Urteil des VG Aachen vom 30.08.2004

VG Aachen: fristlose entlassung, aufschiebende wirkung, beendigung des dienstverhältnisses, vollziehung, öffentliches interesse, vorzeitige entlassung, soldat, betäubungsmittelgesetz, strafverfahren

Verwaltungsgericht Aachen, 1 L 668/04
Datum:
30.08.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 668/04
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 1 K 3385/04
erhobenen Klage gegen die Entlassungsverfügung des X. IV vom
00.00.0000 in der Fassung des Beschwerdebescheides des T. vom
00.00.0000 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 6.471,23 EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der sinngemäße Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 1 K 3385/04 erhobenen Klage
gegen die Entlassungsverfügung des X. IV vom 6. Mai 2004 in der Fassung des
Beschwerdebescheides des T. vom 00.00.0000 wiederherzustellen,
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ist begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - kann das
Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels gegen einen für
sofort vollziehbar erklärten Verwaltungsakt ganz oder teilweise wiederherstellen. Bei
seiner Entscheidung hat das Gericht - neben der Prüfung, ob die besonderen
Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 VwGO vorliegen - das öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers abzuwägen, von der
Vollziehung verschont zu bleiben. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob die angegriffene
Entscheidung offensichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig ist. An der
sofortigen Vollziehung offensichtlich rechtmäßiger Entscheidungen besteht regelmäßig,
an der sofortigen Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Entscheidungen niemals ein
öffentliches Interesse. Führt diese Überprüfung zu keinem eindeutigen Ergebnis, ist auf
Grund sonstiger, nicht nur an den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens
orientierter Gesichtspunkte abzuwägen, welches Interesse schwerer wiegt.
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Hiernach ergibt sich:
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Es bestehen schon erhebliche Zweifel, ob die erst in dem Beschwerdebescheid des
Streitkräfteunterstützungskommandos vom 22. Juni 2004 getroffene Anordnung der
sofortigen Vollziehung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt. Die in
dieser Vorschrift normierte Begründungspflicht hat den Zweck, der Behörde vor Augen
zu führen, dass die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nur
ausnahmsweise in Betracht kommt und eine Abwägung der Interessen der
Allgemeinheit mit den privaten Interessen des Betroffenen erfordert. Dies gilt umso mehr
bei der Fallgestaltung des § 55 Abs. 5 des Soldatengesetzes (SG), wonach ein Soldat
auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden kann, wenn er
seine Dienstpflichten verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die
militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde.
Verfügt der Dienstherr - gestützt auf § 55 Abs. 5 SG - keine "normale", sondern eine
fristlose Entlassung und ordnet er zusätzlich die sofortige Vollziehung an, muss er das
besondere Interesse an dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines
Rechtsbehelfs deutlich machen. Dieses Interesse folgt nicht schon aus demjenigen,
welches zu der Entlassungsverfügung geführt hat, sondern muss darüber hinausgehen.
Der Zweck des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO wird insbesondere dann nicht erreicht, wenn
sich die Begründung in einer bloßen Wiederholung des Gesetzeswortlauts oder in
allgemeinen Formeln erschöpft. Vgl. zu letzterem: Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 9. Januar 1996 - 6 B 3298/95 -.
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Gemessen an diesen Maßstäben enthält die in dem Beschwerdebescheid vom 22. Juni
2004 genannte Begründung zunächst die Leerformel, dass "diese Maßnahme (d. h. die
Anordnung der sofortigen Vollziehung) im öffentlichen und im Interesse des
Bundeswehr dringend geboten ist, weil die verfügte vorzeitige Entlassung ........ keinen
Aufschub duldet". Allein der Hinweis auf das öffentliche Interesse führt nicht weiter, weil
letzteres nicht näher definiert wird. Erst mit dem weiteren Satz, dass "es mit den
Aufgaben der Bundeswehr nicht vereinbar ist, Zeitsoldaten, die durch den Genuss von
Betäubungsmitteln den Kernbereich ihrer Pflichten verletzt haben, auch nur
vorübergehend im Dienst zu belassen", wird ansatzweise aufgezeigt, worin das
Interesse der Bundeswehr besteht. Allerdings werden weder die "Aufgaben der
Bundeswehr" genannt noch wird eine Begründung dafür gegeben, warum Zeitsoldaten
durch den Genuss von Betäubungsmitteln (in ihrer Freizeit) den "Kernbereich ihrer
Pflichten" verletzen. Nur der abschließende Satz, "(ohne die Anordnung der sofortigen
Vollziehung) würde bei anderen Soldaten der Eindruck erweckt, gleichartige
Dienstvergehen würden nicht geahndet werden", ist nachvollziehbar. Damit verweist
das Streitkräfteunterstützungskommando auf den Nachahmungseffekt, der allerdings
dadurch wieder eingeschränkt sein dürfte, dass der betreffende Soldat jedenfalls nach
Bestandskraft der Entlassungsverfügung aus dem Dienst ausscheidet.
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Die Bedenken hinsichtlich der notwendigen Begründung sind jedoch nicht weiter zu
vertiefen, weil die Interessenabwägung ergibt, dass derzeit das Interesse des
Antragstellers, von der Vollziehung verschont zu bleiben, das Interesse der
Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung überwiegt, und deshalb dem Antrag
stattzugeben ist.
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Zunächst lässt sich nicht feststellen, dass die Entlassungsverfügung offensichtlich
rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig ist. Insoweit ist maßgeblich, dass die
fristlose Entlassung eines Soldaten auf Zeit gemäß § 55 Abs. 5 SG eine
Ermessensentscheidung ist. Ungeachtet der in der Entlassungsverfügung und dem
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Beschwerdebescheid genannten Gründe für das Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG, die sich im Übrigen mit der
Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte decken und nicht zu beanstanden sind,
vgl. dazu: Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 15. März 2000 - 2 B
98.99 -, NVwZ 2000 S. 1186,
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fehlen in der Entlassungsverfügung jegliche Ermessensgründe, während der
Beschwerdebescheid immerhin in einem Absatz Ausführungen enthält, die - ohne
Gebrauch des Wortes "Ermessen" - darauf hindeuten, dass eine
Ermessensentscheidung getroffen werden sollte. Geht man davon aus, dass die in dem
letzten Absatz auf Seite 4 des Beschwerdebescheides genannten Gründe
Ermessensüberlegungen enthalten, dürften sie jedoch für eine ermessensfehlerfreie
Entscheidung nicht ausreichen. Insoweit fehlt es nämlich an jeglicher
Auseinandersetzung mit der Schwere der Dienstpflichtverletzung durch den
Antragsteller. Insbesondere hat die Antragsgegnerin nicht berücksichtigt, dass das
Strafverfahren sowohl hinsichtlich des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz
als auch wegen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB eingestellt worden ist. In
diesen Rahmen ist auch das toxikologische Gutachten einzuführen, nach welchem nicht
festgestellt werden konnte, dass Anhaltspunkte für einen dauerhaften und
gewohnheitsmäßigen Cannabis-Konsum des Antragstellers vorliegen. Ebenso wenig
sind die bisherige untadelige Diensterfüllung durch den Antragsteller und der Umstand,
dass seine Dienstpflichtverletzung knapp vor Ablauf der Vierjahresfrist nach § 55 Abs. 5
SG erfolgt ist, erkennbar in die Ermessensentscheidung eingeflossen. All dies hat die
Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung indes zu berücksichtigen. Die fristlose
Entlassung als die sofortige Beendigung des Dienstverhältnisses ist nur gerechtfertigt,
wenn alle maßgebliche Gesichtspunkte in die Entscheidung eingeflossen und - im
Wege des Ermessens - gewichtet worden sind.
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Diese Einbeziehung der genannten Gründe und deren Gewichtung für die Entscheidung
über eine fristlose Entlassung des Antragstellers hat die Antragsgegnerin nachzuholen,
wobei das Ergebnis aus Sicht der Kammer offen ist. Hieraus folgt jedoch unmittelbar,
dass derzeit die Abwägung der widerstreitenden Interessen zugunsten des
Antragstellers ausfällt und die aufschiebende Wirkung seiner Klage wiederherzustellen
ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt
sich aus §§ 52 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2, 53 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes und
berücksichtigt das Endgrundgehalt des Antragstellers nach der Besoldungsgruppe A 6.
Wegen des vorläufigen Charakters der Entscheidung setzt die Kammer in ständiger
Sprechpraxis jeweils die Hälfte des im Hauptsacheverfahren anfallenden Betrages fest.
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