Urteil des VG Aachen vom 16.08.2006
VG Aachen: wohnhaus, grundstück, wohngebäude, baurecht, einfluss, bindungswirkung, terrasse, besucher, öffentlich, verfall
Verwaltungsgericht Aachen, 3 K 456/06
Datum:
16.08.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 456/06
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen
hat.
T a t b e s t a n d :
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks Gemarkung S. , Flur 9, Flurstück 729,
das in zweiter Reihe hinter den Wohnhäusern S1.-------straße 5 und 7 liegt. Die Parzelle
befindet sich im Straßendreieck: S1.-------straße , C.------straße und C1.-----straße : Sie
ist ebenso wie die wegeartigen Parzellen 722 und 727, die zwischen den Häusern S1.--
-----straße 5 und 7 eine Verbindung zur S1.-------straße herstellen, etwa 1979 durch
Grundstücksteilungen entstanden.
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Das vorgenannte Straßendreieck ist innenseitig mit etwa 20 Wohnhäusern bebaut, die
überwiegend Bebauungstiefen zwischen 19 und 25 m einhalten. Nur die beiden zur C1.-
----straße ausgerichteten Wohnhäuser auf den Parzellen 532 und 533 weisen
Bebauungstiefen von ca. 48 m bzw. 53 m auf, wobei das kleine Hinterliegerwohnhaus
auf der Parzelle 533 seit zwei Jahren nicht mehr bewohnt und im Verfall begriffen ist.
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Ein Bebauungsplan besteht für den hier fraglichen Bereich nicht.
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Mit Bauvoranfrage vom 28. Juni 2005 begehrte die Klägerin bei dem Beklagten eine
Bebauungsgenehmigung zur Errichtung eines ca. 19 m x 10 m großen Wohngebäudes
auf der Parzelle 729 mit einer Bebauungstiefe von ca. 56 m zur S1.-- -----straße .
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Nachdem die Beigeladene ihr Einvernehmen verweigert hatte, lehnte der Beklagte den
Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 12. August 2005 ab. Zur Begründung führte er
aus: Das Vorhaben der Klägerin füge sich nicht gemäß § 34 des Baugesetzbuches
(BauGB) nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die nähere
Umgebung ein. Der Rahmen der näheren Umgebung werde von der Bebauung an der
Nordseite der S1.-------straße mit den Wohnhäusern Nr. 1 bis 19 gebildet. In diesem
Bereich seien Bebauungstiefen bis höchstens 22 m vorhanden.
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Die Klägerin legte Widerspruch ein und trug vor: Ihr Vorhaben füge sich auch nach der
Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die nähere Umgebung ein. Zu dem hier
maßgeblichen Rahmen gehöre auch die Bebauung an der C.------straße und an der C1.-
----straße , die tiefer gelegene Hinterlandbebauung enthalte. Im Übrigen sei eine
Bebauung in zweiter Reihe nicht grundsätzlich unzulässig. Auch als außerhalb des
Rahmens liegendes Vorhaben sei es zu genehmigen, weil bodenrechtliche
Spannungen, insbesondere eine negative Vorbildwirkung, nicht zu erwarten seien. Die
Teilung der Grundstücke sei früher erfolgt, um die wegemäßige Erschließung und die
Bebauung der Parzelle 729 zu ermöglichen.
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Am 10. Januar 2006 teilte die Beigeladene dem Beklagten mit, dass es sich bei den
schmalen, wegeartigen Parzellen 722 und 727 nicht um öffentliche Wege handele.
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Mit Bescheid vom 13. Februar 2006 wies die Bezirksregierung Köln den Widerspruch
der Klägerin zurück und führte zur Begründung aus: Das außerhalb des Rahmens im
Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB liegende Vorhaben der Klägerin rufe bodenrechtliche
Spannungen hervor, weil es eine Vorbildwirkung für die Nachbargrundstücke erzeuge.
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Die Klägerin hat am 9. März 2006 Klage erhoben und trägt vor: Als nähere Umgebung
im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB sei die gesamte Bebauung innerhalb des
Straßendreiecks zugrunde zu legen. Auf den Parzellen 532 und 533 befänden sich
Wohngebäude im Hintergelände.
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Die Klägerin beantragt,
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den ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 12. August 2005 und den
Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Köln vom 13. Februar 2006 aufzuheben
und den Beklagten zu verpflichten, ihr die beantragte Bebauungsgenehmigung zu
erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er weist darauf hin, dass Unterlagen über Bodenverkehrsgenehmigungen aus dem
Jahre 1979 nicht vorhanden seien. Selbst wenn eine solche
Bodenverkehrsgenehmigung erteilt worden sein sollte, sei die dreijährige Bindungsfrist
des damals geltenden § 21 Abs. 1 des Bundesbaugesetzes längst abgelaufen. Im
Übrigen nehme er Bezug auf den ablehnenden Bescheid und auf die Begründung im
Widerspruchsbescheid.
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Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten und der
Bezirksregierung Köln Bezug genommen.
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Der Einzelrichter hat die Örtlichkeit in der mündlichen Verhandlung besichtigt. Wegen
des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 25. Juli 2006
verwiesen. Entscheidungsgründe:
18
Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung eines positiven Bescheides über ihre
Bauvoranfrage vom 28. Juni 2005 zur Errichtung eines Wohngebäudes, da diesem
Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegenstehen, vgl. § 75 Abs. 1 der
Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (BauO NRW).
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Der Beklagte hat zutreffend ausgeführt, dass eine Bindungswirkung zur Erteilung einer
Bebauungsgenehmigung gemäß § 21 Abs. 1 des Bundesbaugesetzes vom 23. Juni
1960 in der Fassung vom 18. August 1976 schon wegen des Ablaufs der in dieser
Vorschrift geregelten Dreijahresfrist nicht besteht.
21
Der Erteilung eines positiven Vorbescheides auf Grund heutiger Gesetzeslage stehen
bauplanungsrechtliche Vorschriften entgegen.
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Die planungsrechtliche Zulässigkeit baulicher Anlagen beurteilt sich nach den §§ 29 ff.
BauGB. Im konkreten Fall findet - unstreitig - § 34 BauGB Anwendung, da das
Grundstück der Klägerin innerhalb des im Zusammenhang bebauten Ortsteils von S.
liegt.
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Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist u. a. für die Zulässigkeit eines Vorhabens erforderlich, dass
es sich nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der
näheren Umgebung einfügt. Das ist hier nicht der Fall.
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Als nähere Umgebung im Sinne dieser Vorschrift sind die Grundstücke in der engeren
und weiteren Nachbarschaft in die Betrachtung einzubeziehen, auf die sich einerseits
das geplante Vorhaben auswirken kann und die andererseits den bodenrechtlichen
Charakter des Baugrundstücks prägen oder doch wesentlich beeinflussen,
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vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 18. Oktober 1974 - 4 C 77.73 -,
Baurechtssammlung (BRS) 28 Nr. 27; Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, BRS 33 Nr.
36; Urteil vom 3. April 1981 - 4 C 61.78 -, BRS 38 Nr. 69 und Baurecht (BauR) 1981,
351; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
20. Juni 1991 - 11 A 728/88 - .
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Im vorliegenden Fall beschränkt sich die wechselseitige Prägung und damit die nähere
Umgebung auf die Bebauung innerhalb des Straßendreiecks der Straßen S1.-------
straße , C.------straße und C1.-----straße . Bezüglich des Merkmals der
Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, wird die nähere Umgebung im Regelfall
zwar enger als bei dem Merkmal der Art der baulichen Nutzung zu bemessen sein,
27
vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. September 1988 - 4 B 175.88 -, BRS 48 Nr. 50.
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Denn die von den überbauten Grundstücksflächen ausgehende Prägung bleibt in ihrer
Reichweite im Allgemeinen hinter den von der Art der baulichen Nutzung ausgehenden
Wirkungen zurück. Dennoch ist im vorliegenden Fall wegen der Nähe der seitlichen und
gegenüberliegenden Bebauung an der C1.-----straße und der C.--- ---straße nicht nur die
Bebauung längs einer Straße, sondern auch die dem Grundstück der Klägerin
zugewandte Bebauung an anderen Straßen bei der Festlegung des maßgeblichen
Rahmens mitzuberücksichtigen. Die hinteren Grundstücksbereiche dieser gesamten
Bebauung wirken nämlich wegen der Nähe und der gegenseitigen Einsichtmöglichkeit
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mitprägend aufeinander ein. Die übrige Bebauung an den gegenüberliegenden
Straßenseiten sondert sich dagegen durch ihre Lage deutlich ab und hat keinen Einfluss
auf die Bebauung innerhalb des vorgenannten Straßendreiecks.
In diesen vorgegebenen "Rahmen" fügt sich das geplante Wohnhaus der Klägerin nicht
ein. Ein Vorhaben, das sich - in jeder Hinsicht - innerhalb des aus seiner Umgebung
hervorgehenden Rahmens hält, fügt sich in der Regel in seine Umgebung ein. Diese
Feststellung erschöpft die Möglichkeit des Einfügens jedoch nicht. Auch Vorhaben, die
den aus ihrer Umgebung ableitbaren Rahmen überschreiten, können sich dennoch
dieser Umgebung einfügen. Bei dem "Einfügen" geht es weniger um "Einheitlichkeit" als
um "Harmonie". Daraus, dass ein Vorhaben in seiner Umgebung - überhaupt oder doch
in dieser oder jener Beziehung - ohne ein Vorbild ist, folgt noch nicht, dass es ihm an
dem harmonischen Einfügen fehlt. Das Erfordernis des Einfügens schließt nicht
schlechthin aus, etwas zu verwirklichen, was es in der Umgebung bisher nicht gibt,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, a.a.O..
31
Geht jedoch ein Vorhaben über den vorgegebenen Rahmen hinaus, so fügt es sich in
seine Umgebung nur ein, wenn die Überschreitung nicht in einer Weise erfolgt, die -
weil es schon selbst oder sei es infolge der Vorbildwirkung - geeignet ist, bodenrechtlich
beachtliche und erst noch ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen oder die
vorhandenen Spannungen zu erhöhen. Ein Vorhaben, das im Verhältnis zu seiner
Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen begründet und erhöht, das in diesem
Sinne "verschlechtert", "stört", "belastet", bringt die ihm vorgegebene Situation
gleichsam in Bewegung. Es stiftet Unruhe, die potenziell ein Planungsbedürfnis nach
sich zieht. Soll es zugelassen werden, kann dies sachgerecht nur unter Einsatz der -
jene Unruhe gewissermaßen auffangenden - Mittel der Bauleitplanung geschehen,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, a.a.O.; Urteil vom 21. November 1980
- 4 C 30.78 -, BauR 1981, 170; Urteil vom 3. April 1981 - 4 C 61.78 -, a.a.O..
33
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall führt zu dem Ergebnis,
dass das Vorhaben der Klägerin nicht zulässig ist.
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Die den Rahmen im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB setzende Bebauung ist hier
gekennzeichnet durch an der Straße liegende Wohnbebauung, die eine Bebauungstiefe
von allenfalls 19 m bis 25 m einhält. Das in zweiter Reihe liegende Nebengebäude auf
der Parzelle 532 prägt nicht die Umgebung für eine Wohnbebauung. Das Gebäude C.---
---straße 3 hat im gesamten Bestand, einschließlich eventueller Nebenanlagen im
hinteren Bereich "nur" eine Bebauungstiefe von ca. 48 m, die somit geringer ist als die
Bebauungstiefe mit 56 m beim Vorhaben der Klägerin. Die Bebauungstiefe des seit
zwei Jahren nicht mehr bewohnten kleinen Wohnhauses auf der Parzelle 533 mit ca. 53
m liegt ebenfalls unterhalb der Bebauungstiefe des geplanten Gebäudes und wirkt im
Übrigen wegen des geringen Umfanges des Gebäudes und seiner Einzigartigkeit als
Fremdkörper in der hier maßgeblichen Umgebung, so dass es an seiner mitprägenden
Wirkung gegenüber der sonst vorherrschenden Straßenrandbebauung fehlt,
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vgl. zur Beurteilung eines Baubestandes als Fremdkörper: OVG NRW, Urteil vom 21.
November 2005 - 10 A 1166/04 - in Rechtsprechung NRW - NRWE- (www.nrwe.de).
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Das somit außerhalb des Rahmens liegende Vorhaben der Klägerin fügt sich auch
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nichts ausnahmsweise in die nähere Umgebung ein, weil es wegen der von ihm
ausgehenden Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtliche Spannungen zu begründen.
Das Vorhaben der Klägerin bringt nämlich wegen der Überschreitung des Rahmens
gleichsam Bewegung in die vorhandene Situation und ruft somit potenziell ein
Planungsbedürfnis hervor. Die Errichtung einer erstmals prägenden
Hinterlandbebauung hätte nämlich Vorbildwirkung für die Nachbarparzellen 315, 270,
409, 566, 327 und 328, auf denen sechs bis sieben Gebäude im Hintergelände errichtet
werden könnten. Wegen dieser weitreichenden, sich aus der konkreten Situation
ergebenden Folgewirkungen ist das Vorhaben der Klägerin unzulässig, weil ein solcher
Vorgang nur aufgrund einer Bauleitplanung, mit der auch eine wegemäßige
Erschließung des Innenbereichs festgelegt werden müsste, mit den Grundsätzen einer
geordneten städtebaulichen Entwicklung vereinbar ist.
Des Weiteren verstößt das Vorhaben der Klägerin auch gegen das Gebot der
Rücksichtnahme gegenüber den Eigentümern der Grundstücke S1.-------straße 5 und 7,
zwischen deren Gebäude die Zufahrt zu dem Bauvorhaben der Klägerin erfolgen soll.
Diese Zufahrt führt nämlich unmittelbar an den nur 3 m entfernten Seitenwänden der
Wohngebäude und an den Ruhezonen, die mit Sitzecken und Terrasse ausgestattet
sind, vorbei. Die mit dem Kraftfahrzeugverkehr (Bewohner, Besucher, Anlieferer u. a. m.)
verbundenen Geräusch- und Geruchsbelästigungen sind diesen Bewohnern nicht
zuzumuten.
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Die Klägerin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass das seit zwei Jahren
unbewohnte kleine Wohnhaus auf der Parzelle 533 bereits über die für das
Bauvorhaben geplante Zuwegung erschlossen wird. Zum einen war und ist ein solcher
Vorgang nicht genehmigt und zum anderen macht die Örtlichkeit nicht den Eindruck,
dass eine solche wegemäßige Erschließung erfolgt ist, da es insoweit an jeglicher
Befestigung und Zuwegung in dem Bereich zwischen der Wegeparzelle 722 und dem
kleinen Wohnhaus fehlt. Aber auch wenn diese wegemäßige Erschließung rechtmäßig
erfolgt sein sollte, so ist dennoch die Zunahme des Verkehrs zu einem Wohnhaus mit
einer Grundfläche von ca. 19 m x 10 m den Eigentümern der Häuser S1.-------straße 5
und 7 nicht zumutbar.
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Nach alledem bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob die Bäume auf dem Grundstück
der Klägerin, unter denen sich auch stattliche Laubbäume befinden, einen Wald im
Sinne des Waldgesetzes bilden und ob dieser einer Bebauung entgegensteht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 154 Abs. 3 und 162 Abs. 3 VwGO.
Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich somit nicht dem Risiko der
Kostentragung ausgesetzt hat, waren ihre außergerichtlichen Kosten nicht für
erstattungsfähig zu erklären.
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