Urteil des VG Aachen vom 27.10.2003
VG Aachen: serbien und montenegro, kosovo, politische verfolgung, staatliche verfolgung, aufschiebende wirkung, provinz, leib, freiheit, heimat, anerkennung
Verwaltungsgericht Aachen, 9 L 1764/03.A
Datum:
27.10.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
9 L 1764/03.A
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Gründe:
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Der sinngemäße Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 9 K 2121/03.A erhobenen
Klage gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 26. September 2003 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen,
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ist unbegründet.
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Gemäß den §§ 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 36 Abs. 4 Satz 1
des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) setzt die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der Klage voraus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
ablehnenden Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (Bundesamt) bestehen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche
Gründe dafür sprechen, dass die vom Bundesamt getroffene Entscheidung einer
rechtlichen Prüfung im Hauptsacheverfahren wahrscheinlich nicht standhält.
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Vgl. zu Art. 16 a Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) Bundesverfassungsgericht (BVerfG),
Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 -, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
(NVwZ) 1996, 678.
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Dies ist weder bezüglich der Ablehnung der Asylberechtigung als offensichtlich
unbegründet noch der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes (AuslG) offensichtlich nicht vorliegen, der Fall. Des Weiteren wird
die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung im Hauptsacheverfahren
wahrscheinlich ebenso standhalten wie die Feststellung, dass
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen.
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Zunächst liegen die Voraussetzungen einer Asylanerkennung - dieses schon allein
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wegen der Einreise auf dem Landweg - und des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht
vor. Dabei gilt für die Anforderungen an die Bejahung einer politischen Verfolgung im
Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG in Bezug auf Verfolgungshandlung, geschütztes Rechtsgut
und politischen Charakter der Verfolgung dasselbe wie bei Art. 16 a Abs. 1 GG. Auch
die Unterscheidung der Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe gilt entsprechend.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteile vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -,
Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1992, 843, vom 26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 u.a. -,
NVwZ 1994, 500, und vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, DVBl. 1994, 531.
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Die Beurteilung eines Asylantrages als "offensichtlich" unbegründet ist gerechtfertigt,
wenn bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen
Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an der Richtigkeit
der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und
sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die
Abweisung des Asylantrages geradezu aufdrängt.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1990 - 2 BvR 643/90 -, NVwZ 1991, 258; vgl.
auch BVerfG, Beschluss vom 20. September 2001 - 2 BvR 1392/00 -, Informationsbrief
Ausländerrecht (InfAuslR) 2002, 146 ff. (zu § 30 Abs. 2 AsylVfG).
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Das ist hier der Fall. Denn nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer,
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vgl. z. B. Urteile vom 23. Juni 2002 - 9 K 2257/02. A -, vom 3. Juni 2002 - 9 K 3077/97.A
u. a. -, vom 2. September 2002 - 9 K 1590/98.A - sowie vom 26. Mai 2003 - 9 K
2060/01.A -,
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die der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen (OVG NRW) entspricht, vgl. Urteile vom 30. September 1999 - 13 A 93/98.A -,
vom 10. Dezember 1999 - 14 A 3768/94.A - und vom 17. Dezember 1999 - 13 A
3931/94.A -, sowie Beschlüsse vom 30. Oktober 2000 - 14 A 4034/94.A -, vom 6. August
2001 - 14 A 2438/00.A -, vom 28. Dezember 2001 - 13 A 4338/94.A -, vom 4. April 2002 -
14 A 1362/98.A - und vom 4. Juli 2002 - 14 A 891/02.A -,
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sind ethnische Albaner aus der Provinz Kosovo, also auch der Antragsteller,
gegenwärtig und auf absehbare Zeit bei einer Rückkehr dorthin vor einer etwaigen
politischen Verfolgung durch Serbien und Montenegro hinreichend sicher. Diesem Staat
fehlt nämlich für das Gebiet der Provinz Kosovo die Staatsgewalt im Sinne wirksamer
hoheitlicher Überlegenheit, die ihm eine politische Verfolgung der dort lebenden
Bevölkerung ermöglichen könnte. Demgemäß scheidet eine - wie auch immer geartete -
politische Verfolgung ethnischer Albaner im Kosovo durch Serbien und Montenegro auf
absehbare Zeit aus.
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Darüber hinaus ist ethnischen Albanern aus Serbien und Montenegro eine Rückkehr in
die Provinz Kosovo auch nicht im Hinblick auf erschwerte Lebensbedingungen oder
aber Minen und Blindgänger unzumutbar. Denn die infolge der Zerstörung von
Infrastruktur erschwerten Lebensbedingungen für alle Bevölkerungsgruppen im Kosovo
haben sich zwischenzeitlich spürbar verbessert, und die Umsetzung der UN-Resolution
zum Kosovo vom 10. Juni 1999 schreitet erkennbar weiter fort. Anhaltspunkte dafür,
dass die Änderung der Verhältnisse lediglich vorübergehender Natur wäre, sind
weiterhin nicht ersichtlich.
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Vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnislage,
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vgl. AA, ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) vom 27. November 2002 (ad-hoc-Lagebericht);
UNHCR, Position zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem
Kosovo, Januar 2003; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Auskunft vom 22. Januar
2003 an das Verwaltungsgericht (VG) Greifswald; SFH, "Kosovo - Lebensbedingungen
der Minderheiten und Bedingungen für Rückkehrer -", Bericht vom 2. April 2003; NZZ
vom 30. April 2003 "Nach wie vor Übergriffe auf Minderheiten im Kosovo",
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findet in der Provinz Kosovo auch weder eine mittelbare noch eine quasi-staatliche
Verfolgung statt.
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Was zunächst eine etwaige mittelbare staatliche Verfolgung anbelangt, so lässt sich den
vorerwähnten Erkenntnissen - abgesehen von der hier ersichtlich nicht einschlägigen
Fallgruppe der Unterstützung derartiger Vorkommnisse - kein hinreichender Anhalt für
eine Duldung von Übergriffen u.ä. oder aber eine mangelnde Fähigkeit und/oder
Bereitschaft der internationalen Verwaltung im Kosovo, beispielsweise Minderheiten zu
schützen, entnehmen.
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Vgl. zur mittelbaren staatlichen Verfolgung BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - BvR
502, 1000, 961/86 -, Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE) 80, 315, 333 ff. (336); zum Kosovo: OVG NRW, Beschluss vom 28. Dezember
2001 - 13 A 4338/94.A - sowie Urteil der Kammer vom 23. Juni 2003 - 9 K 2257/02.A -.
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Des Weiteren ist darauf zu verweisen, dass die Grenze der asylrechtlich bedeutsamen
Pflicht zu staatlicher Schutzgewährleistung erreicht ist, wenn die Kräfte des konkreten
Staates überstiegen werden. Mit anderen Worten endet die asylrechtliche
Verantwortlichkeit eines Staates jenseits der ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Diese
Grundsätze beanspruchen auch für die Fälle Geltung, in denen - wie hier für die Provinz
Kosovo - eine internationale Verwaltung an die Stelle eines Staates getreten ist. Es
bedarf insoweit indessen keiner weiteren Erörterung, dass die Herstellung staatlicher
Strukturen, deren Vorläufer untergegangen sind, nicht von Anfang an zu den letztlich
angestrebten Verhältnissen führen kann. Vielmehr wären - nicht zuletzt vor dem
Hintergrund, dass selbst ein seit langem gesichert bestehender Staat seinen
Angehörigen keine absolute Sicherheit gegen gewaltsame Übergriffe Dritter bieten kann
(und dies asylrechtlich auch nicht tun muss) - die Anforderungen an die Fähigkeit der
internationalen Verwaltung, Schutz zu gewährleisten, überspannt, wenn man bereits
heute erwarten wollte, dass ein friedliches Zusammenleben der ursprünglich tief
verfeindeten Bevölkerungsgruppen im Kosovo einschränkungslos ermöglicht werden
müsste.
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Vgl. OVG NRW, am angegebenen Ort (a.a.O.). Schließlich fehlt es mit Blick darauf, dass
die Ausübung der Machtbefugnisse weiterhin ausschließlich in der Hand der
internationalen Verwaltung (UNMIK und KFOR) liegt, an greifbaren Anhaltspunkten für
die Annahme, etwaige Übergriffe z. B. auf z. B. Minderheitenangehörige durch
(insbesondere) albanische Volkszugehörige erfüllten die Voraussetzungen einer quasi-
staatlichen Verfolgung.
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Vgl. weitergehend zu quasi-staatlicher Verfolgung: BVerfG, Beschluss vom 10. August
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2000 - 2 BvR 260/98 u. a. -, Entscheidungssammlung zum Ausländer- und Asylrecht
(EZAR) 202 Nr. 30.
In Würdigung der vorerwähnten Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass
albanische Gruppierungen - welcher Art sie auch immer sein mögen - weiterhin nicht in
Teilen des Kosovo ein staatsähnliches Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität im
Sinne einer "übergreifenden Friedensordnung" errichtet haben. Vielmehr werden diese
Gruppierungen nach wie vor von der internationalen Verwaltung in den Aufbau einer
multi-ethnischen Interimsverwaltung eingebunden. So gibt es beispielsweise
Programme unter Führung der International Organization for Migration (IOM), die die
Wiedereingliederung ehemaliger UCK-Angehöriger in das Zivilleben durch berufliche
Bildungsprogramme, Arbeitsvermittlung, Existenzgründungskredite u.ä. vorsehen.
Demgemäß übt allein die internationale Verwaltung derzeit die staatlichen
Machtbefugnisse im Kosovo aus. Die ehemalige albanische Befreiungsarmee hat sich
schließlich in mehrere politische Parteien und Bewegungen aufgespaltet, die sich
ihrerseits um die Macht bewerben. Nicht zuletzt dieser Umstand verbietet die Annahme,
dass eine organisierte politische und/oder militärische Machtstruktur auf albanischer
Seite besteht.
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Vgl. OVG NRW, a.a.O.; Urteil der Kammer, a.a.O.; Hessischer Verwaltungsgerichtshof,
Beschluss vom 26. Februar 2003 - 7 UE 847/01.A - mit Nachweisen.
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Der Vortrag des Antragstellers verlangt keine abweichende Beurteilung. Denn zum
einen hat er selbst angegeben, sich nicht politisch engagiert zu haben. Zum anderen ist
er im Anschluss an die obigen Ausführungen wegen von ihm vorgetragener Versuche
einer ihm indes nicht bekannten Gruppierung, ihn nach seiner Darstellung einzuberufen,
darauf zu verweisen, sich an die UNMIK-Verwaltung zu wenden. Es liegen auch keine
Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG vor. Es spricht keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit,
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vgl. zu diesem Maßstab: BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1995 - 2 BvR 384/95 -,
DVBl. 1996, 196,
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dafür, dass dem Antragsteller die konkrete Gefahr von Folter oder einer gegen die
Menschenrechtskonvention verstoßenden Behandlung droht oder dass er konkreten
Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit aus individuellen Gründen ausgesetzt ist.
Gleiches gilt hinsichtlich konkreter Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit aus
individuellen Gründen in einem Grade, bei dessen Vorliegen trotz Fehlens eines
Erlasses nach § 54 AuslG die Gewährung von Abschiebungsschutz geboten ist.
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Vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199, und
vom 4. Juni 1996 - 9 C 134/95 -, NVwZ- Beilage 1996, 89.
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Insoweit ist eine landesweite Betrachtung anzustellen; es ist ausreichend, wenn nur in
einem Teil von Serbien und Montenegro keine konkrete Gefährdungssituation besteht.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. August 1996 - 9 C 172.95 -, DVBl. 1997, 182; OVG NRW,
Beschluss vom 24. September 1997 - 23 A 3400/93.A -.
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Unter Berücksichtigung der aktuellen Presseberichterstattung ist nichts dafür ersichtlich,
dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in die Provinz Kosovo Verhältnisse zu
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gewärtigen hat, die den Anforderungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten nicht entsprechen. Selbst die etwaige kärgliche wirtschaftliche
Situation in seiner Heimat führt nicht zu einer konkreten Gefährdung für Leib, Leben
oder Freiheit in einem solchen Grade, dass eine verfassungskonforme Einschränkung
des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG geboten und eine derartig extreme Gefahrenlage
unabhängig von einer nicht von den Gerichten zu treffenden Ermessensentscheidung im
Sinne des § 54 AuslG zu berücksichtigen ist. Die wirtschaftliche Lage in der Provinz
Kosovo kann nämlich auch im Hinblick auf die vielfältigen internationalen humanitären
Hilfsmaßnahmen nicht als derart katastrophal angesehen werden, dass den
rückkehrenden Flüchtlingen kaum eine Chance verbleibt, auch nur das
Existenzminimum zu erreichen. Diese Bewertung wird unter anderem durch die
Tatsache untermauert, dass bereits zahlreiche albanische Volkszugehörige
zwischenzeitlich in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Vgl. zur verfassungskonformen Einschränkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG: BVerwG,
Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl. 1996, 1257; OVG NRW, Beschluss vom
17. Juli 1995 - 17 B 2380/93 -; zum Kosovo: OVG NRW, Beschlüsse vom 15. April 2002
- 14 A 1545/02.A - sowie vom 4. April 2002 - 14 A 1362/02.A -, jeweils mit weiteren
Nachweisen, auch zur Rechtsprechung des 13. Senats des OVG NRW.
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Die Abschiebungsandrohung stützt sich zutreffend auf die §§ 34, 36 Abs. 1 AsylVfG in
Verbindung mit § 50 AuslG.
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Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b Abs. 1 AsylVfG.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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