Urteil des VG Aachen vom 29.05.2002

VG Aachen: überwiegendes interesse, aufbewahrung, wiederholungsgefahr, betäubungsmittelgesetz, erzieher, ermittlungsverfahren, daten, drogenabhängigkeit, delikt, haschisch

Verwaltungsgericht Aachen, 6 K 31/99
Datum:
29.05.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 31/99
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 21.
September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der
Bezirksregierung L. vom 30. November 1998 verpflichtet, die über den
Kläger gefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen zu vernichten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar.
T a t b e s t a n d:
1
Der Kläger begehrt die Vernichtung über ihn angefertigter erkennungsdienstlicher
Unterlagen.
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Am 31. Januar 1998 wurde der Kläger vor einer Diskothek in B. von Polizeibeamten
angetroffen, als er insgesamt etwa sechs Gramm Haschisch bzw. Haschisch-Tabak-
Gemisch, etwa ein Gramm der Droge "PEP" und eine halbe Ecstasy-Pille bei sich trug.
Im Rahmen des gegen ihn daraufhin wegen unerlaubten Besitzes von
Betäubungsmitteln eingeleiteten Ermittlungsverfahrens kam es am 24. März 1998 zu
einer erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers. Es wurden Lichtbilder gefertigt
und Fingerabdrücke genommen. Die erkennungsdienstlichen Unterlagen wurden in die
von der Polizei geführten "kriminalpolizeilichen personenbezogenen Sammlungen"
aufgenommen.
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Mit Schriftsatz vom 29. Juli 1998 beantragte der Kläger, nachdem das
Ermittlungsverfahren gemäß § 153 a StPO gegen die Zahlung eines Geldbetrages in
Höhe von 400,-- DM eingestellt worden war, die Vernichtung der
erkennungsdienstlichen Unterlagen.
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Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21. September 1998 ab. Zur
Begründung führte er im Wesentlichen aus, aufgrund des vom Kläger bisher gezeigten
Verhaltens, namentlich wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und
eines früher gegen ihn anhängigen Ermittlungsverfahrens wegen fahrlässiger
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Straßenverkehrsgefährdung, sei nach kriminalistischer Erfahrung von einer
Wiederholungsgefahr auszugehen. Die Daten seien daher aus präventiv-polizeilichen
Erwägungen heraus bis zum Ablauf der üblichen Aussonderungsfrist von zehn Jahren
weiter zu speichern.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit anwaltlichem Schriftsatz vom 8. Oktober
1998 Widerspruch ein, zu dessen Begründung er erneut darauf hinwies, dass das
Ermittlungsverfahren inzwischen eingestellt worden sei.
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Die Bezirksregierung L. wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.
November 1998 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen
aus, die Daten seien weiter zu speichern, weil im Fall des Klägers von einer
Wiederholungsgefahr auszugehen sei.
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Der Kläger hat rechtzeitig Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen
darauf verweist, dass er vorher nie einschlägig aufgefallen sei. Überdies sei sein
persönlicher Werdegang zu berücksichtigen. Seit 1998 sei er staatlich anerkannter
Erzieher und habe seitdem weitere Ausbildungen zum Sozialtherapeuten und zum
psychologischen Berater erfolgreich abgeschlossen. Weiter sei er als Erzieher in einer
Außenwohngruppe für Jugendliche und in einem Kinder- und Jugendheim tätig
gewesen. Seit Januar 2002 sei er bei der "X e.V." als Betriebssozialarbeiter tätig und
seit März 2002 sei er Leiter der Betriebssozialarbeit. Zur Zeit bereite er sich auf die
Zulassung zum Psychotherapeuten vor. Eine weitere Speicherung seiner Daten stelle
vor diesem Hintergrund einen erheblichen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht dar.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 21. September 1998 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung L. vom 30. November 1998
zu verpflichten, die über ihn gefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen zu
vernichten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen. Zur Begründung seines Klageabweisungsantrages nimmt der
Beklagte Bezug auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide. Ergänzend weist er darauf
hin, dass eine Wiederholungsgefahr gerade in Fällen des Betäubungsmittelmissbrauchs
sehr hoch sei.
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Durch Beschluss vom 7. März 2002 hat die Kammer den Rechtsstreit dem
Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der beigezogenen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft B. (- 89 VRs
965.3/93-) und der Staatsanwaltschaft B1. (-32 Js 456/98-) sowie des beigezogenen
Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Beklagten vom 21. September 1998 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung L. vom 30. November 1998 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1
Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Im maßgeblichen Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung hat der Kläger gegen den Beklagten einen Anspruch auf
Vernichtung der über ihn gefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen.
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Die Voraussetzungen des öffentlich-rechtlichen allgemeinen
Folgenbeseitigungsanspruches als Anspruchsgrundlage für die Vernichtung der
erkennungsdienstlichen Unterlagen sind erfüllt. Denn § 81 b 2. Alt. der
Strafprozessordnung (StPO), der grundsätzlich eine geeignete Ermächtigungsgrundlage
für die Anfertigung und Aufbewahrung erkennungsdienstlichen Materials darstellt,
rechtfertigt die weitere Aufbewahrung der über den Kläger gefertigten Unterlagen nicht
mehr, weil ihr weiteres Vorhalten für Zwecke des Erkennungsdienstes nicht mehr
notwendig ist.
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Hinsichtlich des für die Beurteilung der "Notwendigkeit der Aufbewahrung"
anzuwendenden Maßstabes hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen (OVG NRW) mit Urteil vom 28. März 1995 -5 A 1171/94- ausgeführt:
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"Die Notwendigkeit der Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen bemisst sich
danach, ob der Sachverhalt, der anlässlich gegen den Betroffenen gerichteter
Ermittlungs- und Strafverfahren festgestellt worden ist, nach kriminalistischer Erfahrung
angesichts aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere angesichts der Art, Schwere
und Begehungsweise der dem Betroffenen zur Last gelegten Straftaten, seiner
Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er
strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist, Anhaltspunkte für die Annahme
bietet, dass der Betroffene künftig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis
potenzieller Beteiligter an einer strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und
dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen
fördern könnten, indem sie den Betroffenen überführen oder entlasten.
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BVerwG, Beschluss vom 6. Juli 1988 -1 B 61.88-, Buchholz 306, § 81 b StPO Nr. 1.
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Dies läuft auf eine Abwägung zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an einer
effektiven Verhinderung und Aufklärung von Straftaten und dem Interesse des
Betroffenen hinaus, entsprechend dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht bereits
deshalb als potenzieller Rechtsbrecher behandelt zu werden, weil er sich irgendwie
verdächtig gemacht hat oder angezeigt worden ist. Im Rahmen der Abwägung ist
insbesondere danach zu differenzieren, in welchem Umfang noch Verdachtsmomente
gegen den Betroffenen bestehen. Sind die für das Ermittlungsverfahren bestimmenden
Verdachtsmomente ausgeräumt, ist eine weitere Aufbewahrung der
erkennungsdienstlichen Unterlagen nicht mehr notwendig i.S.d. § 81 b 2. Alt. StPO. Ist
das nicht der Fall, kommt es entscheidend darauf an, welcher Art das Delikt ist, auf das
sich die verbliebenen Verdachtsmomente beziehen. Je schwerer ein Delikt wiegt, je
höher der Schaden für die geschützten Rechtsgüter und die Allgemeinheit zu
veranschlagen ist, desto mehr Gewicht erlangt das oben beschriebene öffentliche
Interesse.
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Vgl. Senatsurteil vom 25. Juni 1991, 5 A 1257/90, und vom 29. November 1994, 5 A
2234/93.",
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vgl. hierzu zudem: OVG NRW, Beschlüsse vom 24. November 1999 -5 B 1785/99-, und
vom 13. Januar 1999 -5 B 2562/98-, NWVBl. 1999, 257.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier ein überwiegendes Interesse des Klägers
an der Vernichtung der erkennungsdienstlichen Unterlagen zu bejahen.
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Die Schwere des Deliktes, das Gegenstand des gegen den Kläger geführten und später
eingestellten Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft B1. gewesen ist, der seitdem
verstrichene Zeitraum sowie die persönliche Entwicklung, die der Kläger inzwischen
genommen hat, lassen es zu, ihm nunmehr eine günstige Prognose zu stellen.
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Dabei ist dem Beklagten zunächst zuzugeben, dass der dem Kläger zur Last gelegte
unerlaubte Besitz von Betäubungsmitteln grundsätzlich geeignet ist, eine
Wiederholungsgefahr im hier relevanten Sinne anzunehmen. Denn nach der
kriminalistischen Erfahrung zeigt sich -wie die Ausführungen des in der mündlichen
Verhandlung hierzu angehörten Kriminalhauptkommissars N. bestätigt haben- gerade in
diesem Deliktsbereich, in dem der Konsum von Betäubungsmitteln häufig mit einer
entsprechenden Drogenabhängigkeit einhergeht, eine signifikant hohe Rückfallquote.
Grundsätzlich ist es daher nicht zu beanstanden, bei einem Drogenkonsumenten zu
befürchten, er werde auch künftig wieder mit Betäubungsmittelstraftaten in Berührung
kommen. Dies gilt erst recht für gewerbsmäßige oder auch nur gelegentliche
Drogenhändler. Ein derartiger Vorwurf ist dem Kläger, bei dem es im Übrigen weder
früher noch heute Anhaltspunkte für eine bestehende Drogenabhängigkeit gegeben hat,
hingegen nicht gemacht worden. Bei ihm wurden "lediglich" für den Eigenverbrauch
bestimmte Mengen von Cannabisprodukten und Amphetaminen gefunden. Dieser
Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz zeigt sich beim Kläger als einmaliger
Vorgang. Er ist weder vorher noch nachher entsprechend aufgefallen. Der hierzu in
keinerlei Zusammenhang stehende, aus dem Jahre 1993 herrührende
Fahrlässigkeitsvorwurf aus dem Bereich der Verkehrsdelikte ist im vorliegenden
Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Gewichtiger ist dagegen der Umstand,
dass der Kläger in dem zurückliegenden Zeitraum von inzwischen nahezu 4 ½ Jahren
nicht nur in keiner Weise mehr auffällig geworden ist, sondern zudem eine
bemerkenswerte persönliche Entwicklung genommen hat. Er hat sich kontinuierlich und
zielstrebig weiterentwickelt. Sein beruflicher Werdegang ist dadurch gekennzeichnet,
dass er sich in zunehmendem Maße und mit wachsender Verantwortung mit den
Problemen anderer, zumeist junger Menschen auseinandergesetzt und ihnen
Hilfestellungen gegeben hat. Derartige Aufgaben hat er bereits als psychologischer
Berater und als Sozialtherapeut wahrgenommen. Als Erzieher in einer
Außenwohngruppe für Jugendliche und in einem Kinder- und Jugendheim hat er sich in
verantwortlicher Position mit typischen Problemen Jugendlicher beschäftigen müssen.
Inzwischen leitet er die Betriebssozialarbeit der "X. e.V.", eines in der Trägerschaft der
E. B1. stehenden gemeinnützigen Vereins, sogar eigenverantwortlich. Dass der Kläger
über seine eigene Vergangenheit, zu der untrennbar auch sein Drogenkonsum gehört,
intensiv reflektiert, zeigt der Umstand, dass er sich zur Vorbereitung auf die Zulassung
zum Psychotherapeuten freiwillig einer eigenen Psychotherapie als sog. Lehranalyse
unterzieht, die um ein Vielfaches zeitaufwendiger und intensiver ist, als dies für die
begehrte Zulassung gefordert ist.
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Keiner der aufgeführten Gesichtspunkte mag für sich genommen geeignet erscheinen,
die bei einem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz grundsätzlich anzunehmende
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Wiederholungsgefahr auszuschließen. In der hier vorzunehmenden Gesamtbetrachtung
ist es nach Auffassung der Kammer aber bei Würdigung aller maßgeblichen Umstände
gerechtfertigt, dem Kläger eine günstige Prognose zu stellen. Der Kläger hat unter
Beweis gestellt, dass er sich von seinem Fehlverhalten schon früh distanziert hat und
bereit ist, die in diesem Zusammenhang gewonnene Lebenserfahrung nunmehr in
verantwortlicher Position gewinnbringend zugunsten Anderer einzusetzen. Insgesamt
lassen die Umstände den Schluss zu, dass beim Kläger eine spürbare positive
Entwicklung eingesetzt hat und noch andauert. Eine Notwendigkeit der weiteren
Aufbewahrung der über den Kläger gefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen
besteht daher vor diesem Hintergrund nicht mehr. Bei der vorzunehmenden
Interessenabwägung kommt den Belangen des Klägers gegenüber dem öffentlichen
Interesse ein stärkeres Gewicht zu. Der mit der vorliegenden Klage verfolgte Anspruch
auf Vernichtung der Unterlagen besteht daher, weshalb der Klage insgesamt
stattzugeben ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über ihre
vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der
Zivilprozessordnung (ZPO).
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