Urteil des VG Aachen vom 25.08.2009

VG Aachen (anhaltende somatoforme schmerzstörung, behinderung, erlass, somatoforme schmerzstörung, grad, behandlung, beurteilung, bewilligung, icd, akten)

Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 891/07
Datum:
25.08.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 891/07
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 11. Juli
2007 und des Widerspruchsbescheides des Landrats des Kreises B.
vom 16. August 2007 verpflichtet, der Klägerin die Parkerleichterung für
schwerbehinderte Menschen außerhalb der "aG"-Regelung gemäß
Erlass des Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und
Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 4. September 2001 zu
bewilligen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d
1
Die am 15. März 1962 geborene Klägerin erhielt bereits mit Bescheid des (damaligen)
Versorgungsamtes B. vom 17. März 1992 ab Antragstellung, d. h. ab 11. Oktober 1991,
einen Grad der Behinderung (GdB) von 80, verbunden mit dem Merkzeichen "G"
(erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) zuerkannt.
Dieser Grad der Behinderung sowie das Merkzeichen "G" wurden nach Prüfung eines
Änderungsantrags im Oktober 1993 bestätigt.
2
Im Zuge eines weiteren Änderungsantrags von Januar 2005 holte das (damalige)
Versorgungsamt B. umfangreiche ärztliche und fachärztliche Stellungnahmen ein. In
einer ausführlichen Äußerung des Facharztes für Psychiatrie H. L. T. , X. , vom 17.
Januar 2005 heißt es (auszugsweise):
3
"Wichtige anamnestische Daten und geäußerte Beschwerden: Frau D. ist mir seit dem
19.11.01 bekannt und befindet sich bereits seit dem 01.04.1996 in regelmäßiger
neurologisch-psychiatrischer Behandlung.
4
Eigenanamnestisch befand Frau D. sich von November 1999 an in einer ambulant nach
den Therapierichtlinien durchgeführten Psychotherapie bei Frau Dr. med. S. , wegen
chronischer Angstzustände, die sie versuchte mit Alkohol zu reduzieren. Zustand nach
Suizidversuch im Rahmen der chronischen Angstzustände, den sie mit multiplen
Frakturen am gesamten Achsenskelett (Wirbelsäule, Becken, Kniegelenke und
Fersenbein sowie Füße) überlebte und deren Krankheitsfolgen sie heute im Sinne einer
mittelschweren körperlichen Behinderung weiterhin belasten.
5
Frau C. wurde wegen eines Alkoholentzugsdelirs im Rahmen einer erneuten Alkohol-
und Tablettenintoxikation (Vioxx und Aponal) bei einer inzwischen manifesten
Alkoholabhängigkeit von 24.04.04 bis zum 27.04.04 im MZ Bardenberg behandelt.
Zudem besteht eine Steatosis hepatis bei Zustand nach Leberriss. Infolge des ersten
Suizidversuches habe sie postoperativ weiterhin sehr starke sowohl in Ruhe als auch
unter Belastung auftretende Schmerzen, die sie auch daran hindern, einer
Berufstätigkeit nachzugehen.
6
Frau C. leidet seit Jahrzehnten unter einer, sich während einer Broken-home-Kindheit
entwickelten Angststörung, die auch ihr Selbstwertgefühl und -bewusstsein sehr negativ
bis heute beeinflusst hat. Insbesondere die plötzlich auch unter Menschansammlungen
oder in geschlossenen Gebäuden auftretenden Paniksymtome wie Herzrasen,
Herzklopfen bis in den Hals, Schweißausbrüche am ganzen Körper, Zittern aller
Extremitäten, Schwindel und Benommenheit, belasten sie heute sehr. Dazu ist sie von
sich selbst enttäuscht, insbesondere von der Tatsache, dass sie gegenüber Dritten und
nahen Angehörigen zu nachgiebig sei, nicht durchsetzungsfähig hinsichtlich der
eigenen Bedürfnisse, negative Gedanken bis zum Nihilismus und konkreten
wiederholten Suizidversuchen. Infolge des subjektiv so hohen Leidensdruckes, der
auch fremdanamnestisch bestätigt wurde, ist Frau C. verzweifelt und stellt sie sich
immer wider die Sinnfrage. Dies steht auch im direkten Zusammenhang mit dem als
Entlastungsmittel und als einen Selbstbehandlungsversuch darstellenden
Alkoholkonsum, den sie aber nicht im Sinne eines kontrollierten Trinkens aufgeben
konnte. Infolge einer tiefen persönlichen Beschämung, andere hinsichtlich ihrer
Lebensführung enttäuscht zu haben, habe sie auch selten die ambulanten Sucht- und
Nachsorgegruppen aufgesucht.
7
Diagnosen:
8
1. Kombinierte Persönlichkeitsstörung mit besonders im Vordergrund stehenden
asthenischen und ängstlich-vermeidenden Zügen (ICD-10:F 61 G) 2. Chronisch
verlaufende generalisierte Angststörung (ICD-10:F 41.0 G) 3. Agoraphobie mit
Panikstörung (ICD-10:F 40.01 G) 4. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-
10:F 45.5 G)
9
Epikrise und Therapieempfehlungen:
10
1. Seit Jahren erfolgen wiederholte Kriseninterventionen. 2. Vermittlung eines
modifizierten Modells zum Verständnis des eigenen Beschwerdebildes. 3. Anregung zu
modifizierten situativ angemessenen Bewältigungsstrategien auf der Basis der
systemischen und VT. 4. Medikamentös erfolgte eine anxiolytisch und antidepressive
Behandlung mit Opipramol, z. B. Insidon 100 FTA in einer Dosierung von 25-0-25-0-100
mg. 5. Es erfolgte eine Aufklärung über die Nebenwirkungen sowie die evtl.
Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit und die Notwendigkeit von internistischen
Kontrolluntersuchungen. 6. Es besteht zurzeit weiterhin Erwerbsunfähigkeit. 7. Frau C.
konnte auch die Einbindung in eine Betreuung durch den SpD annehmen. 8.
Fortsetzung der Besuche des ambulanten Such-Nachsorgesystems in wöchentlichen
Abständen."
11
Mit Bescheid des (damaligen) Versorgungsamtes B. vom 9. März 2005 wurde der Grad
der Behinderung auf 70 festgestellt. Ferner wurde (erneut) das Merkzeichen "G"
12
zuerkannt; die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" wurden
(erneut) verneint.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Im Rahmen dieses Widerspruchsverfahrens
gelangte das (damalige) Versorgungsamt B. unter dem 19. Mai 2005 zu folgender
zusammenfassenden Beurteilung:
13
1. Derzeitige Behinderung und Grad der Behinderung (GdB) 1.1. Beeinträchtigungen,
die jetzt insgesamt bestehen Einzel- (bitte einzeln aufführen, bish. Reihenfolge u.
Nummerierung ggfs. beibehalten) GdB
14
Von Seiten der psychischen Behinderung erscheint eine höhere Bewertung wegen
nachgewiesenen Alkoholkrankheit mit psychischen Veränderungen begründbar. Die
Voraussetzungen für das z. a.G liegen jedoch nicht vor. 1) Seelische Beeinträchtigung,
Schmerzstörung, toxische Behinderung 60
15
2) Funktionsbehinderung der unteren Gliedmassen 60
16
3) Funktionsbehinderung der WS 30."
17
Als Gesamt-GdB wurden nunmehr 100 zuerkannt. Die Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen wurden erneut (nur) für das Merkzeichen
"G" bejaht. Im Rahmen des Abhilfebescheides des (damaligen) Versorgungsamtes
Aachen vom 19. August 2005 wurde diese Einschätzung rückwirkend ab 10. Januar
2005 umgesetzt.
18
Mit Änderungsantrag von September 2006 verfolgte die Klägerin u. a. ihr Begehren auf
Zuerkennung des Merkzeichens "aG" weiter.
19
In diesem Zusammenhang gab der Facharzt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und
Psychotherapie Dr. med. C. U. unter dem 28. April 2006 folgende Stellungnahme ab
(auszugsweise):
20
"Anamnese: 04.04.06 Seit einer Fraktur des linken Oberschenkelhalses und des
Beckenringes nach einem Fahrradsturz im August 2005 habe sie im Beckenbereich und
Oberschenkel links dauerhaft Schmerzen. Sie könne das linke Bein nicht richtig
anheben. Seit einer Woche sei ein Schmerz im Daumen und Zeigefinger der rechten
Hand hinzugetreten, der vom Unterarm aus dorthin ziehe. Sensibilitätsstörungen werden
nicht berichtet. Seit einem Fenstersturz in suicidaler Absicht in 1991 mit multiplen
Frakturen sei das Sprunggelenk links versteift. Sie befinde sich bei Hr. T1. in
regelmäßiger ambulanter Behandlung, habe zeitweilig auch getrunken. Es erfolgt eine
schmerztherapeutische Behandlung.
21
Neurologischer Befund: Schonhinken, Hacken- und Zehengang links nicht möglich
(Sprunggelenkversteifung). Hüftbeugerschwäche von 3/5 links, Kniestreckung links 4/5.
Versteifung linkes Sprunggelenk mit fehlendem ASR Reflex und (Inaktivitäts-)Atrophie
der Unterschenkelmuskulatur. PSR links schwach auslösbar. Übrige Eigenreflexe stgl.
mittellebhaft erhältlich. Keine Sensibilitätsstörungen. Sonst Hirnnerven, Motorik,
Sensibilität, Koordination unauffällig.
22
Beurteilung: Im Vordergrund steht jetzt eine funktionell behindernde Hüftbeugerparese
23
links. Zum Teil ist diese schmerzbedingt, inwieweit eine mechanische Behinderung in
der Loge des iliopsoas vorliegt, kann anhand der Krankenhausberichte meinerseits
nicht beurteilt werden. Zusätzlich finden sich alte neurogene Veränderungen in der
Eletromyografie des m.iliopsoas ohne frische Schädigungszeichen, so dass an eine
unfallbedingte oder operationsbedingte Schädigung des N.femoralis zu denken ist.
Dagegen spricht die fehlende periphere Beteiligung des n.femoralis. Meinerseits ist eine
erneute chirurgische Vorstellung zu empfehlen, zur Prüfung ob Osteosynthesematerial
zu mechanischen Behinderungen führt. Soweit schmerzbedingt möglich, ist
Physiotherapie zu empfehlen."
Mit Bescheid vom 12. Dezember 2006 blieb das (damalige) Versorgungsamt B. bei
seiner bisherigen Einschätzung und lehnte insbesondere den Antrag der Klägerin auf
Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "RF"
ab. Der Widerspruch der Klägerin wurde durch Widerspruchsbescheid der
Bezirksregierung N. vom 30. April 2007 zurückgewiesen.
24
Die Klägerin hat auf Anraten ihrer Prozessbevollmächtigten davon Abstand genommen,
ihr Begehren auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" weiter zu verfolgen.
25
Unter Vorlage einer Bescheinigung der Fachärzte für Orthopädie Prof. Dr. med. van M.
und Dr. med. G. , B., vom 22. Mai 2007 beantragte die Klägerin beim Beklagten im Juni
2007 die Bewilligung der Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen außerhalb
der "aG"-Regelung. Diese Bescheinigung lautet: "Aufgrund eines chron.
Schmerzsyndroms bei Z. n. LWK2- und 3- Fraktur sowie Trümmerfrakturen beider Füße
von 1991 sowie pertrochantärer Femurfraktur li. und Beckenringfraktur li. von August
2005 ist die Pat. nicht mehr in der Lage, eine Wegstrecke von 100 m regelmäßig und
ohne Beschwerden zu Fuß zurückzulegen."
26
Nach einer - nicht näher begründeteten - negativen Stellungnahme des damaligen
Versorgungsamtes B. vom 6. Juli 2007 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf
Bewilligung der Parkerleichterung mit Bescheid vom 11. Juli 2007 ab. Der hiergegen
gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde durch Widerspruchsbescheid des Landrats
des Kreises B. vom 16. August 2007 zurückgewiesen.
27
Am 29. August 2007 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren auf
Bewilligung einer Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen außerhalb der
"aG"-Regelung weiterverfolgt. Zur Begründung verweist sie insbesondere auf den
Umfang ihrer Bewegungseinschränkungen und ihren stark beeinträchtigten
Gesamtzustand.
28
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 11. Juli
2007 sowie des Widerspruchsbescheides des Landrats des Kreises B. vom 16. August
2007 zu verpflichten, ihr die Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen
außerhalb der "aG"-Regelung gemäß Erlass des Ministerium für Wirtschaft und
Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 4. September
2001 zu bewilligen.
29
Der Beklagte beantragt,
30
die Klage abzuweisen.
31
Er ist der Auffassung, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben
seien.
32
Die Kammer hat am 11. März 2008 einen Erörterungstermin vor den berufsrichterlichen
Mitgliedern durchgeführt. Hierbei hat die Klägerin persönlich die Gelegenheit
wahrgenommen, ihre gesundheitliche Situation zu schildern.
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In diesem Termin haben die Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die im Verfahren gewechselten
Schriftsätze, den Verwaltungsvorgang des Beklagten (Beiakte I), den
Widerspruchsvorgang des Landrats des Kreises B. (Beiakte II) sowie eine Kopie der
versorgungsamtlichen Akte betr. die Klägerin (Beiakte IV) Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
36
Aufgrund des gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ausgesprochenen Verzichts konnte die
Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
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Die Klage hat Erfolg.
38
Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte Parkerleichterung. Die
Voraussetzungen des als Rechtsgrundlage allein in Betracht kommenden, nachstehend
erörterten ministeriellen Erlasses sind erfüllt. Darüber hinaus sieht die Kammer das
Ermessen des Beklagten im vorliegenden Einzelfall als auf Null reduziert an.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen der in dem Erlass des Ministeriums für Wirtschaft
und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 4.
September 2001 (Gam - VI B B 3-78-12/6-) beschriebenen ersten Personengruppe
lauten:
40
"Gehbehinderte mit dem Merkzeichen 'G', sofern die Voraussetzungen für die
Zuerkennung des Merkzeichens 'aG' nur knapp verfehlt wurden (anerkannter Grad der
Behinderung mind. 70 % und max. Aktionsradius ca. 100 m)".
41
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt nach der übereinstimmenden Einschätzung
der Beteiligten im Wesentlichen von der Frage ab, wie die vorstehend zitierte
Beschreibung der ersten Fallgruppe des Erlasses (".... nur knapp verfehlt") zu verstehen
ist, insbesondere, ob ein anerkannter Grad der Behinderung von mind. 70 (hier sogar:
100) iVm dem Inhalt der versorgungsamtlichen Akten zwingend zu einer positiven
Bescheidung des Antrages auf Parkerleichterung - auch bei einer negativen
Stellungnahme des (früheren) Versorgungsamtes bzw. des Funktionsnachfolgers -
führen muss.
42
Ausschlaggebend für die nach Auffassung der Kammer sachgerechte Auslegung der
streitbefangenen Passage in dem ministeriellen Erlass vom 4. September 2001 (".. nur
knapp verfehlt..") ist der Vergleich derjenigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die
der Klägerin bescheinigt sind (u. a. zum Merkzeichen "G"), mit den Voraussetzungen,
die nach den im Schwerbehindertenrecht geltenden Kriterien für die Zuerkennung des
Merkmals der außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") maßgebend
43
sind. Dazu verhalten sich die Abschnitte 30 und 31 der "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)". Der Abschnitt 31 über "außergewöhnliche
Gehbehinderung" hat - vollständig zitiert - folgenden Wortlaut:
"(1) Für die Gewährung von Parkerleichterungen für schwerbehinderte Menschen nach
dem StVG in Verbindung mit der VwV-StVO (siehe Nummer 27) ist die Frage zu
beurteilen, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegt.
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Auch bei Säuglingen und Kleinkindern ist die gutachtliche Beurteilung einer
außergewöhnlichen Gehbehinderung erforderlich. Für die Beurteilung sind dieselben
Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. Es ist
nicht zu prüfen, ob tatsächlich diesbezügliche behinderungsbedingte Nachteile
vorliegen oder behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen.
45
(2) Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind
solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur
mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs
bewegen können.
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(3) Hierzu zählen nach der VwV-StVO Querschnittsgelähmte,
Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und
einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu
tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel-
oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach
versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend
aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
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(4) Nach der Rechtsprechung darf die Annahme einer außergewöhnlichen
Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf
Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der
Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist
zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und
deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines
Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte
einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; der
Betroffene muss vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil er sich sonst
nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann.
48
Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind
beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder
Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der
Lungenfunktion schweren Grades (siehe Nummer 26.8) anzusehen."
49
Die Kammer ist nach dem Studium der über die Klägerin erstellten
Versorgungsamtsakten und vor allem nach dem persönlichen Eindruck, den die
berufsrichterlichen Mitglieder im Termin vom 25. März 2008 von der Klägerin gewonnen
haben, der Auffassung, dass hier die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles im Sinne
der ersten in dem Erlass beschriebenen Personengruppe erfüllt sind.
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Vergleicht man die der Klägerin attestierten Gesundheitsbeeinträchtigungen unter
51
Einbeziehung des Inhalts der versorgungsamtlichen Akten mit den Anforderungen, die
im Versorgungsrecht an die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" gestellt werden, so
wird nach Auffassung der Kammer deutlich, dass die Klägerin in der Tat den Grad der
Bewegungseinschränkungen des in Abschnitt 31 der "Anhaltspunkte..." beschriebenen
Personenkreises "nur knapp" verfehlt.
Auf Grund der Schwere ihrer diversen Verletzungen und des Gesamtbildes, das die
Kammer aus den Akten gewonnen hat und das im Erörterungstermin mehr als bestätigt
wurde, ist offensichtlich, dass die Klägerin nur mit großer Mühe kurze Wegestrecken -
z.T. nur unter Zuhilfenahme von Gehhilfen - bewältigen kann und dass ihr jeder Schritt
erhebliche Schmerzen bereitet. Nach den umfangreichen Befundberichten in den
versorgungsamtlichen Akten erscheint dies dem Gericht auch plausibel. Nach der
Überzeugung des Gerichts handelt es sich hier um einen Einzelfall, in dem die
tatbestandlichen Voraussetzungen der ersten in dem Erlass beschriebenen
Personengruppe als erfüllt anzusehen sind.
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Das dem Beklagten nach dem Erlass noch verbleibende Ermessen sieht das Gericht
angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles als auf Null reduziert an.
Zudem entspricht es nach der Beobachtung der behördlichen Ermessensausübung bei
der Anwendung des ministeriellen Erlasses vom 4. September 2001 der
Verwaltungspraxis, die Parkerleichterung zu bewilligen, sofern die tatbestandlichen
Voraussetzungen einer der im Erlass beschriebenen Fallgruppen erfüllt sind. Zwar
besteht zwischen der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Erlasses und
der Bewilligung der Parkerleichterung - jedenfalls rechtstheoretisch - kein
Automatismus; allerdings ist der Kammer in Ansehung einer erheblichen Zahl von
Verfahren zu diesem Problemkreis weder ein Fall bekannt geworden, in dem die
Parkerleichterung trotz Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen versagt
worden ist, noch hat die Kammer jemals von einer Begründung Kenntnis nehmen
können, mit der diese Parkerleichterung im Ermessenswege abgelehnt worden ist.
53
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
54