Urteil des VG Aachen vom 10.11.2004

VG Aachen: serbien und montenegro, politische verfolgung, amnesty international, heimat, bundesamt, kosovo, wahrscheinlichkeit, anerkennung, desertion, auskunft

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verwaltungsgericht Aachen, 9 K 2346/04.A
10.11.2004
Verwaltungsgericht Aachen
9. Kammer
Urteil
9 K 2346/04.A
ch den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Schnieders als Berichterstatter
für R e c h t erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die
Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger ist eigenen Angaben Staatsangehöriger Serbien und Montenegros
bosniakischer Volkszugehörigkeit.
Im Februar dieses Jahres stellte er einen Asylantrag. Zu dessen Begründung gab er bei
seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(Bundesamt) im Wesentlichen an, seine Frau lebe zusammen mit den gemeinsamen (drei)
Kindern noch in seiner Heimat (U. ). Er halte sich seit seiner auf dem Landweg erfolgten
Einreise im Januar 1995 ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Zuvor sei er von einer
Reserverüberung desertiert. Die Behörden hätten ihn deshalb gesucht. In seiner Heimat
seien radikale serbische Kräfte an der Macht. Des Weiteren habe er ein Nervenleiden. Er
könne nicht schlafen. Einmal monatlich gehe er zu einem Psychiater. Dieser verschreibe
ihm Medikamente und spreche eine halbe Stunde mit ihm.
Mit Bescheid vom 7. April 2004 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab. Zugleich stellte
es fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG)
noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorlägen. Darüber hinaus forderte es den
Kläger zu Ausreise aus dem Bundesgebiet binnen eines Monats nach Bekanntgabe der
Entscheidung auf. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist drohte es ihm die
Abschiebung nach Serbien und Montenegro an. Dabei wies es darauf hin, dass die
Abschiebung auch in einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat erfolgen
könne.
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Der Kläger hat unter Vorlage einer Fotokopie des streitgegenständlichen Bescheids, die
einen Eingangsstempel 16. April 2004 trägt, am 23. April 2004 Klage erhoben. Er trägt vor,
er müsse als Bosniake aus dem Sandzak bei einer Rückkehr mit asylerheblichen
Maßnahmen rechnen. Die Zukunftsperspektive sei in seiner Heimat insbesondere für
Minderheiten, gerade nach der Ermordung von Premier Djindjic, unsicher. Politische
Reformen schritten bislang kaum voran.
Er beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 7. April 2004 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten
anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
vorliegen,
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach
§ 53 des Ausländergesetzes vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Sie nimmt auf die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes Bezug. Wegen der
weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und
des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts verwiesen. Die Erkenntnisse
der Kammer zum Herkunftsland Serbien und Montenegro (außer Kosovo) sind in das
Verfahren eingeführt worden.
Entscheidungsgründe
Die Kammer kann auf Grund des von den Hauptbeteiligten mit Schreiben vom 22. April und
8. November (Kläger) bzw. 25. Mai 2004 (Beklagte) erteilten Einverständnisses ohne
mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden (vgl. die §§ 87 a Abs. 3 und
Abs. 2, 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist unbegründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten
Ansprüche nicht zu, und die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig (vgl. § 113 Abs. 5
Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1
Satz 1 Halbsatz 2 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) weder Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigter - dies schon wegen seiner Einreise in das Bundesgebiet
auf dem Landweg (vgl. Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes [GG] in Verbindung mit §
26 a Abs. 1 Sätze 1 und 2, Abs. 2 AsylVfG und der Anlage I zum AsylVfG) - noch auf
Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Dabei gilt für die Anforderungen
an die Bejahung einer politischen Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG in Bezug auf
Verfolgungshandlung, geschütztes Rechtsgut und politischen Charakter der Verfolgung
dasselbe wie bei Art. 16 a Abs. 1 GG. Auch die Unterscheidung der
Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe gilt entsprechend.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteile vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -,
Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1992, 843, vom 26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 u.a. -,
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1994, 500, und vom 18. Januar 1994 - 9 C
48.92 -, DVBl. 1994, 531.
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Der Kläger ist weder vorverfolgt ausgereist noch hat er bei einer Rückkehr in seine Heimat
auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch den
serbisch-montenegrinischen Staat zu befürchten.
Er, der eigenen Angaben zufolge ein aus dem Sandzak stammender bosnischer
Volkszugehöriger islamischen Glaubens (Bosniake) ist, hat seine Heimat nicht auf der
Flucht vor unmittelbarer politischer Verfolgung verlassen. Namentlich genügt sein
pauschales und detailarmes Vorbringen, die dortigen Behörden hätten ihn wegen
Desertion von einer Reserveübung 1995 gesucht, nicht den an die Glaubhaftmachung
einer politischen Verfolgung zu stellenden Anforderungen. Dessen ungeachtet stellt eine
etwaige Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung - ebenso wie eine Heranziehung zum
Wehrdienst - nur dann politische Verfolgung dar, wenn sie neben der Erfüllung einer
allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht darauf gerichtet ist, den Betroffenen wegen eines
asylerheblichen Persönlichkeitsmerkmals zu treffen.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. September 1999 - 9 V 7/99 -, Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 216, Urteile vom 24. November 1992 - 9 C 70/91 -, NVwZ 1993, 789, vom 6.
Dezember 1988 - 9 C 22.88 -, Amtliche Entscheidungssammlung des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 81, 41, und vom 24. April 1990 - 9 C 4.89 -,
Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1990, 238, 239.
Anhaltspunkte hierfür lassen sich den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen jedoch
nicht entnehmen.
Vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in
Serbien und Montenegro (ohne Kosovo) - im Folgenden: Lagebericht - vom 24. Februar
2004, S. 19 f.
Des Weiteren hat das jugoslawische Bundesparlament am 26. Februar 2001 ein neues
Amnestiegesetz verabschiedet, das Wehrdienstentziehung und Desertion, die bis zum 7.
Oktober 2000 erfolgt waren, erfasst. Dieses Gesetz ist am 5. März 2001 in Kraft getreten.
Vgl. AA, Lagebericht, S. 20; amnesty international, Länderkurzbericht Serbien und
Montenegro inklusive Kosovo/Kosova, Stand: Oktober 2003.
Angesichts dessen erscheint die Annahme, der Kläger werde wegen
Wehrdienstentziehung nunmehr bei seiner Rückkehr nach Serbien und Montenegro
bestraft, als fern liegend.
Anhaltspunkte für eine - wie auch immer geartetete - Vorverfolgung aus sonstigen Gründen
hat der Kläger weder aufgezeigt noch sind solche sonstwie ersichtlich.
Der Kläger hat bei einer Rückkehr in seine Heimat - unabhängig von den vorstehenden
Ausführungen zur Wehrdienstentziehung - auch im übrigen nicht mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch Serbien und Montenegro zu befürchten.
Nach der Rechtsprechung der Kammer,
vgl. Urteile vom 3. Juni 2002 - 9 K 379/02.A - und vom 13. Mai 2002 - 9 K 304/99.A -, sowie
Beschluss vom 24. Juli 2002 - 9 L 804/02.A -,
die mit der gefestigten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) übereinstimmt,
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vgl. Beschlüsse vom 30. Juli 2001 - 5 A 4126/97.A -, vom 25. Juli 2001 - 5 A 2854/01.A -
sowie vom 19. März 2001 - 5 A 897/01.A -,
fand vor dem Hintergrund der seinerzeit aktuellen Erkenntnislage,
vgl. AA, Lagebericht Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) vom 16.
Oktober 2002 (Stand: Ende September 2002),
bereits in der Bundesrepublik Jugoslawien weder eine unmittelbare noch eine mittelbare
staatliche (Gruppen-)Verfolgung moslemischer Volkszugehöriger statt. Das gilt auch nach
Ende des so genannten Kosovo-Krieges. Seit Beendigung der NATO-Luftangriffe auf die
Bundesrepublik Jugoslawien ist der Großteil der aus dem Sandzak geflüchteten Moslems
wieder dorthin zurückgekehrt. Seither entwickelt sich ihre Situation tendenziell zum
Besseren. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass für Serbien und Montenegro
Abweichendes zu gelten haben könnte. Vgl. AA, Lagebericht, S. 9; Urteil der Kammer vom
23. Juni 2003 - 9 K 846/03.A -, sowie Beschlüsse vom 12. November 2003 - 9 L 2045/03.A -
und vom 15. September 2003 - 9 L 1018/03.A -.
Dabei ist nicht zu verkennen, dass es im Sandzak derzeit noch gewisse
Benachteiligungen, etwa in Form von Unterrepräsentierungen, von Moslems in Polizei,
Justiz und Verwaltung gibt. Indessen zeichnen sich nach dem demokratischen Wandel
verschiedene Änderungen zu Gunsten eines Minderheitenschutzes ab. Beispielsweise ist
seit Oktober 2000 ein Bosniake aus dem Sandzak als Minister für Minderheiten Mitglied der
jugoslawischen, dann als Minister für Menschenrechte und nationale Minderheiten der
serbisch-montenegrinischen Regierung. Darüber hinaus gibt es keine aktuellen Hinweise
auf massive, gezielte staatliche Repressionen gegen Moslems mehr. Soweit überhaupt ein
etwaiger Migrationsdruck feststellbar ist, beruht dieser auf der vergleichsweise schlechten
wirtschaftlichen Lage. Die Lage der Bosniaken im montenegrinischen Teil unterscheidet
sich nicht wesentlich von der der Moslems im serbischen Sandzak.
Vgl. AA, Lagebericht, S. 9 f. und S. 15; AA, Auskunft vom 20. September 2001 an das
Verwaltungsgericht (VG) München; vgl. auch AA, Auskunft vom 28. Mai 2001 an das VG
Lüneburg.
Darüber hinaus hat der Kläger bei einer Rückkehr nach Serbien und Montenegro -
entgegen seinen Befürchtungen - Übergriffe durch die serbische Bevölkerungsmehrheit
nicht zu befürchten. Vielmehr ist auf einen sich abzeichnenden Wandel zugunsten eines
Minderheitenschutzes zu verweisen. Am 7. März 2002 ist ein Minderheitengesetz in Kraft
getreten, mit dem Minderheitenrechte entsprechend dem internationalen Standard
festgeschrieben wurden. Zudem wurden etwa im moslemischen Sandzak bei
Neubesetzungen in der Justiz verstärkt Moslems berücksichtigt.
Vgl. AA, Lagebericht, S. 9 f. und auch S. 21.
Es liegen unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnislage auch keine
Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG vor. Es spricht keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit, vgl. zu diesem Maßstab: BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1995 - 2
BvR 384/95 -, DVBl. 1996, 196,
dafür, dass dem Kläger in Serbien und Montenegro die konkrete Gefahr von Folter oder
einer gegen die Menschenrechtskonvention verstoßenden Behandlung droht oder dass er
konkreten Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit aus individuellen Gründen ausgesetzt ist.
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Gleiches gilt hinsichtlich konkreter Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit aus individuellen
Gründen in einem Grade, bei dessen Vorliegen trotz Fehlens eines Erlasses nach § 54
AuslG die Gewährung von Abschiebungsschutz geboten ist.
Vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 - , NVwZ 1996, 199, und vom 4.
Juni 1996 - 9 C 134/95 -, NVwZ- Beilage 1996, 89.
Auch insoweit ist eine landesweite Betrachtung anzustellen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. August 1996 - 9 C 172.95 -, DVBl. 1997, 182; OVG NRW,
Beschluss vom 24. September 1997 - 23 A 3400/93.A -.
Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage ist nichts dafür ersichtlich, dass die
wirtschaftlichen Verhältnisse in Serbien und Montenegro für Rückkehrer
existenzbedrohend wären. Es liegt im Übrigen kein Anhaltspunkt dafür vor, dass der Kläger
bei einer Rückkehr in seine Heimat sehenden Auges in eine konkret lebensgefährliche
Situation geraten könnte. Auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Serbien
und Montenegro spricht nichts dafür, dass die Existenzgrundlage für Rückkehrer nicht
gesichert wäre.
Vgl. AA, Lagebericht, S. 26 ff.; AA, Auskünfte vom 22. Januar 2002 an das VG Freiburg,
vom 13. November 2001 an das VG Frankfurt am Main sowie vom 20. September 2001 an
das VG München; vgl. - insbesondere zu § 53 Abs. 6 AuslG - auch: OVG NRW, Beschluss
vom 30. Juli 2001 - 5 A 4126/97.A -.
Das ein Nervenleiden betreffende Vorbringen des Klägers bei seiner Anhörung durch das
Bundesamt rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Zum einen hat der Kläger dieses
Vorbringen im Gerichtsverfahren weder aufgegriffen noch durch ärztliche Bescheinigungen
untermauert. Zum anderen sind die diesbezüglichen Angaben zu ungenau, als dass sie die
Annahme eines krankheitsbedingten, zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses
rechtfertigen könnten (vgl. § 53 Abs. 6 AuslG).
Die Abschiebungsandrohung stützt sich zutreffend auf die §§ 34, 38 Abs. 1 AsylVfG in
Verbindung mit § 50 AuslG.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11 und 711 der Zivilprozessordnung.