Urteil des VG Aachen vom 12.05.2004

VG Aachen: schutz der familie, trennung, lebensgemeinschaft, aufenthalt, duldung, abschiebung, ausreise, kleinkind, alter, unmöglichkeit

Verwaltungsgericht Aachen, 8 L 354/04
Datum:
12.05.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 L 354/04
Tenor:
1. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
vorläufig untersagt, die Antragstellerinnen abzuschieben.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf EUR 2.000,- festgesetzt.
Gründe:
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1. Der Antrag der Antragstellerinnen,
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dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vorläufig zu untersagen, sie abzuschieben,
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hat Erfolg. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn der
Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln
zusteht (Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch gefährdet ist und durch vorläufige
Maßnahmen gesichert werden muss (Anordnungsgrund).
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Den - vollziehbar ausreispflichtigen - Antragstellerinnen steht zunächst ein
Anordnungsgrund zur Seite, denn der Antragsgegner verweigert ihnen die Verlängerung
der Duldung und beabsichtigt, sie zeitnah abzuschieben. Sie können auch einen
Anordnungsanspruch geltend machen, denn sie haben das Vorliegen eines
Duldungsgrundes gemäß § 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes (AuslG) - rechtliche und
tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung - (ggf. i.V.m. § 55 Abs. 4 AuslG) glaubhaft
gemacht. Die Antragstellerinnen können die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2
AuslG i.V.m. Art. 6 des Grundgesetzes (GG) begehren. Es ist ihnen aktuell nicht
zuzumuten, ihre familiären Beziehungen durch eine Ausreise zu unterbrechen. Die in
Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der
der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde,
bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiäre Bindung
des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise
im Bundesgebiet aufhalten, bei ihrer Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h.
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entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen angemessen zur
Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der
Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechtes aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m.
Abs. 2 GG. Bei der erforderlichen Abwägung aller für und gegen den weiteren Aufenthalt
sprechenden Gesichtspunkte kommt es unter Berücksichtigung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unter anderem darauf an, ob die Folgen der
Beendigung des Aufenthalts im Hinblick auf die schutzwürdigen familiären Verhältnisse
nicht hinnehmbar sind.
vgl. nur Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 21. Mai 2003 - 1 BvR
90/03 -, NJW 2003, 3547 und vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 901/95 -, DVBl. 1996,195;
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 27. August 1996 - 1 C 8.94 -, BVerwGE
102, 12ff.; 3155 sowie OVG NRW, Beschlüsse vom 27 Juni 2000 - 19 B 1685/99- und
vom 11. Februar 2004 - 19 B 2146/03 -.
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Die Folgen einer Trennung der am 3. Mai 2003 geborenen Antragstellerin zu 2. von
ihrem leiblichen Vater, mit dem sie in familiärer und häuslicher Lebensgemeinschaft
lebt, sind nicht mehr hinnehmbar. Die Antragstellerin zu 2. ist als Kleinkind in
besonderem Maße auf die Anwesenheit und Betreuung beider Elternteile angewiesen.
Eine - wie hier - ihrer Dauer nach nicht absehbare Trennung von einem ihrer Elternteile
ist vor dem Hintergrund der gerade in diesem Alter schnell voranschreitenden
Entwicklung als unverhältnismäßig anzusehen. Dem Vater der Antragstellerin zu 2.
kann derzeit auch nicht angesonnen werden, mit seiner Tochter (und ggf. deren Mutter,
der Antragstellerin zu 1.) das Bundesgebiet zu verlassen, um in dem gemeinsamen
Heimatland die familiäre Lebensgemeinschaft fortzuführen. Er hält sich bis zum
Abschluss seines Asylerstverfahrens gestattet und damit jedenfalls nicht unerlaubt im
Bundesgebiet auf. Da der Antragstellerin zu 2. aufgrund ihrer Beziehung zu ihrem Vater
ein Verlassen des Bundesgebiets - derzeit - nicht zugemutet werden kann, kommt auch
eine Abschiebung ihrer Mutter, der Antragstellerin zu 1., unter dem Blickwinkel des Art. 6
GG nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO.
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2. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes in Höhe eines Viertels des
Auffangstreitwerts je Antragstellerin beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Sätze 1 und 2
des Gerichtskostengesetzes (GKG). Mit Rücksicht auf den einstweiligen Charakter des
vorliegenden Verfahrens erscheint das Antragsinteresse in der bestimmten Höhe
ausreichend und angemessen berücksichtigt.
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