, der keine Aufhenthaltsgenehmigung besitzt, einen
Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, weil er gemäß § 42 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 des
Ausländergesetzes (AuslG) vollziehbar ausreisepflichtig ist. Der Asylantrag des
Antragstellers wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 15. Mai 1997 unter
gleichzeitiger Androhung der Abschiebung u.a. nach Bosnien- Herzegowina abgelehnt
und das Asylklageverfahren vor dem VG Köln (Az.: 20 K 5837/97.A) ist am 1. Oktober
2001 eingestellt worden. Der Antragsteller verfügt derzeit auch nicht über eine Duldung.
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Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Duldung nach
§ 55 Abs. 2 AuslG glaubhaft gemacht.
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Der Antragsgegner ist auch für die Erteilung der begehrten Duldung nach § 55 AuslG
örtlich zuständig gemäß § 63 Abs. 1 AuslG i.V.m. § 1 Nr. 2 der Verordnung über
Zuständigkeiten im Ausländerwesen vom 6. Dezember 1990 (GV.NW.1990 S.661) i.V.m
§ 4 Abs. 1 des Ordnungsbehördengesetzes (OBG NW). Der Antragsteller hält sich in
Aachen auf und hat hier seit August 2002 seinen Wohnsitz. Dem dauerhaften Aufenthalt
des Antragstellers in Aachen steht auch nicht die durch die Ausländerbehörde des
Landrates des Erftkreises mit der Duldung vom 27. Juni 2002 (zuletzt verlängert am 1.
August 2002 bis zum 1. November 2002) gemäß § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG erlassene
räumliche Beschränkung auf den Erftkreis entgegen, weil sie derzeit gegenüber dem
Antragsteller keine Wirkung entfaltet. Der unter dem 27. Januar 2003 - im Hinblick auf §
70 Abs. 2 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO auch fristgerecht - erhobene Widerspruch gegen
diese räumliche Beschränkung hat nach Auffassung der Kammer aufschiebende
Wirkung nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 8 AGVwGO NW. Bei der räumlichen
Beschränkung einer Duldung handelt es sich um eine selbstständig anfechtbare
Auflage, die auch unabhängig von der Duldung bis zu ihrer Aufhebung oder Ausreise
des Ausländers in Kraft bleibt, § 44 Abs. 6 AuslG. Streitig - und auch von der Kammer
bisher nicht entschieden - ist allerdings, ob der Widerspruch gegen eine mit einer
Duldung verbundene Auflage aufschiebende Wirkung entfaltet. Dies wird teilweise in
der Rechtsprechung und Literatur mit der Begründung verneint, dass es sich insoweit
bei den Auflagen um Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung handele und den
dagegen eingelegten Rechtsbehelfen nach den jeweiligen landesrechtlichen
Vorschriften keine aufschiebende Wirkung zukomme. vgl. so: Gemeinschaftskommentar
zum Ausländerrecht, Stand: Juli 2002, § 56 AuslG Rz. 53 m.w. Nachweisen; Hess. VGH,
Beschlüsse vom 12. Juli 1984 - 10 TH 1852/84 -, InfAuslR 1985 S. 290 und vom 6. April
2001 - 12 TG 368/01 -, InfAuslR 2001 S. 378; a.A.: OVG Berlin, Beschluss vom 4. Juni
1998 - 8 SN 66/98 -, NVwZ 1998 Beilage Nr. 8 S. 82, VGH Baden-Württemberg,
Beschluss vom 6. April 2000 - 10 S 2583/99 - AuAS 2000 S. 184.
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Nach Auffassung der Kammer löst jedoch der Widerspruch auch in diesen Fällen die
aufschiebende Wirkung aus, weil zum einen schon zweifelhaft ist, ob die Duldung nach
§ 55 AuslG als eine Vollstreckungsmaßnahme i. S. d. § 8 AG VwGO NW zu qualifizieren
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ist. Zwar steht die Duldung in einem engen Zusammenhang mit der Vollstreckung der
Ausreisepflicht, d.h. der Abschiebung eines Ausländers, anderseits setzt sie lediglich
die Abschiebung des Ausländers zeitweise aus bzw. unterbricht diese und ist selbst
nicht Voraussetzung oder Teil der Vollstreckung. Sie ist insoweit vielmehr eine
Maßnahme, mit der die Ausländerbehörde auf das Vorliegen von
Vollstreckungshindernissen reagieren kann, ohne dass die Ausreisepflicht berührt wird.
Zum anderen rechtfertigt jedoch dieser enge Zusammenhang der Duldung mit der
Vollstreckung der Ausreisepflicht nicht auch die Qualifizierung der damit verbundenen
räumlichen Beschränkung als eine Vollstreckungsmaßnahme, da diese keinen engen
Bezug zum Vollstreckungsverfahren aufweist. Vielmehr hängt deren Bestand gemäß §
44 Abs. 6 AuslG nicht von der Duldung ab. Die räumliche Beschränkung dient insoweit
auch nicht der Erleichterung der Vollstreckung der Ausreisepflicht, da zum einen die
Vollstreckung bereits durch die Duldung ausgesetzt ist und zum anderen eine räumliche
Beschränkung vielfach auch aus vollstreckungsunabhängigen Gesichtspunkten erfolgt,
etwa - wie vorliegend - in Anpassung bzw. Fortsetzung an eine erloschene
asylrechtliche Zuweisungsentscheidung, um eine ungleiche Belastung von Städten und
Gemeinden zu verhindern.
Dem geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Duldung steht zudem nicht
entgegen, dass der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis
nach §§ 32, 30 AuslG keine Fiktionswirkung nach § 69 AuslG ausgelöst hat und
deshalb grundsätzlich eine Duldung für ein Aufenthaltsgenehmigungsverfahren nach
der obergerichtlichen Rechtsprechung schon aus gesetzessystematischen Gründen
ausscheidet. Etwas anderes gilt jedoch zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes
(Art. 19 Abs. 4 GG), wenn nur mit Hilfe einer einstweiligen Anordnung sichergestellt
werden kann, das eine ausländerrechtliche Regelung ihrem Sinn und Zweck nach dem
begünstigten Personenkreis zugute kommt. So liegt der Fall hier, weil der Antragsteller
seinen Antrag auf den Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen
für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina und Kosovo - insbesondere
für Traumatisierte aus Bosnien- Herzegowina - vom 13. Dezember 2002 (I B 3/44.386-
B2/I14 -Kosovo) stützt. Dieser Erlass, der auch nach dem späteren Erlass des
Innenministeriums für Arbeitnehmer aus der Republik Bosnien und Herzegowina und
der Bundesrepublik Jugoslawien vom 21. Juni 2001 (I B 3/44.386-B 2/I 14 - Kosovo)
unverändert Geltung hat - vgl. Ziffer 5 der Erlasses -, soll bürgerkriegsbedingt unter
schwerer posttraumatischer Belastungsstörung leidenden Flüchtlingen den weiteren
Aufenthalt im Bundesgebiet durch Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis ermöglichen.
Dies setzt voraus, dass in Abweichung von dem in § 3 Abs. 3 Satz AuslG aufgestellten
Grundsatz, der Antrag auf Aufenthaltsbefugnis vom Inland aus verfolgt werden kann und
auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Rechtsgründen - § 55 Abs. 2 bzw. Abs. 4
AuslG - jedenfalls dann zu verzichten ist , wenn ein Ausländer glaubhaft macht, dass er
die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach dem Erlass - hier
maßgebend: Ziffer 7 des Erlasses - erfüllt.
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Vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 20. April 1999 - 18 B 1338/97 -.
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Das ist vorliegend der Fall. Zunächst ist der Antragsteller auf Grund seines negativ
abgeschlossenen Asylverfahrens unanfechtbar ausreisepflichtig, vgl. § 30 Abs. 3 AuslG.
Ferner steht nach den Anwendungshinweisen des Erlasses die Durchführung eines
Asylverfahrens der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nicht entgegen; auch ein
etwaiger Regelversagungsgrund nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG steht bei den von Ziffer 7
des Erlasses erfassten Personen nicht entgegen. Der Antragsteller stammt aus Bosnien-
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Herzegowina und reiste vor dem 15. Dezember 1995 als Bürgerkriegsflüchtling in das
Bundesgebiet ein (Ziffer 7 lit. a, 1. Spiegelstrich). Zwar wurde der Antragsteller nach der
erstmaligen Geltendmachung seiner Erkrankung am 9. März 1999 nicht durch die
damals zuständige Ausländerbehörde des Erftkreises geduldet, da er wegen seines
bereits damaligen Aufenthaltes in Aachen zum 9. März 1999 von Amts wegen unter
seiner Meldeanschrift in Erftstadt abgemeldet worden ist. Ihm wurde jedoch nach
mehrfacher Stellung seines Antrages auf Aufenthaltsbefugnis im Jahr 2001 gegenüber
der Ausländerbehörde der Stadt Aachen und Mitteilung ihrer Unzuständigkeit im Januar
2002 zur Klärung der geltend gemachten Traumatisierung am 27. Juni 2002 eine bis
zum 1. November 2002 verlängerte Duldung durch die Ausländerbehörde des
Erftkreises erteilt (Ziffer 7 lit. a, 3. Spiegelstrich). Ob der Antragsteller unter einer durch
Bürgerkriegserlebnisse hervorgerufenen schweren posttraumatischen
Belastungsstörung leidet und sich deswegen bereits seit mindestens dem 1. Januar
2000 auf der Grundlage eines längerfristig angelegten Therapieplanes in fachärztlicher
oder psychotherapeutischer Behandlung befindet (Ziffer 7 lit. a, 3. Spiegelstrich) , lässt
sich nach den vorgelegten Verwaltungsvorgängen derzeit nicht abschließend
beurteilen. Nach der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung spricht
jedoch im Hinblick auf die vorgelegten ärztlichen Atteste Einiges für ein Vorliegen dieser
Voraussetzung. So ergibt sich aus den Attesten der Fachärztin für Neurologie und
Psychiatrie Dr. I. vom 8. März 1999, 3. September 1999 und vom 23. April 2002, dass
sich der Antragsteller wegen einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung auf
Grund seiner Erlebnisse über Folter und Terror in den Jahren 1993-95 seit dem 8. März
1999 in ihrer Behandlung befunden hat und von ihr antidepressiv behandelt worden ist.
Ebenso lässt sich den Attesten der Psychotherapeutischen Praxis N. L. vom 28. März
2001, 18. April 2002 und 20. Juni 2002 entnehmen, dass der Antragsteller auf Grund
des Bürgerkrieges unter einer schweren posttraumatischen Belastungstörung leidet, die
auf der Grundlage eines längerfristig angelegten Therapieplanes behandelt werde -
psychosomatische Behandlung -. Die Dauer der Behandlung wurde im Attest vom 20.
Juni 2002 mit mindestens zwei Jahre angegeben. Soweit sich Zweifel an der
Erkrankung des Antragstellers aus dem Umstand ergeben, dass sich Anhaltspunkte für
eine derartige Erkrankung dem vorangegangenen Asylverfahren nicht entnehmen
lassen - jedenfalls erwähnt der Bescheid des Bundesamtes vom 15. Mai 1997 ein
derartiges Vorbringen nicht - und der Antragsteller die Erkrankung erst angesichts einer
drohenden Abschiebung für den 9. März 1999 vorgebracht hat, bedarf es einer
abschließenden ärztlichen Begutachtung - auch zur Frage des derzeitigen
Krankheitsstandes und Erforderlichkeit einer Behandlung -, die jedoch nur in einem
etwaigen Hauptverfahren erfolgen kann. Ebenfalls der weiteren Klärung bedarf es, ob
der Antragsteller sich bereits zum Stichtag 1. Januar 2000 auf der Grundlage eines
längerfristig angelegten Therapieplanes in fachärztlicher oder psychotherapeutischer
Behandlung befunden hat. So war der Antragsteller ausweislich der ärztlichen
Bescheinigungen von Frau Dr. I. zwar seit dem 8. März 1999 in ärztlicher Behandlung,
wann jedoch eine Behandlung auf Grund eines längerfristigen Therapieplanes
begonnen hat, ist unklar. Ausweislich der Bescheinigungen der Psychotherapeutischen
Praxis N. L. hat der Antragsteller die Praxis - erst - im Jahr 2000 einige Male aufgesucht
habe und ist seit dem 15. März 2001 einmal in der Woche zur psychotherapeutischen
Sitzung gekommen. Zuvor wurde der Antragsteller jedoch von Frau Dr. I. antidepressiv
behandelt, und diese bescheinigte unter dem 3. September 1999, dass die
psychiatrische Behandlung noch mindestens ein Jahr andauern werde. Insoweit wird
auch zu klären sein, ob und inwieweit sich der Antragsteller schon bei Frau Dr. I. in
längerfristiger Behandlung befunden hat und ggfs. wann die Behandlung beendet
worden ist. Diesbezüglich sehen die Anwendungshinweise zu Ziffer 7 des Erlasses
zudem vor, dass, sofern der Stichtag 1. Januar 2000 im Einzelfall nicht erfüllt wird, die
Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis auch möglich ist, wenn besondere Umstände
vorgetragen werden, die eine Einbeziehung in die Regelung erforderlich erscheinen
lassen. Derartige Umstände sind allerdings bisher nicht vorgetragen worden.
Nach alledem ist der Aufenthalt des Antragsteller im Bundesgebiet zu dulden, bis eine
endgültige Entscheidung über die Aufenthaltsbefugnis bzw. -beendigung gefallen ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes in Höhe eines Viertels des
Auffangstreitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des
Gerichtskostengesetzes (GKG). Mit Rücksicht auf den vorläufigen Charakter dieses
Verfahrens erscheint das Antragsinteresse in der bestimmten Höhe ausreichend und
angemessen berücksichtigt.
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