Urteil des VG Aachen vom 30.11.2006

VG Aachen: geschlossene bauweise, aufschiebende wirkung, offene bauweise, gebäude, grenzabstand, gestaltung, grundstück, öffentlich, vollziehung, aussetzung

Verwaltungsgericht Aachen, 3 L 542/06
Datum:
30.11.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 L 542/06
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung des von den Antragstellern erhobenen
Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte 8.
Teilbaugenehmigung vom 18. August 2006 (Bauschein Nr. 238/06) wird
angeordnet.
Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des
Verfahrens je zur Hälfte; außergerichtliche Kosten der Beigeladenen
sind erstattungsfähig.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.
G r ü n d e : 1. Der Antrag mit dem Inhalt,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte 8.
Teilbaugenehmigung vom 18. August 2006 (Bauschein Nr. 238/06) anzuordnen,
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hat Erfolg.
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Er ist als Eilantrag auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Teil-
baugenehmigung gemäß § 212 a Abs. 1 des Baugesetzbuches (BauGB) in Verbindung
mit §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 80 a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2 und 80 Abs. 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig.
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Das Rechtsschutzbedürfnis für den Eilantrag ist mit Blick auf den inzwischen
eingetretenen Baufortschritt (noch) nicht entfallen. Die von den Antragstellern
vorgelegten Bilder belegen, dass die strittige Bebauung an der gemeinsamen
Nachbargrenze, insbesondere was die Glaselemente angeht, noch nicht fertiggestellt
ist.
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Der zulässige Aussetzungsantrag ist auch begründet.
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Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Halbsatz VwGO gebotenen Abwägung der
gegenläufigen Vollziehungsinteressen überwiegt das (Nachbar-) Interesse der
Antragsteller an der Aussetzung der für das strittige Vorhaben erteilten 8.
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Teilbaugenehmigung, weil der gleichzeitig erhobene Baunachwiderspruch mit
erheblicher Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird.
Die in der Form der Teilbaugenehmigung, vgl. § 76 der Bauordnung für das Land
Nordrhein-Westfalen (BauO NRW), getroffene bauaufsichtliche Erlaubnis dürfte sich zu
Lasten der Antragsteller als rechtswidrig erweisen. Dem liegen folgende Erwägungen
tatsächlicher und rechtlicher Art zu Grunde:
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Die Antragsteller sind Eigentümer eines im Zentrum der Stadt I. gelegenen Grundstücks,
das mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaut ist. Es liegt an der Ecke I1.---straße
/L1.------gasse und wird im rückwärtigen Bereich rechtwinklig vom Vorhabengrundstück
umschlossen, auf dem die Beigeladene im Zuge eines Neubaus der L. an beiden Seiten
der gemeinsamen Nachbargrenze eine grenzständige Bebauung vornimmt. Die
Außenwände des Vorhabens übersteigen das Walmdach des Wohn- und
Geschäftshauses der Antragsteller (Firsthöhe: 11,45 m) und sind Bestandteil eines
massiven Baukörpers mit Flachdachkonstruktion, der eine Höhe von ca. 18 m erreicht.
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Vor diesem Hintergrund streiten die Beteiligten im vorliegenden Verfahren, wie schon in
zahlreichen vorausgegangenen Eilverfahren (VG Aachen - 3 L 289/05 -, - 3 L 35/06 -, - 3
L 36/06 -, - 3 L 140/06 -, - 3 L 201/06 -, - 3 L 202/06 -, - 3 L 258/06 -, - 3 L 353/06 -) u.a.
darüber, ob, was in der Tat zweifelhaft erscheint, die vom Antragsgegner für die
Bebauung an der Grenze erteilten Baugenehmigungen noch dem Gebot der
Rücksichtnahme entsprechen oder aber eine Bebauung mit "erdrückender Wirkung"
zulassen, die mit den Nachbarrechten der Antragsteller nicht mehr vereinbar ist. In
einem von der angerufenen Kammer durchgeführten Erörterungstermin vom 11. August
2005 - 3 L 289/05 - hat der Antragsgegner mit Blick auf diese Problematik die sofortige
Vollziehung der ursprünglich erteilten Baugenehmigung ausgesetzt; später hat die
Beigeladene auf die Ausnutzung der damaligen Baugenehmigung verzichtet.
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Nunmehr soll das Vorhaben hinsichtlich der zum Nachbargrundstück der Antragsteller
gewandten Außenwände, grob beschrieben, mit größeren Betonflächen in den unteren
und einer terrassenartigen Gestaltung (Staffelgeschoss) mit Glasfassaden in den oberen
(Außen-) Wandbereichen errichtet werden. Die dazu geschaffene neue
Genehmigungslage zeichnet sich dadurch aus, dass die strittige Bebauung zum
Antragstellergrundstück hin nicht mehr einheitlich, sondern durch zwei unterschiedliche
Teilbaugenehmigungen (Nummern 8 und 9) geregelt werden soll. Dabei betrifft,
wiederum nur grob beschrieben, die hier angegriffene 8. Teilbaugenehmigung im
Wesentlichen den "Betonbereich" der beiden Außenwände und die im Parallelverfahren
- 3 L 543/06 - angegriffene 9. Teilbaugenehmigung den höher liegenden "Glasbereich".
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Durch diese Aufsplittung der Genehmigungsgegenstände ist aber ein
nachbarrechtsrelevanter Mangel entstanden, auf den es voraussichtlich im
Hauptsacheverfahren ankommen dürfte. Es entspricht nämlich anerkannten Rechts,
dass eine (Teil-)Baugenehmigung auf die Klage eines betroffenen Nachbarn
aufzuheben ist, wenn sie unter Verstoß gegen § 37 Abs. 1 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW)
unbestimmt ist und sich die Unbestimmtheit gerade auf solche Merkmale des Vorhabens
bezieht, deren genaue Festlegung erforderlich ist, um eine Verletzung solcher
Rechtsvorschriften auszuschließen, die auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen
bestimmt sind.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Urteil vom 13. Mai 1994 - 10 A 1025/90 -,
juris.
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Das ist hier der Fall. Die Genehmigungslage ist durch die Erteilung zweier
Teilbaugenehmigungen hinsichtlich des Gebots der nachbarlichen Rücksichtnahme
unvollständig und damit unbestimmt geblieben. Es fehlt an einer aussagekräftigen
bauaufsichtlichen Zulassungsentscheidung über den Gesamtkomplex der
Grenzbebauung und dessen Nachbarverträglichkeit im Hinblick auf die nach der
konkreten Bauausführung zu bewertende "erdrückende Wirkung" des Vorhabens.
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Im Einzelfall ist ein Vorhaben nach Maßgabe des § 34 Abs. 1 BauGB im - hier
gegebenen - unbeplanten Innenbereich wegen seiner erdrückenden Wirkung mit dem
Gebot der Rücksichtnahme nicht vereinbar, wenn ein durch seine Ausmaße (Breite
und/oder Höhe) und Gestaltung als außergewöhnlich zu qualifizierender Baukörper den
Bewohnern eines Nachbargrundstücks den Eindruck des "Eingemauertseins" vermittelt.
Maßgeblich ist insoweit die konkrete städtebauliche Situation, infolge derer ein
Nachbargrundstück durch das Bauvorhaben wegen seines Volumens, Standorts oder
seiner Gestaltung unzumutbar beeinträchtigt wird.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. November 2003 - 7 B 1575/03 -,
Rechtsprechungsdatenbank NRWE: www.nrwe.de , m.w.N.
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Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme zur Vermeidung des
"Eingemauertseins" stellt, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des
konkreten Falles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist,
dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr
kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit
dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das
Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Juni 1994 - 10 B 2923/94 -, Nordrhein-Westfälische
Verwaltungs- blätter (NWVBl.) 1994, 421 m.w.N.
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Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles
wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem
Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach
Lage der Dinge zuzumuten ist. Maßgeblich ist, ob die baulichen Dimensionen des
"erdrückenden" Gebäudes auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalles derart
übermächtig sind, dass das "erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch
überwiegend wie eine von einem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne
eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird, oder das Bauvorhaben das
Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, mithin dort ein Gefühl des "Eingemauertseins"
oder eine "Gefängnishofsituation" hervorruft.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. August. 2005 - 10 A 3138/02 -, juris.
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Gemessen an diesen materiellrechtlichen Vorgaben, hätte der Antragsgegner die von
der Beigeladenen nach dem Verzicht auf eine einheitliche Baugenehmigung
beantragten Teilbaugenehmigungen für die in Rede stehende Bebauung an der Grenze
schon vom verfahrensrechtlichen Ansatz her nicht erteilen dürfen. Die zur Einhaltung
des Rücksichtsnahmegebotes zu Gunsten der Nachbarn erforderliche
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Gesamtbetrachtung und Würdigung der Grenzbebauung, bleibt bei der Erteilung einer
auf bestimmte Bauteile beschränkten Teilbaugenehmigung naturgemäß auf der Strecke.
Dabei übersieht die Kammer nicht, dass eine Teilbaugenehmigung neben dem
gestattenden Teil auch einen feststellenden Ausspruch enthält, der über die
Feststellung der Zulässigkeit der zugelassenen Teilbauarbeiten hinaus auch eine
Aussage über die grundsätzliche Zulässigkeit des Gesamtvorhabens beinhaltet.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. April 1996 - 11 B 523/96 -, juris.
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Dieses mit der Teilbaugenehmigung verbundene "positive Gesamturteil" ist aber
regelmäßig, so auch hier, nicht hinreichend konkret genug, um eine Rücksichtslosigkeit
des Bauvorhabens mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Eine Einhaltung des
Rücksichtnahmegebotes "für bestimmte Bauteile" gibt es nicht. Es kommt aus der
insoweit maßgeblichen Sicht des betroffenen Grundstücksnachbarn auf den
beabsichtigten Gesamtkomplex an der gemeinsamen Grenze an.
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Abgesehen davon spricht Überwiegendes dafür, dass die erteilte Teilbaugenehmigung
Nr. 8 die Antragsteller auch in ihrem Baunachbarrecht auf Einhaltung der in § 6 BauO
NRW vorgeschriebenen Abstandflächen verletzt, weil der Antragsgegner an der
gemeinsamen Grundstücksgrenze in der L1.------gasse eine grenzständige Bebauung
zugelassen hat.
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Entgegen seiner Auffassung dürfte die Einhaltung einer Abstandfläche nicht etwa nach
§ 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW entbehrlich sein. Diese Vorschrift greift nur
ein, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften ein Gebäude ohne Grenzabstand
gebaut werden "muss", weil die geschlossene Bauweise im Sinne des § 22 der
Baunutzungsverordnung (BauNVO) festgesetzt ist oder tatsächlich besteht. Eine
entsprechende Festsetzung liegt hier nicht vor. Eine faktische Grenzbebauung, die im
Sinne der Vorschrift das Vorhabengrundstück in der Weise prägt, dass die bauliche
Ausnutzung auch dort einzig und allein durch Grenzbebauung erfolgen muss, mithin die
offene Bauweise planungsrechtlich unzulässig ist, gilt für die I1.--- straße , nicht aber
nach summarischer Prüfung für die hier in Rede stehende L1.------ gasse . Der
Baubestand an dieser Straße ist in der näheren Umgebung (§ 34 Abs. 1 BauGB) gerade
nicht durch eine homogene geschlossene Bauweise geprägt mit der Folge, dass es der
Beigeladenen, selbst wenn sie dies gewollt hätte, verwehrt gewesen wäre, in offener
Bauweise (mit Abstandflächen) zu bauen.
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Ist danach eine geschlossene Bauweise im Bereich der L1.------gasse nicht als
zwingend vorgeschrieben anzusehen, wäre die grenzständige Errichtung des
Vorhabens dort nur unter den Voraussetzungen des Buchstabens b) des § 6 Abs. 1 Satz
2 BauO NRW zulässig. Nach dieser Regelung ist innerhalb der überbaubaren
Grundstücksflächen eine Abstandfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an der
Nachbargrenze errichtet werden, wenn (erstens) nach planungsrechtlichen Vorschriften
das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden darf und (zweitens) öffentlich-rechtlich
gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls ohne Grenzabstand gebaut
wird.
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Die erste Voraussetzung ist als erfüllt anzusehen. Aus der Umgebungsbebauung in der
L1.------gasse lassen sich bei summarischer Prüfung keine zwingenden
planungsrechtlichen Vorgaben für eine geschlossene oder offene Bauweise
entnehmen. Planungsrechtlich "darf" also an der strittigen Grundstücksgrenze durchaus
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auch ohne Grenzabstand gebaut werden. Allerdings fehlt es erkennbar an der
Einhaltung der zweiten Voraussetzung, also einer öffentlich-rechtlich Anbausicherung,
wie sie beispielsweise durch eine entsprechende Baulast oder ein bereits vorhandenes
Gebäude auf der Nachbargrenze vermittelt werden könnte. Dass die auf dem
Grundstück der Antragsteller ursprünglich vorhandene Grenzmauer eine derartige
dauerhafte Anbausicherung nicht vermitteln konnte, bedarf angesichts ihres Einsturzes
im Zuge der Bauarbeiten auf dem Vorhabengrundstück keiner Vertiefung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3
VwGO.
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2. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2 des
Gerichtskostengesetzes (GKG) und bewertet die in der Hauptsache erhobenen
Nachbareinwendungen gegen den Erlass einer ihrem Regelungsgehalt nach nicht
unbedeutenden Teilbaugenehmigung mit 10.000,- Euro, wobei wegen des
summarischen Charakters des vorliegenden Nachbareilantrags dieser Betrag zur Hälfte
anzusetzen ist.
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