Urteil des VG Aachen vom 17.12.2010

VG Aachen (antragsteller, geistige behinderung, antrag, vollendung, behinderung, leistung, wechsel, zuständigkeit, berufliche ausbildung, jugendhilfe)

Verwaltungsgericht Aachen, 2 L 328/10
Datum:
17.12.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 L 328/10
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen
werden nicht erstattet.
G r ü n d e
1
Der Antrag ist zulässig.
2
Die Kammer sieht durch weite Auslegung des Begriffs "Aufenthaltsbestimmungsrecht"
im Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 14. November 2006 - 72 XVII W 1059 -
keine rechtlichen Bedenken gegen das Tätigwerden der Betreuerin für den Antragsteller
im vorliegenden Verfahren. Denn letztlich erstrebt sie die Weiterbewilligung von Hilfen -
wer auch immer letztlich Kostenträger sein mag -, die einen Verbleib des Antragstellers
in ihrem Haushalt (finanziell) ermöglichen.
3
Nach Einführung der rechtlichen Betreuung für Volljährige (§§ 1896 ff. BGB) anstelle der
früheren Vormundschaft ist die Zuständigkeit des bestellten Betreuers nicht mehr global,
sondern auf bestimmte übertragene Aufgabenbereiche beschränkt. So hat das
Amtsgericht B. in der obengenannten Entscheidung der Pflegemutter lediglich die
Aufgabenbereiche Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und Vermögenssorge
übertragen. In jedem Fall ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass z.B.
die Übertragung des Aufgabenbereichs "Vermögenssorge" zur Verfolgung von
sozialhilferechtlichen Ansprüchen des Betreuten - soweit es nicht ausdrücklich um
Fragen des Einsatzes vorhandenen Vermögens geht - gegenüber der Behörde oder vor
Gericht nicht ausreicht,
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vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8.
September 2000 - 22 E 524/99 -, NJW 2001, 91 = FamRZ 2001, 312 f = FEVS 52,178 f.
5
Für Anträge des Betreuten auf Leistungen der Jugendhilfe dürfte nichts anderes gelten.
Zur Vermeidung von unnötigem Konfliktstoff in Verfahren, die auf Bewilligung von
Sozialleistungen gerichtet sind, empfiehlt die Kammer der Betreuerin, umgehend mit
dem Amtsgericht B. Verbindung aufzunehmen mit dem Ziel, eine Erweiterung der
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Aufgabenbereiche um die "Vertretung in Behördenangelegenheiten und den daraus
resultierenden Gerichtsverfahren" zu erwägen.
Der (sinngemäß) gestellte Antrag,
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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem
Antragsteller als vorläufige Leistung im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige die
Übernahme der Kosten der Unterbringung in Vollzeitpflege bis zu seiner Aufnahme in
einer stationären Einrichtung der Eingliederungshilfe zu bewilligen,
8
ist aber unbegründet.
9
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der Antragsteller muss glaubhaft machen, dass ihm ein Anspruch auf die geltend
gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer
gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit schlechthin
unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund), vgl. § 123 Abs. 1 und 3
VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -.
10
Gemessen an diesen Anforderungen war dem Rechtsschutzgesuch nicht zu
entsprechen.
11
Als Rechtsgrundlage für das Begehren des Antragstellers kommt zunächst § 41 SGB
VIII in Betracht. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift soll einem jungen Volljährigen Hilfe für
die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung
gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des
jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des
21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten
Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. Gemäß § 41 Absatz 2 SGB VIII gelten für
die Ausgestaltung der Hilfe u. a. § 27 Abs. 3 sowie die §§ 33 bis 36 SGB VIII mit der
Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Jugendlichen
der junge Volljährige tritt. § 27 Abs. 3 SGB VIII beschreibt die Leistungsarten der Hilfe
zur Erziehung, zu denen vor allem die Gewährung pädagogischer Leistungen gehört.
Während § 33 die Voraussetzungen der Familienpflege normiert, enthält § 35 a SGB VIII
im Zusammenhang mit § 10 Abs. 4 SGB VIII die Zugangsvoraussetzungen zur
jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in Abgrenzung von den entsprechenden
Leistungen der Sozialhilfe. § 41 Abs. 3 SGB VIII bestimmt, dass der junge Volljährige
auch nach der Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang
beraten und unterstützt werden soll.
12
Bei diesen gesetzlichen Vorgaben ist aus Sicht der Kammer rechtlich nicht zu
beanstanden, dass der Antragsgegner das Begehren des Klägers unter zwei
verschiedenen rechtlichen Aspekten gewürdigt und beschieden hat: 1.) als Antrag auf
Hilfe für junge Volljährige in Form der Vollzeitpflege nach den §§ 41, 33 SGB VIII und 2.)
als Antrag auf Hilfe für junge Volljährige in Form der Eingliederungshilfe nach den §§
41, 35 a SGB VIII.
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1.) Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen
Überprüfung der Sach- und Rechtslage hat der am 21. September 1988 geborene
14
Antragsteller zunächst keinen Anordnungsanspruch auf weitere Leistungen der Hilfe für
junge Volljährige nach den §§ 41, 33 SGB VIII glaubhaft gemacht. Wie der Antragsteller
mehrfach vorgetragen hat, ist sein Rechtsschutzgesuch vor allem auf diese Form der
Hilfegewährung gerichtet.
Der Antrag hat nicht schon deshalb Erfolg, weil der Antragsgegner vor Erlass des
Bescheides vom 14. Juli 2010 kein Hilfeplangespräch durchgeführt hat. Nach § 36 Abs.
2 SGB VIII soll die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe
voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte
erfolgen. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem
Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan
aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie
die notwendigen Leistungen erhält: Sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte
Hilfeart weiterhin geeignet oder notwendig ist.
15
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
16
Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24/98 -, BVerwGE 109, 155 ff. = DÖV 2000, 204 ff. =
NVwZ 2000, 325 ff. = FEVS 51, 152 ff.
17
ist das Aufstellen eines schriftlichen Hilfeplans nicht zwingende Voraussetzung für die
Hilfegewährung; das Fehlen eines Hilfeplans allein macht die Entscheidung (noch)
nicht rechtswidrig. Zum einen kann die Aufstellung eines Hilfeplans nachgeholt werden,
18
so auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Juni 2008 - 4 ME 184/08 -, NVwZ-RR 2008,
792 ff. = FEVS 60, 28 ff.
19
Zum andern steht das Fehlen des Hilfeplans im Verfahren auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nicht dem Erlass einer einstweiligen Anordnung entgegen. Das Fehlen
hat für das Jugendamt allenfalls die Folge, dass das Gericht nicht an die Maßstäbe der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum eingeschränkten
Prüfungsumfang bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Hilfe im Jugendhilferecht
gebunden ist.
20
Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24.98 -, BVerwGE 109, 155 ff.
21
Denn ohne Durchführung des Hilfeplanverfahrens fehlen wesentliche Grundlagen für
diesen einschränkenden Überprüfungsrahmen. Nach der angeführten
höchstrichterlichen Rechtsprechung ist zu beachten, dass es sich bei der Entscheidung
über die Notwendigkeit einer geeigneten Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen
pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung hier des jungen Volljährigen,
seiner Betreuerin und mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch
objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der
festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar
sein muss; die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu
beschränken, ob allgemeingültige Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine
sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender
Weise beteiligt worden sind.
22
Zwar hat der Sachbearbeiter hier nicht allein entschieden; es ist hier aber kein
Hilfeplangespräch im Sinne des § 36 SGB VIII durchgeführt worden. Die
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Entscheidungsfindung nach Beratung in einem Teamgespräch mit vier weiteren
Mitarbeitern des Jugendamtes ist kein Hilfeplangespräch im eben geschilderten Sinne.
Ein solches hatte zuletzt am 10. August 2009 stattgefunden; damals brachte das
Jugendamt schon seine ablehnende Haltung zur Weiterführung der Hilfe zum Ausdruck
brachte. Dies wäre allerdings - zumindest in den Fällen, in denen bislang Hilfe gewährt
worden war - kein Grund, von einem weiteren Hilfeplangespräch abzusehen. Dennoch
bleibt es bei der bisherigen Rechtsprechung, dass das Fehlen eines Hilfeplangesprächs
allein den Antragsgegner nicht zur Leistungserbringung verpflichtet.
Zielgruppe der Hilfe nach § 41 SGB VIII sind junge Volljährige, die auf Grund ihrer
individuellen Situation (sozialpädagogische) Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und
zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung benötigen. Der Stand der
Persönlichkeitsentwicklung des Hilfe Suchenden muss unterhalb des in diesem
Lebensalter allgemein erreichten Niveaus der Sozialisation liegen. Ob dies der Fall ist,
lässt sich z.B. am Grad der Autonomie, dem Stand der schulischen bzw. beruflichen
Ausbildung, den Beziehungen zur sozialen Umwelt und der Fähigkeit zur Bewältigung
der Anforderungen des täglichen Lebens (z.B. Führung eines Haushalts, Umgang mit
Geld usw.) erkennen. Die Defizite müssen von einigem Gewicht sein und in der
jeweiligen individuellen Lebenssituation durch entsprechende sozialpädagogische
Angebote wie Beratung, Anleitung und Unterstützung "weiter abgebaut" werden.
24
Bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres spielte für die Gewährung erzieherischer
Hilfen für junge Volljährige keine Rolle, dass der Antragsteller nach den dem Gericht
vorliegenden Unterlagen mehrfach - u.a. auch geistig und seelisch - behindert ist und
die Verselbständigung niemals einen Umfang erreichen wird, die ihm eine völlig
eigenverantwortliche Lebensführung sichern würde. Dazu hat das
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) im Beschluss
vom 19. Dezember 2006 - 12 B 2316/06 - ausgeführt:
25
"Die Hilfe nach § 41 SGB VIII setzt nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts,
26
vgl. Urteil vom 23. September 1999 - 5 C 26.98 -, BVerwGE 109, 325 = FEVS 51, 337,
27
nicht voraus, dass Aussicht besteht, dass der junge Volljährige bis zur Vollendung des
21. Lebensjahres seine Verselbständigung erreichen wird. Vielmehr genügt es, wenn
die Hilfe eine erkennbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit
zu eigenverantwortlicher Lebensführung erwarten lässt. Eine Prognose dahin, dass die
Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensführung bis zur Vollendung des 21.
Lebensjahres oder bis zu einem begrenzten Zeitpunkt darüber hinaus überhaupt
erreicht wird, verlangt § 41 SGB VIII nicht. Zwar ist es Aufgabe und Zielrichtung der Hilfe
für junge Volljährige, deren Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zu
eigenverantwortlicher Lebensförderung zu fördern, und soll die Hilfe so lange wie
notwendig, aber in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt
werden. Doch ist weder dem Wortlaut noch der Systematik noch dem Sinn und Zweck
der Vorschrift zu entnehmen, dass ein Anspruch auf Hilfe nur gegeben ist, wenn
Aussicht besteht, dass mit der Hilfe eine Verselbständigung bis zur Vollendung des 21.
Lebensjahres oder überhaupt erreicht werden kann. Da die Hilfe für die
Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverant-wortlichen Lebensführung gewährt
werden soll, ist der Abschluss einer positiven Persönlichkeitsentwicklung bzw. die
Verselbständigung mit der Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensführung
28
lediglich das, soweit möglich, anzustrebende Optimum. Nach § 41 SGB VIII soll dem
jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer
eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden. Sie ist also nicht notwendig auf
einen bestimmten Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern auch schon auf einen
Fortschritt im Entwicklungsprozess bezogen. Die Hilfe dazu muss aufgrund der
individuellen Situation des jungen Menschen notwendig (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII),
aber auch - wiederum bezogen auf den Hilfezweck - geeignet sein. Sie muss also
lediglich geeignet sein, die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit
eigenverantwortlicher Lebensführung zu fördern.
So auch: Bay. VGH, Urteil vom 24. Mai 2006 - 12 B 04.1227 -, Juris; OVG NRW,
Beschluss vom 20. Februar 1997 - 16 B 3118/96 -, FEVS 47, 505; vgl. auch schon VG
Düsseldorf, Urteil vom 19. April 2004 - 19 K 5953/02 -, Juris m.w.N.
29
Erforderlich, aber auch ausreichend ist demnach also, dass wahrscheinlich ein
erkennbarer Entwicklungsprozess in der Persönlichkeitsentwicklung und in der
Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gegeben ist, der noch
gefördert werden kann, die Eignung der gewährten Hilfemaßnahmen also nicht völlig
ausgeschlossen ist, unabhängig davon wann dieser Entwicklungsprozess zum
Abschluss kommen und ob jemals das Optimalziel erreicht wird."
30
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat der Antragsgegner die hier streitige
Leistung dem am 21. September 1988 geborenen Antragsteller bis zur Vollendung des
21. Lebensjahres (am 21. September 2009) zu Recht gewährt. Denn nach dem
ärztlichen Attest des Kinder- und Jugendarztes Gebauer vom 8. Juni 2006 war der
Antragsteller zum damaligen Zeitpunkt körperlich weitgehend altersgemäß entwickelt,
aber im psychosozialen und psychomotorischen Bereich deutlich retardiert und geistig
behindert. Er hatte bis zum genannten Lebensalter die verschiedenen Phasen der
Integration in einer Werkstatt für behinderte Menschen (Eingangsverfahren,
Berufsbildungsbereich und Arbeitsbereich, vgl. §§ 40 f. SGB IX) durchlaufen; das war
insbesondere unter Berücksichtigung der Einschränkungen der Belastbarkeit seiner
linken Hand infolge der vom dem langjährigen Kinder- und Jugendarzt H. bescheinigten
Neurofibromatose Morbus S. eine besondere Leistung. Auch im Umgang mit anderen
Menschen und dem Entwickeln einer seinen Fähigkeiten angemessenen
Konfliktlösungskompetenz benötigte er in der Zeit von September 2006 bis August 2010
nicht nur die angebotenen sozialpädagogischen Hilfen vor Ort, sondern nach der
Rückkehr zur Pflegefamilie auch immer wieder die Unterstützung und Hilfestellung
seiner Pflegemutter und Betreuerin. Die in der Vergangenheit ausgesprochene
Hilfebewilligung war nicht zuletzt deshalb geboten, weil die Hilfe für junge Volljährige
bis zu der Vollendung des 21. Lebensjahres vom Gesetzgeber als Sollvorschrift
ausgestaltet ist, also im Regelfall bei der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen die
Hilfe zu gewähren ist. Nur in atypischen Fällen scheidet bis zu diesem Lebensalter eine
Hilfegewährung aus.
31
Anders liegt der Fall, wenn - wie hier - Hilfen über das 21. Lebensjahr hinaus erstrebt
werden. Dann soll die Hilfe nach § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nur noch in einem
begründeten Einzelfall für einen begrenzten Zeitraum, längstens bis zur Vollendung des
27. Lebensjahres, als Fortsetzung einer bisher geleisteten Hilfe erbracht werden. Ob ein
"begründeter Einzelfall" vorliegt, unterliegt, da es sich um einen unbestimmten
Rechtsbegriff handelt, der vollen gerichtlichen Kontrolle. Zur Feststellung eines
"begründeten Einzelfalles" bedarf es einer am Einzelfall ausgerichteten individuellen
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Überprüfung und Entscheidung. Ein "begründeter Einzelfall" kann z. B. vorliegen, wenn
bei Vollendung des 21. Lebensjahres eine schulische oder berufliche Ausbildung, ferner
etwa eine sozialpädagogische oder therapeutische Maßnahme (z.B. nach einer
Drogenentzugsbehandlung) noch nicht vollständig abgeschlossen oder beendet ist.
Zwar schließt der hier in Rede stehende Zeitraum, für den Hilfe erstrebt wird, an eine
dem Antragsteller seit Vollendung des 18. Lebensjahres bewilligte Maßnahme der Hilfe
für junge Volljährige in Form der Vollzeitpflege an. Diese war mit Bescheiden des
Antragsgegners vom 17. November 2006 (befristet bis zum 31. Juli 2007), vom 20.
September 2007 (befristet für die Zeit vom 1. August 2007 bis zum 31. Julli 2008), vom
5. August 2008 ( befristet für die Zeit vom 1. August 2008 bis zum 31. Juli 2009) sowie
mit Bescheid vom 5. August 2009 (für die Zeit vom 1. August 2009 bis zum 31. Juli 2010
- also schon über das 21. Lebensjahr hinaus -) bewilligt worden. Der Umstand, dass im
letztgenannten Bescheid die Hilfe ausdrücklich nur als vorläufige Leistung im Sinne des
§ 43 SGB I gewährt worden war, steht der Annahme einer Fortsetzung der Hilfe nicht
entgegen. Denn der Antragsgegner wollte damit lediglich kenntlich machen, dass die
Fortführung der Hilfe nach seiner Auffassung nicht mehr in seine (jugendhilferechtliche)
Zuständigkeit fiel, sondern der Sozialhilfe oblag und er die Geltendmachung eines
Erstattungsanspruchs nach § 102 SGB X gegen den zuständigen Sozialhilfeträger offen
halten wollte. Solche Modalitäten führen nicht zu einer Unterbrechung der Hilfe im Sinne
des § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII.
33
Es liegt aber kein "begründeter Einzelfall" im Sinne dieser Vorschrift vor.
34
Die Kammer folgt zunächst den maßgeblichen Erwägungen des Antragsgegners im
Ablehnungsbescheid vom 14. Juli 2010. So ist es dem Antragsteller durch die
bisherigen Hilfen gelungen, die Phasen der Ausbildung in der Werkstatt für behinderte
Menschen (vgl. § 40 SGB IX) erfolgreich zu durchlaufen und eine dauerhafte Tätigkeit
dort aufzunehmen. Es konnte ferner erreicht werden, dauerhafte soziale Kontakte im
Freizeitbereich aufzubauen und regelmäßigen sportlichen Aktivitäten wie Schwimmen
und Bowling nachzugehen. Auch innerhalb der Pflegefamilie verliefen die sozialen
Kontakte zufriedenstellend. Eine weitere Verselbständigung mit den
sozialpädagogischen Mitteln der Jugendhilfe ist nicht möglich. Soweit Defizite und somit
weiterhin Unterstützungsbedarf (etwa bei einer eigenständigen Haushaltsführung,
Umgang mit Geld, Integration in den ersten Arbeitsmarkt) bestehen, haben diese ihre
Grundlage nicht in sozialisationsbedingt erworbenen Retardierungen, sondern in der
geistigen Behinderung des Antragstellers und der Erkrankung an Neurofibromatose.
Zwar erkennt auch der Antragsgegner die Notwendigkeit einer auf Dauer installierten
Eingliederungshilfe für den Antragsteller im Rahmen der Hilfe für geistig behinderte
Menschen an. Vor diesem Hintergrund sieht er ein Anrecht des Antragstellers auf einen
Platz in einer betreuten Wohnstätte. Eine Anmeldung bei entsprechenden Einrichtungen
ist bereits erfolgt. Für diese Hilfen für geistig behinderte Menschen ist aber nicht die
Jugendhilfe, sondern die Sozialhilfe zuständig, an die deshalb der entsprechende
Antrag - wie noch weiter unten auszuführen sein wird - weitergeleitet wurde.
35
Gegen diese Einschätzung des Antragsgegners sieht die Kammer keine
durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Den einzigen Bedarf, der Anlass zum Nachdenken über eine Fortführung der Hilfe
geben könnte, ist aus Sicht der Kammer die Vorbereitung und Begleitung beim in
absehbarer Zeit bevorstehenden Wechsel in eine Einrichtung des betreuten Wohnens.
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Selbst wenn man dem Antragsteller zugesteht, dass der Wechsel eine gewisse
Vorbereitung auf die zukünftige Wohnsituation erfordert und nicht kurzfristig erfolgen
kann, führt auch diese Erwägung für den Antragsteller nicht zum Erfolg. Denn dieser
Wechsel ist bereits seit längerer Zeit Gegenstand der Erörterung zwischen Betreuerin,
Antragsteller und Jugendamt. Damit ist ein solcher Wechsel von Seiten des
Jugendamtes hinreichend vorbereitet. Diese Einschätzung des Gerichts beruht darauf,
dass ein Wechsel in eine Einrichtung des betreuten Wohnens schon Gegenstand des
Hilfeplangesprächs vom 22. August 2007 war. Damals war angedacht worden, dass die
Umsetzung der Anmeldung in einen konkret zur Verfügung stehenden Wohnheimplatz
nach Einschätzung der Betreuerin ca. drei Jahre in Anspruch nehme. Diese Frist wäre
im August 2010 abgelaufen. Außer Frage steht, dass der Antragsteller eine
Vorbereitung auf diesen Umzug durch die Pflegemutter, die sich in seinem bisherigen
Leben in beispielhafter Weise für seine Betreuung und Erziehung eingesetzt hatte,
benötigt. Im Antrag auf Verlängerung der Jugendhilfeleistung vom 24. Juni 2008 -
damals bildeten die Probleme des Antragstellers in der Werkstatt für Behinderte den
Schwerpunkt der Argumentation für eine Weiterführung der Hilfe - hat die Betreuerin
auch die Frage des Heimplatzes thematisiert. Der Antragsteller ist nach ihrer
Einschätzung noch so fest in die Familiensituation eingebunden, dass ein Wechsel in
eine Einrichtung zur Zeit nicht förderlich sei.
Im Weiterbewilligungsantrag vom 14. Juni 2009 wird dargelegt, dass sie konkreten
Kontakt mit der Lebenshilfe aufgenommen hatte, um einen Wechsel in das betreute
Wohnen abzuklären. Ein freier Platz stand zu diesem Zeitpunkt nicht zur Verfügung, so
dass es bei der Anmeldung blieb. Bis ein geregelter Übergang in ein Wohnheim
möglich sei, sollte der Antragsteller in seinem gewohnten Umfeld verbleiben. Dies
sowie die Maßnahmen zur Stärkung der Selbständigkeit waren ausweislich des
Protokolls auch Gegenstand des Hilfeplangesprächs vom 10. August 2009.
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Im Antrag auf Weiterbewilligung der Hilfe vom 26. Juni 2010 wird von der Betreuerin
dargelegt, dass an dem Thema Stärkung der Selbständigkeit weiter gearbeitet werde.
Nach den Darlegungen ist der Übergang in eine Wohngruppe ein häufiges Thema in
der Pflegefamilie. Je nach Stimmungslage sei ein solcher Übergang für den
Antragsteller einmal mehr, einmal weniger vorstellbar. Bei dieser Sachlage vermag die
Kammer nicht zu erkennen, dass die dem Jugendamt mögliche Vorbereitung auf das
betreute Wohnen für den Antragsteller unzureichend und deshalb unter diesem Aspekt
eine erneute Verlängerung der Hilfe erforderlich ist Insbesondere ist der
Jugendhilfeträger hier nicht verpflichtet, bis zum Wechsel in eine Einrichtung des
betreuten Wohnens in jedem Fall die bisher geleistete Hilfe für junge Volljährige
fortzuführen. Es gibt keinen sozialrechtlichen Grundsatz, dass in Fällen - wie hier - vor
dem Wechsel von der Vollzeitpflege in das betreute Wohnen generell der örtliche
Jugendhilfeträger zur Leistung verpflichtet ist.
39
Die Kammer teilt ferner die Einschätzung des Antragsgegners, dass der Antragsteller
geistig behindert ist und der weiterhin zweifellos bestehende Betreuungsbedarf im
Wesentlichen darauf zurückzuführen ist. In dem bei den Verwaltungsakten des
Antragsgegners befindlichen ärztlichen Attest des Kinder- und Jugendarztes H. vom 8.
Juni 2006 und dem von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau von B.
für das Vormundschaftsgericht erstellten Fachgutachten vom 3. September 2006 wird
übereinstimmend vom Vorliegen einer geistigen Behinderung beim Antragsteller
ausgegangen. Zwar ist in diesen ärztlichen Stellungnahmen an keiner Stelle ein
bestimmter IQ des Antragstellers durch entsprechende Testung ermittelt worden. Eine
40
solche konkrete Feststellung eines IQ kann im Einzelfall von Bedeutung sein,
vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Februar 2002, - 12 A 5322/00 -, allerdings nur dann,
wenn es Hinweise gibt, die gegen das Vorliegen einer wesentlichen geistigen
Behinderung sprechen. Dies ist aber hier nicht der Fall. Vielmehr sprechen neben der
Diagnose die von der Fachärztin von B. bei ihrer ambulanten Untersuchung im Haus der
Pflegeltern getroffenen und im Gutachten niedergelegten Feststellungen über den
Ablauf der Untersuchung für eine wesentliche geistige Behinderung des Antragstellers
und nicht etwa nur für eine Lernbehinderung. Ein Indiz für das Vorliegen einer geistigen
Behinderung ist ferner, dass der Antragsteller durchgängig eine Förderschule für geistig
behinderte Kinder besucht hat. Sind aber die jugendhilferechtlichen
sozialpädagogischen Hilfemöglichkeiten ausgeschöpft, weil die verbliebenen
Beschränkungen bei der Bewältigung des alltäglichen Lebens - z.B. die andauernde
Unfähigkeit, allein und ohne fremde Hilfe zu leben - im wesentlichen auf die geistige
Behinderung zurückzuführen sind, so ist damit auch die Verpflichtung des
Antragsgegners entfallen, weiter Leistungen der Jugendhilfe zu erbringen.
41
Auch aus den im gerichtlichen Verfahren vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen lässt
sich nicht erkennen, dass die Einschätzung des Antragsgegners, die
jugendhilferechtlichen Hilfemöglichkeiten seien ausgeschöpft, rechtlich fehlerhaft ist.
Die entgegengesetzte Auffassung des Antragstellers lässt sich insbesondere nicht mit
dem Entwicklungsbericht der Dipl.-Soz. M. vom 23. September 2010 begründen, der für
die Werkstätten & Service GmbH der Lebenshilfe abgegeben wurde. Frau M. berichtet
dort, dass der Antragsteller seit der Aufnahme der Tätigkeit im Eingangsbereich der
Werkstatt am 4. September 2007 bis zur Erstellung des Entwicklungsberichts erhebliche
Fortschritte gemacht hat und auch für die Zukunft bei ihm noch Entwicklungspotenzial
gesehen wird. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass während der Zeit der Aufnahme der
Tätigkeit im Eingangsbereich, im Berufsbildungsbereich und im Arbeitsbereich der
Werkstatt für behinderte Menschen bis zum 31. Juli 2010 vom Antragsgegner gerade
auch die in Rede stehende Hilfe für junge Volljährige gewährt worden war. Dass für ein
weiteres Arbeiten in der Werkstatt eine Fortführung der bisherigen Hilfe unumgänglich
ist, lässt sich weder aus dem Bericht entnehmen, noch gibt es aus Sicht des Erhalts der
Teilhabe am beruflichen Leben dafür einen anderen Anhaltspunkt.
42
Die Kammer sieht auch in den Angaben im Bericht der Diplom-Logopädin U. -T. vom 19.
September 2010 keine Veranlassung zu einer abweichenden Entscheidung. Die
Notwendigkeit der Fortführung der logopädischen Therapie zur Förderung der Sprach-
und Kommunikationsfähigkeit steht - auch für das Jugendamt - außer Zweifel. Diese
Therapie wird allerdings nicht von der Jugendhilfe, sondern einem anderen
Sozialleistungsträger finanziert, so dass sie von der Einstellung der Jugendhilfe
unberührt bleibt.
43
Schließlich spricht der Bericht des Herrn I. vom 18. September 2010, der den
Antragsteller nach seinen Angaben seit 2004 im Rahmen der Eingliederungshilfe
begleitet, dafür, dass die dort geschilderten Hilfen mit Blick auf die geistige Behinderung
des Antragstellers und nicht wegen einer seelischen Behinderung erforderlich sind.
44
Soweit der Antragsteller vorträgt, ohne die Bewilligung von Hilfe nach §§ 41, 33 SGB
VIII könne er nicht länger im Haushalt der Pflegemutter verbleiben, bedauert die
Kammer eine solche Entwicklung. Dies kann aber nicht entgegen der Rechtslage zu
einer Bewilligung nach dem SGB VIII führen. Auch wenn der Lebensunterhalt des
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Antragstellers zur Zeit durch Leistungen nach dem SGB II gesichert wird und ein Teil
des Betreuungsaufwandes der Pflegeeltern durch eine Pflegegeld nach dem SGB XI in
Höhe von ca. 400 EUR gedeckt wird, so entfällt durch die Entscheidung des
Antragsgegners und des Gerichts der im Rahmen der Leistungen nach § 39 SGB VIII zu
zahlende Anerkennungsbetrag für die Erziehungsleistung der Pflegeltern, wenn nicht
ohnehin schon durch eine (möglicherweise) erfolgte Anerkennung als Erziehungsstelle
(vgl. § 33 Satz 2 SGB VIII) dieser Betrag deutlich erhöht war. Nach der Rechtsprechung
der Kammer,
Urteil vom 24. Februar 2009 - 2 K 1101/07 -,
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schließen sich der Bezug von Pflegegeld nach § 37 SGB XI und der Bezug des
Pflegegeldes nach § 39 SGB VIII nicht aus. Es wird - wie unten unter 2.) noch
auszuführen sein wird - nun Aufgabe des örtlichen und des überörtlichen
Sozialhilfeträgers abzuklären, wie sie dieser Situation des Antragstellers Rechnung
tragen.
47
2.) Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen
Überprüfung der Sach- und Rechtslage hat der am 21. September 1988 geborene
Antragsteller auch keinen Anspruch gegen den Antragsteller auf Hilfe für junge
Volljährige in Form der Eingliederungshilfe durch Unterbringung in einer Pflegefamilie
nach den §§ 41, 35 a SGB VIII glaubhaft gemacht.
48
Denn der Antragsgegner ist nach § 14 SGB IX für das in Rede stehende Hilfebegehren
unter dem Gesichtspunkt "Eingliederungshilfe" nicht mehr zuständig.
49
Der Antragsgegner hat als zuerst angegangener Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 6
SGB IX) den Antrag des Antragstellers vom 26. Juni 2010, der am 1. Juli 2010 bei ihm
eingegangen ist, innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX per
Fax an den Beigeladenen als Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX
weitergeleitet. Diesem obliegt es nach § 14 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 1 SGB IX -
ungeachtet der Frage, welcher Rehabilitationsträger endgültig für die Finanzierung der
beantragten Leistung zuständig ist - den Rehabilitationsbedarf festzustellen, d.h.
regelmäßig spätestens nach Ablauf der dreiwöchigen Bearbeitungsfrist die
erforderlichen Rehabilitationsleistungen zu erbringen.
50
Der Beigeladene ist an diese Verweisung gebunden. Das Oberverwaltungsgericht für
das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) hat hierzu im Beschluss vom 31. Juli 2008 -
12 B 852/08 - ausgeführt:
51
"Nach dem Willen des Gesetzgebers trifft § 14 SGB IX für Leistungen zur Teilhabe
behinderter Menschen eine für die Rehabilitationsträger abschließende Regelung, die
grundsätzlich den allgemeinen Regelungen zur vorläufigen Zuständigkeit oder
Leistungserbringung im SGB I - also namentlich § 43 SGB I - und in den
Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger vorgeht.
52
Vgl. BT-Drucks. 14/5074, S. 95 ff., 102; vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom
23. März 2007 - L 8 B 41/06 SO ER -, RdLH 2007 Nr. 3 S. 29; Bayerisches LSG,
Beschluss vom 27. September 2006 - L 11 B 342/06 SO ER -, FEVS 58, 379;
Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 9. November 2005 - L 9 B 268/05 SO
ER -, FEVS 57, 237; BSG Urteil vom 26. Oktober 2004 - B 7 AL 16/04 R -, FEVS 56,
53
385; Nieders. OVG, Urteil vom 23. Juli 2003 - 12 ME 297/03 -, FEVS 55, 384; a. A. Hess.
VGH, Beschluss vom 21. September 2004 - 10 TG 2293/04 -, FEVS 56, 328; Hamb.
OVG, Beschluss vom 9. Oktober 2003 - 4 Bs 458/03 -, FEVS 55, 365.
Nach der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung soll § 14 SGB IX dem
Bedürfnis Rechnung tragen, im Interesse Behinderter und von Behinderung bedrohter
Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteile des gegliederten
Systems des Rechts der Teilhabe behinderter Menschen entgegenzuwirken.
Streitigkeiten über die Zuständigkeit einschließlich der Pflicht zur Erbringung vorläufiger
Leistungen bei ungeklärter Zuständigkeit oder bei Eilbedürftigkeit der Maßnahmen
sollen nicht mehr zu Lasten der behinderten Menschen bzw. der Schnelligkeit und der
Qualität der Leistungen gehen; durch eine rasche Klärung der Zuständigkeit soll das
Verwaltungsverfahren deutlich vereinfacht werden, damit die Berechtigten die
erforderlichen Leistungen schnellstmöglich erhalten. Dies liegt im Interesse der
Leistungsberechtigten, aber auch der zuständigen Rehabilitationsträger. Die Vorschrift
nimmt es insoweit auch in Kauf, dass eine endgültige Klärung der Zuständigkeit erst
nach der Leistungsbewilligung durch vorläufig zuständige Rehabilitationsträger erfolgt.
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Vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21. Juni 2007 - L 13 SO 5/07
ER -, FEVS 59, 86; Bay. LSG, Beschluss vom 27. September 2006 - L 11 B 342/06 SO
ER -, a.a.O.; Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 9. November 2005 - L 9 B
268/05 SO ER -, a.a.O..
55
Der nach § 14 Abs. 2 SGB IX zuständige Rehabilitationsträger kann
Rehabilitationsleistungen nur ablehnen, wenn nicht nur das von ihm regelmäßig
anzuwendende Rehabilitationsrecht, sondern alle für den Hilfefall in Betracht
kommenden Rehabilitationsvorschriften keinen Anspruch vorsehen. Denn auch wenn
nach dem Wortlaut des § 14 Abs. 2 Sätze 1 - 3 SGB IX nicht zweifelsfrei ist, ob der nach
dieser Vorschrift zuständige Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf nur nach
dem für ihn geltenden Leistungsrecht (siehe § 7 Satz 2 SGB IX) oder nach allen für den
Hilfefall in Betracht kommenden Regelungen des Rehabilitationsrechts festzustellen
und ggfs. die notwendigen Leistungen zu erbringen hat, kann eine am Normzweck
orientierte Auslegung des § 14 Abs. 2 SGB IX nur so verstanden werden, dass dieser
Zuständigkeit eine am gesamten Rehabilitationsrecht orientierte Leistungspflicht
entspricht.
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Vgl. BSG, Urteil vom 26. Oktober 2004 - B 7 AL 16/04 R -, a.a.O.; BayVGH, Beschluss
vom 28. Juni 2005 - 12 CE 05.1287 -, FEVS 57, 162; Urteil vom 6. Dezember 2006 - 12
CE 06.2732 -, NDV-RD 2007, 110, m. w. N.
57
Auch der mit Wirkung ab 1. Mai 2004 an § 14 Abs. 2 SGB IX angefügte Satz 5 zeigt,
dass ein Rehabilitationsträger, an den ein Antrag weitergeleitet wurde, den Bedarf
selbst dann festzustellen hat, wenn er für die beantragte Leistung nicht
Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 SGB VIII sein kann und das in Satz 5 vorgesehene
Klärungsverfahren ohne Erfolg geblieben ist."
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Danach ist der Beigeladene durch die fristgerechte Verweisung zur Leistung von
Eingliederungshilfe verpflichtet. Er kann die durch die Verweisung eingetretene Bindung
auch nicht ablehnen, weil nach seiner Auffassung die durch das Gesetz vom 30. Juli
2009, BGBl. I S. 2495, eingefügte Neufassung des § 54 SGB XII die Betreuung in einer
Pflegefamilie nur für Kinder und Jugendliche, nicht aber für junge Volljährige vorsieht.
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Denn wie sich aus der oben wiedergegebenen Entscheidung des OVG NRW ergibt, hat
er nicht nur sein eigenes Leistungsrecht zu beachten, sondern es folgt aus dieser
Zuständigkeitsbestimmung eine am gesamten Rehabilitationsrecht orientierte
Leistungspflicht. Es ist deshalb fraglich, ob er mit der Bewilligung ambulanter
Eingliederungshilfe im Umfang von 2 x 2 Stunden wöchentlich im Bescheid vom 5.
Oktober 2010 seine Leistungsverpflichtung ausgeschöpft hat.
Der Beigeladene kann seine (bisherige) Leistungsbeschränkung auf ambulante
Maßnahmen im Umfang von vier Stunden wöchentlich insbesondere nicht auf den in der
obengenannten Entscheidung aufgeführten Sonderfall stützen, dass alle in Betracht
kommenden Rehabilitationsvorschriften keinen Anspruch des Antragstellers vorsehen.
Eine solche Situation ist hier nicht ersichtlich.
60
Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der Antragsteller zum Personenkreis der
im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX - wie oben bereits ausgeführt - geistig
behinderten Personen gehört, die im Grundsatz entweder Leistungen nach den §§ 41,
35 a SGB VIII oder nach den §§ 53, 54 (insbes. Abs. 3) SGB XII beanspruchen können,
wobei nach der Zuständigkeitsregel des § 10 Abs. 4 SGB VIII die Hilfegewährung bei
geistiger Behinderung dem Beigeladenen als (örtlichem) Sozialhilfeträger (vgl. § 97
Abs. 1 SGB XIII in Abgrenzung von 97 Abs. 3 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 2 der
Ausführungsverordnung zum Sozialgesetzbuch XII - Sozialhilfe - des Landes NRW)
obliegt. Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe sowohl nach der Sozialhilfe wie
auch der Jugendhilfe gehören u.a. auch Leistungen zur Sicherung der Teilhabe der
behinderten Menschen am Arbeitsleben sowie die Leistungen in einer betreuten
Wohnform. Für eine Übergangszeit bis zum Einzug in eine solche betreute Wohnform
hat der Beigeladene mit dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe abzustimmen,
inwieweit eine Hilfegewährung in Form der Unterbringung in einer Pflegefamilie auch
für junge Volljährige in Betracht kommt. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers soll §
14 SGB IX aber gerade verhindern, dass der Zuständigkeitsstreit unter den
Rehabilitationsträgern auf dem Rücken der Hilfe Suchenden ausgetragen wird.
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Schließlich kann eine vorläufige Leistungsverpflichtung des Antragsgegners auch nicht
auf § 43 SGB I gestützt werden. Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist
zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann der
unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen. Mit
dieser Vorschrift hatte der Antragsgegner im Bescheid vom 5. August 2009 seine
vorläufige Hilfegewährung für die Zeit vom 1. August 2009 bis zum 31. Juli 2010
begründet. Dies ist nunmehr nicht mehr möglich. Denn ein Zuständigkeitsstreit des
Jugendhilfeträgers und des Sozialhilfeträgers kann im vorliegenden Verfahren nur unter
dem Gesichtspunkt der "Eingliederungshilfe" angenommen werden. Da der
Antragsgegner den Antrag unter diesem Gesichtspunkt nach § 14 SGB IX innerhalb der
Zweiwochenfrist an den Beigeladenen weitergeleitet hat, ist nach der Rechtsprechung
des OVG NRW,
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Beschluss vom 31. Juli 2008 - 12 B 852/08 -, juris,
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daneben - auch nicht ergänzend - die Anwendung des § 43 SGB I ausgeschlossen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die
Kostenentscheidung bezüglich des Beigeladenen ergibt sich aus §§ 154 Abs. 3, 162
Abs. 3 VwGO. Er hat keinen Antrag gestellt und sich somit auch keinem
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Prozesskostenrisiko ausgesetzt.