Urteil des VG Aachen vom 30.10.2006

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Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 4461/04
Datum:
30.10.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 4461/04
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d :
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Der am 13. Juli 1981 geborene Hilfeempfänger N. T. war im Zeitraum vom 5. März 2002
bis 20. Februar 2002 zu Lasten des Klägers im "E. -C. -Haus" in Aachen untergebracht.
Vor der Aufnahme in diese Einrichtung hatte er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in B.
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Am 5. März 2002 füllte N. T. ein Formular der Beklagten betr. "Hilfe zur Erziehung (HzE)
gemäß §§ 27 ff./Eingliederungshilfe gem. § 35 a i. V. m. § 41 KJHG" handschriftlich aus
und vermerkte in dem Begründungsfeld:
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"Mir geht es um erster Linie um eine Wohnung. Diese Jugendhilfe brauche ich auch
nicht mehr, weil ich sie früher schon gehabt habe. Und mir geht es auch um den
Unterhalt. Und Hilfe bei der Arbeitssuche."
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Dieser Antrag wurde mit Bescheid der Beklagten vom 6. März 2002 im Wesentlichen mit
der Begründung abgelehnt, der Antrag ziele in der Sache nicht auf "Jugendhilfe". In der
Begründung des Antrags sei deutlich geworden, dass N. T. sich nicht auf Hilfe zur
Erziehung einlassen wolle, da er sie seiner Meinung nach nicht benötige. Die
Anbringung eines Antrags auf Gewährung von Sozialhilfe wurde Herrn T. anheim
gestellt.
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Ebenfalls am 5. März 2002 stellte Herr T. bei der Beklagten den Antrag auf Gewährung
von Sozialhilfe (stationäre Hilfe gemäß § 72 BSHG). In der Begründung heißt es, dass
diese Hilfe "wegen besonderer sozialer Schwierigkeiten" beantragt werde. Mit
Schreiben vom 2. April 2002 an den Kläger erläuterte das E. -C. -Haus (Träger:
Caritasverband für die Regionen B.-Stadt und B.-Land e. V.) gegenüber dem Kläger die
Lebenssituation von Herrn N. T. und bat unter Hinweis auf den beigefügten
Sozialbericht/Hilfeplan nochmals um Kostenübernahme ab dem Aufnahmedatum 5.
März 2002. Unter dem 5. April 2002 bewilligte der Kläger mit Bescheid an Herrn T. mit
Wirkung ab 5. März 2002 Hilfe gemäß § 72 i. V. m. §§ 28 und 29 BSHG zur
Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten in der Einrichtung E. -C. - Haus, S. -
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L. -Straße 1-3, 52066 B.. Gleichzeitig machte der Kläger unter dem 5. April 2002
gegenüber der Beklagten Kostenerstattung gemäß §§ 102 ff. SGB X geltend. Diese
Forderung lehnte die Beklagte - Jugendamt - mit Schreiben vom 29. April 2002
gegenüber dem Kläger mit der Begründung ab, Herr T. habe keine Jugendhilfe gewollt;
einem Volljährigen könne gegen seinen ausdrücklichen Willen keine Jugendhilfe
aufgezwungen werden.
N. T. wohnte in dem E. -C. -Haus bis zum 20. Februar 2004. An diesem Tag verließ er
die Einrichtung und nahm zusammen mit seiner Freundin eine gemeinsame Wohnung
im Haus E1.-----straße 124 in 52068 B..
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Für die Zeit der Unterbringung von N. T. im E. -C. -Haus sind dem Kläger laut einer
Aufstellung Kosten in Höhe von 51.187,87 EUR entstanden.
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Der Kläger ist der Auffassung, dass die Beklagte wegen dieser Summe
kostenerstattungspflichtig sei.
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Am 28. Dezember 2004 hat der Kläger gegen die Beklagte deswegen Klage erhoben,
zu deren Begründung er geltend macht:
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Die Erstattungspflicht der Beklagten ergebe sich aus den §§ 102 ff. SGB X, da die
Beklagte für die Gewährung von Hilfe vorrangig leistungsverpflichtet gewesen sei. Dies
ergebe sich aus § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII. Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gingen
Leistungen nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem BSHG grundsätzlich vor. N. T.
habe im streitbefangenen Zeitraum die von ihm benötigte Hilfe ab dem 5. März 2002 im
Rahmen der Unterbringung im E. -C. - Haus in B. benötigt und erhalten. Die
Unterbringung sei wegen persönlichkeitsbedingter Mängel erforderlich gewesen. Die an
N. T. erbrachte stationäre Leistung habe eine Maßnahme der Hilfe für junge Volljährige
gemäß § 41 SGB VIII dargestellt, für die nach § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII die vorrangige
sachliche Zustän-digkeit der Beklagten gegeben gewesen sei. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz
1 SGB VIII solle einem jungen Volljährigen Hilfe zur Persön- lichkeitsentwicklung und
zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die
Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig sei. Bei N. T.
seien diese objektiven Voraussetzungen gegeben gewesen. Es sei eindeutig erkennbar
gewesen, dass der Hilfeempfänger mit Erreichen der Volljährigkeit die dieser formalen
Grenze entsprechende Autonomie, Selbstständigkeit und Persönlichkeit noch nicht
entwickelt gehabt habe. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Bericht des E. -C. -
Hauses vom 2. April 2002. Die Verselbständigung von N. T. sei seitens der Einrichtung
erst durch intensive Beratung, Beistandschaft sowie durch Einzelbetreuung gefördert
worden; die notwendigen Hilfen zur Gestaltung eines eigenverantwortlichen Lebens
seien von der Einrichtung erbracht worden. Damit seien die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 41 Abs. 1 SGB VIII erfüllt.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn, den Kläger, 51.187,87 EUR nebst 5 % Zinsen über
dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, d. h. seit dem 28. Dezember 2004, zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält sich nicht zur Erstattung der streitbefangenen Aufwendungen für verpflichtet.
Eine Hilfegewährung gemäß § 41 SGB VIII sei nämlich im Hilfefall N. T. nicht in Betracht
gekommen. Selbst wenn bei Herrn T. die objektiven Voraussetzungen des § 41 SGB
VIII erfüllt gewesen sein mögen, bestehe hier die Besonderheit, dass Herr T. die Hilfe für
junge Volljährige gar nicht habe in Anspruch nehmen wollen. Leistungen der
Jugendhilfe würden jedoch grundsätzlich nur auf Antrag gewährt, wie sich aus der
höchstrichterlichen Rechtsprechung ergebe. Bei einem solchen Antrag auf
Sozialleistungen handele es sich um eine einseitige empfangsbedürftige
Willenserklärung des öffentlichen Rechts, mit welcher der Antragstel-ler dem
Leistungsträger gegenüber zum Ausdruck bringe, eine Sozialleistung in Anspruch
nehmen zu wollen. Herr T. habe jedoch gegenüber dem Jugendamt der Beklagten
unmissverständlich im Antragsvordruck vom 5. März 2002 zum Ausdruck gebracht, dass
er Maßnahmen der Jugendhilfe ablehne. Zwar sei es richtig, dass Leistungen der
Jugendhilfe denjenigen der Sozialhilfe vorgingen und dass eine eindeutige Abgrenzung
im Einzelfall nur schwer möglich sei. Wenn aber die an sich gebotene Inanspruchnahme
der Hilfe nach § 41 SGB VIII vom jungen Volljährigen von vornherein abgelehnt worden
sei, könne sie ihm vom Träger der Jugendhilfe nicht aufgedrängt werden. Vielmehr sei
dann der überörtliche Träger der Sozialhilfe dafür zuständig, gemäß § 72 BSHG Hilfe
mit dem Ziel zu gewähren, den jungen Volljährigen überhaupt erst zur
Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen zu motivieren. Erst wenn im jungen
Volljährigen die ernsthafte Bereitschaft geweckt und gefördert worden sei,
Jugendhilfemaßnahmen in Anspruch zu nehmen, könne der Träger der Jugendhilfe ein
Hilfeplanverfahren zur Weiterführung der bisherigen Hilfe durchführen. Unter diesen
Umständen beurteile sich das Hilfebegehren des Herrn N. T. nach § 72 BSHG; hierfür
sei der Kläger gem. § 100 Nr. 5 BSHG örtlich zuständig gewesen. Der Hinweis des
Klägers, dass die Hilfe nach § 41 SGB VIII eine solche für die persönliche Entwicklung
und für eine eigenverantwortliche Lebensführung sei, treffe zwar in der Sache zu; jedoch
bleibe es dabei, dass der Hilfeempfänger bereit sein müsse, eine solche Hilfe
entgegenzunehmen. Sei dies nicht der Fall, komme zunächst nur Hilfe nach § 72 BSHG
in Betracht.
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Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Verfahren
gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Klägers (Beiakte I) und
der Beklagten (Beiakte II) Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Aufgrund des übereinstimmenden Verzichts der Beteiligten auf mündliche Verhandlung
kann die Kammer gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne
Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden.
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Erstattungsanspruch wegen der im
Klageantrag bezifferten, für N. T. erbrachten Leistungen.
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Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 28.09.2000 - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98 ff.,
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werden Leistungen der Jugendhilfe, so auch die hier in Rede stehende
Eingliederungshilfe gemäß §§ 35 a i.V. m. § 41 SGB VIII, nur auf Antrag gewährt. Dieses
Erfordernis ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zwischenzeitlich,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 11.08.2005 - 5 C 18.04 - NDV-RD 2006, 72. ff. (S. 73 f., dort
Ausführungen unter Ziff. 2),
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nochmals ausdrücklich bestätigt und konkretisiert worden. Die Gewährung von
Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII setzt hiernach nicht nur voraus, dass
überhaupt ein Antrag gestellt worden ist, sondern grundsätzlich auch, dass er so
rechtzeitig gestellt ist, dass der Jugendhilfeträger zu pflichtgemäßer Prüfung sowohl der
Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist.
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Vorliegend fehlt es bereits an dem Erfordernis eines Antrages des Hilfesuchenden auf
Gewährung von Jugendhilfeleistungen in Gestalt von Eingliederungshilfe nach § 35 a
i.V.m. § 41 SGB VIII. In seiner Erklärung vom 5. März 2002 hat N. T. zum Ausdruck
gebracht, dass er Jugendhilfeleistungen in der vorbeschriebenen Form nicht erstrebe,
es ihm vielmehr (nur) um die Sicherung des Lebensunterhalts, sowie um Hilfe bei der
Erlangung einer Wohnung und einer Arbeitsstelle gehe. Die hiernach durch N. T.
damals angestrebten und ausdrücklich nur beantragten Hilfen unterscheiden sich
inhaltlich eindeutig von Jugendhilfeleistungen im Sinne von § 35 a i.V.m. § 41 SGB VIII;
die von N. T. gewünschten Hilfen beschränkten sich auf die Abdeckung der
Elementarbedürfnisse. Die für Jugendhilfeleistungen - u. a. auch für solche nach § 35 a
i.V.m. § 41 SGB VIII - kennzeichnenden, weit darüber hinausgehenden
Betreuungsleistungen wurden von N. T. in seiner Erklärung vom 5. März 2002
ausdrücklich abgelehnt.
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Da unter diesen Umständen schon wegen eines fehlenden Antrags kein Raum für die
Gewährung von Jugendhilfeleistungen bestand, kommt es auf die vom Kläger zur
Begründung seiner Klage in den Vordergrund gestellten Erwägungen zum Vorrang von
Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII gegenüber Leistungen nach dem BSHG nicht
an. Die rechtliche Klärung des Vorrangs einer Leistungspflicht z. B. nach § 10 Abs. 2
Satz 1 SGB VIII setzt ein Konkurrenzverhältnis zwischen Sozialleistungen voraus,
welches nur bestehen kann, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen für
die beide Sozialleistungen vorliegen. Fehlt es bei einer der beiden Sozialleistungen an
einer Voraussetzung - wie hier z. B. an einer solchen formeller Art (Antrag) -, sind
Überlegungen zur Vorrangigkeit einer Leistungsverpflichtung nach § 10 Abs. 2 Satz 1
SGB VIII von vornherein gegenstandslos.
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In dieser Konstellation kommt es schließlich mangels Entscheidungserheblichkeit auch
nicht auf die Frage an, ob die Beklagte im vorliegenden Erstattungsstreit dem Kläger als
zusätzliche Stützung des Klageabweisungsantrags Einwendungen aus dem
Leistungsverhältnis - wie etwa die mögiche Bestandskraft der Ablehnung der
Jugendhilfe durch Bescheid des Oberbürgermeisters der Beklagten vom 6. März 2002 -
entgegenhalten könnte,
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vgl. zu dieser Problematik: OVG NW, Urteil vom 22.03.2006, - 12 A 2094/05 -, NDV-RD
2006, S. 57 ff.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO. Das
Verfahren ist - da nach dem 31. Dezember 2001 bei Gericht eingegangen - nicht mehr
gerichtskostenfrei (§ 194 Abs. 5 VwGO).
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