Urteil des VG Aachen vom 10.05.2010

VG Aachen (mutter, politische verfolgung, beschneidung, verfolgung, schutz der familie, nigeria, rückkehr, eltern, vater, familie)

Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 562/07.A
Datum:
10.05.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 562/07.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin
kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in
Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte
zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Die am 26. Februar 2005 in Aachen geborene Klägerin ist nigerianische
Staatsangehörige. Ihre Mutter ist die am 23. März 1979 in Benin-City geborene
nigerianische Staatsangehörige Q. K. P. . Frau P. zeigte während der damals
bestehenden Schwangerschaft erstmals im Oktober 2004 mit einem anwaltlichen
Duldungsantrag ihren Aufenthalt im Bundesgebiet an. Sie ist Mutter eines weiteren am
18. Februar 2008 geborenen Kindes (N. P1. P. ), dessen Vater ein deutscher
Staatsangehöriger nigerianischer Abstammung ist. Im Hinblick auf die deutsche
Staatsangehörigkeit dieses Kindes verfügt die Mutter der Klägerin seit dem 14.
November 2008 über eine Aufenthaltsgenehmigung nach § 25 Abs. 5 des
Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), zuletzt verlängert bis zum 13. November 2010. Die
Klägerin ist ferner Inhaberin eines nigerianischen Passes vom 1. September 2008.
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Der Vater der Klägerin ist der am 7. Januar 1962 in Lagos geborene F. T. F1. , der
ebenfalls nigerianischer Staatsangehöriger ist. Er reiste am 13. Mai 1990 in das
Bundesgebiet ein und stellte im gleichen Monat unter dem Namen F. T1. einen
Asylantrag. In dem Asylverfahren gab er an, dass er Student und christlichen Glaubens
sei sowie dem Volk der Yoruba angehöre. Er habe zuletzt in Lagos gelebt, wo auch
seine Eltern und Geschwister leben würden, und habe die Universität in Ibadan in Oyo
State besucht. Auf Grund der Heirat mit einer deutschen Staatsangehörigen im Jahr
1992 erhielt er ab Mai 1993 eine Aufenthaltserlaubnis (zuletzt gültig bis April 1998).
Diese Ehe wurde im Jahr 1998 geschieden. Der Kläger verbüßte von Mai 1996 bis März
1999 eine Haftstrafe in Belgien und reiste anschließend erneut im Bundesgebiet ein, wo
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er von Januar bis März 2000 in Abschiebehaft genommen wurde. In der Folgezeit wurde
der Aufenthalt des Vaters der Klägerin geduldet. Ein zuletzt gestellter Antrag auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde mit Bescheid von August 2007 durch die
Ausländerbehörde der Stadt B. abgelehnt, insoweit ist ein Klageverfahren vor dem
erkennenden Gericht (Az.: 8 K 1517/09) anhängig.
Die Eltern der Klägerin trennten sich im Frühjahr 2007. Der Vater der Klägerin lebt seit
diesem Zeitpunkt mit einer deutschen Staatsangehörigen unter der Anschrift L.---straße
00 in B. zusammen. Er bekundete im Juli 2007 vor dem Standesamt seine
Heiratsabsicht Die Klägerin lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder unter der
Anschrift L. .-Straße 00 inB..
4
Nachdem ein Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid
der Ausländerbehörde der Stadt B. vom Februar 2006 unter Androhung der
Abschiebung abgelehnt wurde, beantragte die Klägerin am 21. April 2006 die
Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. von
Abschiebeverboten nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG. Mit anwaltlichem Schreiben führte die
Klägerin aus, dass ihre Eltern aus der F2. Community in der P2. M. D. B. stammen
würden. In diesen Familien gehöre die weibliche Beschneidung zur Tradition. Ihre
Mutter selbst sei im Alter von 12 Jahren beschnitten worden und weder sie noch ihre
Eltern hätten sich dagegen zur Wehr setzen können. Sie sei von ihrer Großmutter und
weiteren Frauen zu der Beschneidungszeremonie gezwungen worden und habe
anschließend starke Schmerzen und eine Infektion erleidet. Bis heute leide sie noch
unter den psychischen und physischen Folgen ihrer Beschneidung. Während der
Schwangerschaft sei eine alte Infektion aus dieser Zeit aufgefunden worden und habe
zu einer früheren Entbindung in der 34. Schwangerschaftswoche geführt. Nach der
Tradition der F2. Community müsse jedes weibliche Kind spätestens bis zur
Geschlechtsreife beschnitten werden. Der Klägerin drohe damit das gleiche Schicksal
wie der Mutter. Eine Beschneidung würde auch gegen den Willen der Eltern
durchgesetzt. Im Falle einer Rückkehr sei mit einer Beschneidung der Tochter zu
rechnen.
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Die Mutter der Klägerin wurde am 26. September 2006 zu den Asylgründen der Klägerin
persönlich angehört und begründete den Antrag der Klägerin wie folgt: Sie sei 1979 in
Benin-City geboren worden, wo auch ihr Vater - David P. - in der P3. M1. Road lebe. Ihr
Vater habe zwei Frauen gehabt. Ihre Mutter heiße W. B1. . Ihre Großmutter, die vor zwei
Monaten gestorben sei, habe sie als kleines Kind mit in das Dorf F2. genommen. Es
handele sich um ein kleines Dorf, wo sie auch die Grundschule besucht habe. Später
habe sie als Friseurin in einem Salon in P2. gearbeitet. Im April 2004 sei sie mit Hilfe
einer Frau über Frankreich nach Deutschland gekommen. Hier habe sie ihren
Lebensgefährten und Kindesvater kennengelernt. Bis zu ihrer Ausreise habe sie in dem
Dorf F2. bei ihrer Großmutter gewohnt. Sie selbst sei im Alter von 12 Jahren in ihrem
Dorf F2. beschnitten worden. Ihre Großmutter habe sie damals aufgefordert, mit zwei
Frauen zu der Zeremonie zu gehen. Man habe ihr Geschenke versprochen. Sie sei in
ein dunkles Zimmer gebracht worden und ihr seien die Augen verbunden worden. Von
dort sei sie an einen anderen Ort gebracht worden, wo mehr als sechs Frauen gewesen
seien. Dort sei sie anschließend mit Gewalt beschnitten worden. Sie habe stark geblutet
und sei sehr geschwächt gewesen. Wer genau die Beschneidung durchgeführt habe,
könne sie nicht sagen. Man habe ihr gesagt, sie müsse die Beschneidung durchführen
lassen, da sie sonst nicht heiraten könne. Seit dieser Zeit habe sie eine Infektion im
Genitalbereich und ihr Kind - die Klägerin - sei deshalb zu früh gekommen. Dieses
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Schicksal wolle sie ihrer Tochter ersparen. Bei der Volksgruppe der Edo sei die
Beschneidung Tradition. Die Beschneidung werde 7 oder 12 Tage nach der Geburt
durchgeführt oder wenn jemand heiratet. Sie sei zum Zeitpunkt ihrer Geburt jedoch
krank gewesen. Im Falle einer Rückkehr bestehe die Gefahr, dass die Gemeinde eine
Beschneidung ihrer Tochter veranlassen würde. Die Familie ihrer Mutter oder ihres
Vaters könnten die Klägerin auch entführen. Auch Benin-City sei kein sicherer Ort, da
dort ihr Vater lebe. Er würde erfahren, dass sie zurückgekehrt sei und so würde es auch
die Gemeinde erfahren. Auch der Vater der Klägerin gehöre dem Volk der Edo und der
Gemeinde F2. an. Weder er noch sie würden eine Beschneidung ihrer Tochter wollen,
könnten sich jedoch nicht gegen die Tradition der Gemeinde wenden.
Die Klägerin legte im Nachgang zu ihrer Anhörung ein frauenärztliches Attest vom 29.
September 2006 vor, in dem die Folgen der Beschneidung der Mutter der Klägerin im
Kindesalter beschrieben werden. Die Klägerin sei per Kaiserschnitt als Frühgeburt,
infolge eines vorzeitigen Blasensprungs ausgelöst durch eine Infektion, geboren
worden.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte mit Bescheid vom 30.
Mai 2007 - zugegangen am 1. Juni 2007 - den Asylantrag der Klägerin ab und stellte
fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht
vorliegen. Ebenfalls stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 2-7 Aufenthaltsgesetz nicht vorliegen und forderte die Klägerin zugleich unter
Fristsetzung zur Ausreise auf. Ihr wurde für den Fall der Nichtausreise die Abschiebung
u. a. nach Nigeria angedroht.
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Mit der am 14. Juni 2007 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren
weiter und führt ergänzend aus, dass ihre Eltern beide das Sorgerecht inne hätten.
Beide Eltern würden dem Volk der Edo angehören. Ihr stehe ein Anspruch auf
Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu, da ihr im Falle einer
Rückkehr nach Nigeria eine Beschneidung und damit eine geschlechtsspezifische
Verfolgung drohe. Das Bundesamt habe mit seiner Ablehnungsentscheidung die neue
Rechtslage ignoriert und eine politische Verfolgung verneint. Die Genitalverstümmlung
sei als Form der geschlechtsspezifischen Verfolgung anerkannt. Zudem sei die
Genitalverstümmlung unter dem Volk der Edo nicht nur weit verbreitet, sondern
staatlicher Schutz hiergegen auch nicht zu erlangen. Sie habe im Hinblick auf ihr Alter
und diese Tradition innerhalb ihrer Familie, wie bereits ihre Mutter im Falle ihrer
Rückkehr nach Nigeria, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ihre Beschneidung zu
befürchten. Ein Ausweichen in andere Landesteile verspreche keinen wirksamen
Schutz.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 30. Mai 2007 zu
verpflichten, festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
des Aufenthaltsgesetzes (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) vorliegen,
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hilfsweise,
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festzustellen, dass für die Klägerin Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7
Aufenthaltsgesetz vorliegen.
13
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
15
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
16
Der Rechtsstreit wurde auf die Einzelrichterin übertragen. Die Mutter der Klägerin wurde
in der mündlichen Verhandlung angehört; wegen des Ergebnisses wird auf die
Sitzungsniederschrift verwiesen.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakte und der hierzu überreichten Verwaltungsvorgänge des
Bundesamtes und der zuständigen Ausländerbehörde. Ferner wird verwiesen auf die
mit der Ladung übersandte Liste der Auskünfte, Stellungnahmen und Gutachten über
die Lage in Nigeria (so genannte Erkenntnisliste).
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Entscheidungsgründe:
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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten zur mündlichen Verhandlung über
den Rechtsstreit entscheiden, da die Beteiligten darauf bei der Ladung hingewiesen
worden sind, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
20
Die Klage ist unbegründet.
21
Der hinsichtlich der Ziffern 2 bis 4 angefochtene Ablehnungsbescheid des
Bundesamtes vom 30. Mai 2007 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren
Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO.
22
Die Klägerin hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
Entscheidung (§ 77 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) weder einen Anspruch auf
Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG - (Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft) noch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebeverbotes
für ihre Person nach § 60 Abs. 2 -7 AufenthG.
23
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben
werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Anwendungsbereich ist
hinsichtlich der Verfolgungshandlung, des geschützten Rechtsgutes und des politischen
Charakters der Verfolgung deckungsgleich mit dem Begriff der politischen Verfolgung in
Art. 16 a Abs. 1 GG, vgl. bereits zu § 51 Abs. 1 AuslG: Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG), Urteil vom 18. Februar 2002 - 9 C 59/91 -, DVBl. 1992 T2. . 843.
24
Eine Verfolgung ist politisch i.T2. . des Art. 16 a GG und § 60 Abs. 1 AufenthG, wenn sie
dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse
Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen
(sog. asylerhebliche Persönlichkeitsmerkmale wie insbesondere Rasse, Nationalität
oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe), gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die
ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen, vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2
BvR 502/86 -, NVwZ 1990, 151.
25
Eine drohende Genitalverstümmelung im Heimatland ist grundsätzlich als politische
Verfolgung i.T2. .v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen. Es fehlt insbesondere nicht an
einer Ausgrenzung der Betroffenen aus der übergreifenden Friedensordnung der
staatlichen Einheit. Insoweit kann nicht darauf abgestellt werden, dass eine
Beschneidung den Zweck der Integration bzw. Inklusion der betroffenen Mädchen und
Frauen in die jeweilige Gesellschaft als vollwertiges Mitglied verfolge und die Ächtung
bzw. der Ausschluss der unbeschnittenen Frauen mit seinen ggf. existenzbedrohenden
Folgen keine staatliche Verfolgung sei, vgl. so etwa Urteile des VG Münster vom 15.
März 2010 - 11 K 413/09.A und 23. August 2006 - 11 K 473/04.A, juris, VG Ansbach,
Urteil vom 28. September 2004 - AN 18 K 04.30944 - noch zu § 51 AuslG, juris.
26
Die Zwangsbeschneidung ist gerade darauf gerichtet, die sich weigernden Betroffenen
in ihrer politischen Überzeugung zu treffen, indem sie den Traditionen unterworfen und
unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu verstümmelten Objekten gemacht
werden, vgl. bereits Urteile des VG Aachen vom 4. August 2003 - 2 K 1140/02.A und 2 K
1924/00.A und vom 16. Februar 2004 - 1893/02.A; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14.
März 2006 - 9a K4180/05. (zu Kamerun), juris.
27
Darüberhinaus ist durch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nunmehr klargestellt, dass eine
Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann
vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder
der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Durch Satz 3 der Vorschrift sollten
gerade auch die Sachverhaltskonstellationen wie eine drohende Genitalverstümmelung
erfasst werden. Durch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG wurde der Schutz auch auf die
Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure erstreckt, sofern der Staat, Parteien oder
Organisationen, den des Staat oder dessen wesentliche Teile beherrschen,
erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind Schutz vor Verfolgung zu bieten,
es sei den, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative, vgl. ebenso Bayerischer
VGH, Beschluss vom 3. Februar 2006 - 9 ZB 05.31075 - (zu Äthiopien), juris; Hessischer
VGH, Urteil vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04.A - (zu Sierra Leone), juris; VG Stuttgart,
Urteil vom 10. Juni 2005 - A 10 K 13121/03 -, juris; VG München, Urteil vom 2. April
2009 - M 21 K 08.500077 -, juris; VG Regensburg, Beschluss vom 29. Juli 2009 - RN 5
T2. 09.30157 -, juris; Treiber in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz,
Stand: Januar 2010, § 60 Rz. 175 ff, 183.
28
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach
§ 60 Abs. 1 Satz 1 vorliegt die Art. 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 - 10 der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung
und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als
Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu
gewährenden Schutzes (ABl.EU L 304 vom 30. September 2004, T2. . 12; - RL
2004/83/EG -) - sog. Qualifikationsrichtlinie - ergänzend anzuwenden.
29
Einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
besteht nur dann, wenn der Ausländer geltend machen kann, dass er bei einer
Rückkehr in sein Heimatland von politischer Verfolgung bedroht wäre, wenn ihm also
die Rückkehr in sein Heimatland nicht zugemutet werden kann. Für die danach
anzustellende Prognose gelten unterschiedliche Maßstäbe je nach dem, ob der
Ausländer sein Heimatland auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar
bevorstehender politischer Verfolgung verlassen hat oder unverfolgt ausgereist ist. Im
30
ersten Fall der sog. Vorverfolgung steht dem Ausländer ein Anspruch auf Feststellung
i.o. Sinne zu, wenn er im Falle einer Rückkehr vor einer erneuten Verfolgung nicht
hinreichend sicher sein kann (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Hat der
Ausländer sein Land hingegen unverfolgt verlassen, so kann sein Begehren nur Erfolg
haben, wenn ihm aufgrund beachtlicher Nachfluchtgründe politische Verfolgung droht,
d.h. wenn dem Ausländer bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des
Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine
Verfolgung i.o. genannten Sinne droht (sog. gewöhnlicher Prognosemaßstab). vgl.
BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u. a. - BVerfGE 80, 315 ff. und
vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51 ff.; BVerwG, Urteil vom 15.
Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 ff.
Der Ausländer ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflichten
gehalten, umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse zu schildern, die
seiner Auffassung zufolge geeignet sind, den Anspruch zu tragen, und insbesondere
auch den politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen darzustellen. Bei der
Darlegung der allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die
vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung
ergeben, vgl. BVerwG, Urteil vom 23. November 1982 - 9 C 74.81 -, BVerwGE 66, 237.
31
Die Gefahr einer politischen Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden, wenn
sich das Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten
individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei allerdings der sachtypische
Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat bei der Auswahl der
Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrages und der Beweise angemessen zu
berücksichtigen ist, vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 - 9 C 27.85 -, EZAR
630 Nr. 23.
32
In Anwendung dieser Grundsätze hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Die im Bundesgebiet geborene, fünf Jahre
alte Klägerin kann sich zunächst nicht auf eine bereits in Nigeria erfolgte Verfolgung
berufen. Ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
i.V.m. § 26 Abs. 2 und 4 AsylVfG besteht nicht, weil zu Gunsten ihrer Mutter im Zeitpunkt
der maßgeblichen Entscheidung nicht unanfechtbar das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt worden ist. Der Klägerin droht
im Falle ihrer Rückkehr nach Nigeria auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
eine politische Verfolgung in Form einer Genitalbeschneidung.
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Allerdings geht das Gericht nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich
davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach
wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen
Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% -
50%/60%. Die Zahl von 19% geht auf den Demographic an Health Survey (DHS)
Nigeria 2003 zurück, der von der Nationalen Bevölkerungs-Kommission in Nigeria
durchgeführt wurde. Demgegenüber gingen etwa Schätzungen der WHO und der
Vereinten Nationen im Jahr 1996 und 1997 von einer Verbreitung in Höhe von 60% aus.
Die WHO bezieht sich in einer aktuellen Bekanntmachung zur Verbreitung der
weiblichen Genitalbeschneidung in Afrika für Nigeria auf die Zahl von 19%, vgl. dazu
etwa Auswärtiges Amt (AA), Lageberichte vom 11. März 2010, T2. . 16 und vom 29.
März 2005 T2. . 27; AA, Auskunft an das VG Aachen vom 27. Dezember 2002; Institut für
Afrika-Kunde (IAK), Auskünfte an das VG Aachen vom 21. August 2002, an das VG
34
Düsseldorf vom 28. März 2003 und an das VG Koblenz vom 4. Dezember 1998;
Bundesamt, Nigeria - Die Lage der Frauen in Nigeria - 2002, T2. .6; WHO, "Female
genital mutilation and other harmful practices", abgerufen April 2010,
www.who.int/reproductivehealth/topics/fgm/prevalence; Deutsche Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit (GTZ), Weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria,
www.gtz.de/fgm.
Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw.
Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den
Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller
Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der
Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Schutz vor Promiskuität und
der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des
Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als "heiratsfähig" angesehen
wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung
einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der "Heiratsfähigkeit" sind häufig
gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen
und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird
davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen
Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des
Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum
Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Eine einheitliche -
bundesweite - Gesetzgebung gegen die Beschneidungspraxis gibt es nicht, eine
Verfolgung ist lediglich nach dem allgemeinen Strafrecht möglich. Einige
Bundesstaaten, darunter auch Edo-State haben Gesetze gegen die
Genitalverstümmelung erlassen; allerdings sind Verfahren bislang nicht bekannt
geworden, vgl. dazu AA, Lagebericht vom 11. März 2010, T2. . 16; Auskünfte an das
Bundesamt vom 21. August 2008, an das VG Düsseldorf vom 28. April 2003 und vom 5.
August 2003 sowie an VG Aachen vom 27. Dezember 2002; Bundesamt - Nigeria -
Lage der Frauen, 2002; T2. . 6; IAK, Auskünfte an das VG Aachen vom 21. August 2002
und an das VG Düsseldorf vom 28. März 2003; amnesty international (ai), Auskünfte an
das VG Aachen vom 6. August 2002 und das VG Koblenz vom 16. März 1999; WHO,
"Elimination of Female Genital Circumcision in Nigeria", Dezember 2007 abrufbar über
www.who.int/fgm; GTZ, Weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria, www.gtz.de/fgm;
VG Stuttgart, Urteil vom 10. Juni 2005 - A 10 K 13121/03 -, juris; VG München, Urteil
vom 2. April 2009 - M 21 K 08.500077 -, juris; VG Münster vom 15. März 2010 - 11 K
413/09.A und vom 23. August 2006 - 11 K 473/04.A, juris; jeweils mit weiteren Nw..
35
Auf Grund der bisherigen Angaben der Mutter Klägerin im Verfahren und auf Grund der
mündlichen Verhandlung hat das Gericht jedoch nicht die Überzeugung gewonnen,
dass eine Beschneidung der Klägerin im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland
beachtlich wahrscheinlich ist.
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Zwar gehört die Mutter der Klägerin, die nach dem vorgelegten ärztlichen Attest
ebenfalls beschnitten ist, ihren Angaben zufolge der Volksgruppe der Edo an, bei denen
nach den vorliegenden Erkenntnissen die weibliche Genitalbeschneidung praktiziert
wird. Allerdings liegt das Beschneidungsalter bei der Volksgruppe der Edo nach den
vorliegenden Auskünften in den ersten Lebenswochen zwischen dem 7. und 14. Tag
nach der Geburt. Die Klägerin ist jedoch mittlerweile bereits fünf Jahre alt. Soweit die
Mutter der Klägerin darauf hinweist, dass Beschneidungen auch noch zu einem
späteren Zeitpunkt durchgeführt werden könnten und angegeben hat, selber erst im
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Alter von 12 Jahren, d.h. ausgehend von ihrem Geburtsdatum etwa im Jahr 1991,
beschnitten worden zu sein, bestehen diesbezüglich bereits Zweifel an der
Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. So hat die Mutter Klägerin im Rahmen der Antragstellung
und bei der Anhörung vorgetragen, dass sie von ihrer Großmutter und anderen Frauen
gezwungen worden sei, sich der Beschneidung zu unterziehen. Ihre Großmutter sei im
letzten Monat gestorben. Dazu im Widerspruch steht jedoch die Angabe der Klägerin in
der mündlichen Verhandlung, dass ihre Großmutter bereits 1982 verstorben sei. Auch
auf Vorhalt konnte die Klägerin diesen Widerspruch nicht nachvollziehbar auflösen.
Hinzukommt, dass die Mutter der Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt
angegeben hat, die Beschneidung sei im Dorf F2. durchgeführt worden, während sie in
der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage nicht mehr angeben konnte, ob der Ort in
Benin-City oder woanders gewesen sei. Darüber hinaus hat nach den vorliegenden
Auskünften eine Beschneidung im Pubertätsalter in den letzten Jahren rapide
abgenommen und eine Beschneidung im Erwachsenenalter findet gar nicht bzw. nur
noch in Einzelfällen statt, vgl. zum Beschneidungsalter etwa: IAK, Auskunft an das VG
Aachen vom 21. August 2002 und AA, Auskunft an das VG Aachen vom 27. Dezember
2002.
Ferner kann die Volkszugehörigkeit der Klägerin selbst nicht eindeutig dem Volksstamm
der Edo zugeordnet werden. Das Gericht geht davon aus, dass die Eltern der Klägerin
entgegen den bisherigen Angaben der Mutter der Klägerin bei der Antragstellung und
Anhörung nicht beide der Volksgruppe der Edo angehören und nicht aus dem gleichem
Dorf (hier: F2. ) bzw. Stadt (Benin-City) stammen. Diesbezüglich lässt sich nämlich der
Ausländerakte des Vaters der Klägerin entnehmen, dass er anlässlich seiner
Asylantragstellung im Jahr 1990 angegeben hat, er komme aus M1. , wo auch seine
Familie (Eltern, zwei Brüder und Schwester) lebe, sei christlichen Glaubens, gehöre
dem Volk der Yoruba an und habe an der Universtiät J. in Oyo State studiert. Auf Vorhalt
hat die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nunmehr eingeräumt, dass
der Vater der Klägerin aus M1. komme, Yoruba spreche, jedoch ihres Wissens dem
Edo-Stamm angehöre. Letztlich konnte sie zur Familie des Vaters der Klägerin keine
weiterführenden Angaben machen. Nach den vorliegenden Erkenntnissen, vgl. etwa
AA, Auskunft an das Bundesamt vom 21. August 2008, ist eher davon auszugehen,
dass Kinder traditionell zur Familie des Vaters gehören. Nach der Erkenntnislage wird
zwar auch bei der Volksgruppe der Yoruba die weibliche Beschneidung im Säuglings-
bzw. Kindesalter praktiziert wird, vgl. etwa IAK, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 5.
August 2003 und an das VG Düsseldorf vom 4. Dezember 1998; ai, Auskunft an das VG
Koblenz vom 16. März 1999.
38
Eine drohende Beschneidungsgefahr über die Familie des Vaters bzw. konkrete
Einzelheiten zur Durchführung von Beschneidungen in dieser Familie sind jedoch nicht
vorgetragen. Zudem ist fraglich, inwieweit der Vater der Klägerin überhaupt noch
Bezugspunkte zu in Nigeria lebenden Verwandten hat, da er sein Heimatland
ausweislich der Ausländerakte bereits vor zwanzig Jahren verlassen hat.
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Gegen eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Genitalbeschneidung spricht
schließlich, dass eine Beschneidung minderjähriger Mädchen in der Regel mit
Zustimmung oder auf Veranlassung der Eltern erfolgt, vgl. etwa AA, Auskunft an das VG
Aachen vom 27. Dezember 2002 und IAK, Auskunft an das VG Aachen vom 21. August
2002,
40
und beide Eltern sich gegen eine Beschneidung der Klägerin ausgesprochen haben.
41
Zwar kann - wie oben bereits angesprochen - mit Blick auf die "Heiratsfähigkeit" der
Mädchen der soziale Druck der (Groß-)Familie zur Durchführung einer Beschneidung
sehr groß sein und auch eine Beschneidung gegen den Willen der Eltern bzw. bei
unehelichen Kindern gegen den Willen der Mutter durchgeführt werden, vgl. etwa AA,
Auskunft an das Bundesamt vom 21. August 2008; IAK, Auskunft an das VG Aachen
vom 21. August 2002 und ai, Auskunft an das VG Aachen vom 6. August 2002.
Es ist jedoch nach den bisherigen Angaben nicht mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass über die Familie der Mutter der Klägerin eine
zwangsweise Beschneidung erfolgen wird bzw. ein unausweichlicher Druck zur
Beschneidung der Klägerin besteht oder im Falle einer Rückkehr voraussichtlich
aufgebaut wird. Nach den Angaben der Mutter Klägerin in der mündlichen Verhandlung
hat das Gericht vielmehr den Eindruck gewonnen, dass gar keine oder nur noch
rudimentäre familiäre Verbindungen der Mutter der Klägerin nach Nigeria bestehen. Die
Mutter der Klägerin hält sich selbst bereits seit dem Jahr 2004 im Bundesgebiet auf und
hat seit diesem Zeitpunkt ihren Angaben zufolge keinen Kontakt zu
Familienangehörigen in Nigeria. Diejenigen Familienmitglieder, die maßgeblichen
Einfluss auf ihre Beschneidung hatten und ebenfalls erheblichen Druck zur
Beschneidung der Klägerin ausüben könnten, sind bereits verstorben oder leben nicht
mehr in Nigeria. So sind die - die Beschneidung der Mutter der Klägerin veranlassende -
Urgroßmutter mütterlicherseits und auch der die Beschneidung unterstützende
Großvater mütterlicherseits bereits verstorben. Die Großmutter mütterlicherseits lebt seit
geraumer Zeit bereits im Bundesgebiet und ist mit einem deutschen Mann verheiratet.
Den Angaben der Mutter der Klägerin zufolge habe zwischen ihr und der Großmutter der
Klägerin bereits in Afrika kein Kontakt mehr bestanden und sei erst im Bundesgebiet
wieder aufgenommen worden. In dem Dorf F2. hat die Mutter der Klägerin ihren
Angaben zufolge zudem seit ihrer Beschneidung nicht mehr gelebt. Auch habe sie nicht
mit ihren Geschwistern zusammengelebt. Die Geschwister der Mutter der Klägerin sind
zum Teil bereits verstorben bzw. deren Aufenthaltsorte sind der Mutter der Klägerin
unbekannt. Zudem lassen die Angaben der Mutter der Klägerin zu ihren
Familienangehörigen Zweifel an deren Glaubhaftigkeit aufkommen, da diese sehr
bruchstückhaft gehalten und teilweise sogar mit Ungereimtheiten durchzogen sind. So
konnte sich die Mutter der Klägerin nur noch teilweise an die Vornamen ihrer
Geschwister erinnern. Zu dem Aufenthaltsort ihrer wohl noch lebenden Schwester gab
sie einerseits an, dass er ihr unbekannt sei, während sie später angab, die Schwester
lebe in M1. . Nicht nachvollziehbar sind insbesondere, die widersprüchlichen Angaben
zum Namen ihrer Mutter - der Großmutter der Klägerin -. In der mündlichen Verhandlung
nannte sie den Namen "Mary Aigbobo", während sie vor dem Bundesamt den Namen
mit "W. B1. " angab und der vorgelegten Kopie der Geburtsurkunde der Name "Victoria
P. " zu entnehmen ist. Diesen Widerspruch konnte die Mutter der Klägerin auch auf
Vorhalt nicht nachvollziehbar aufklären. Insgesamt bestätigt dies jedoch den Eindruck
des Gerichts, dass keine oder kaum noch Anknüpfungspunkte zu einem Teil der -
möglicherweise - noch in Nigeria lebenden Verwandtschaft mütterlicherseits gegeben
sind, der die Durchsetzung einer traditionellen Beschneidung der Klägerin im Falle ihrer
Rückkehr veranlassen könnte.
42
Die Klägerin muss bei einer Rückkehr in ihr Heimatland auch nicht deswegen politische
Verfolgung befürchten, weil sie im Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt hat. Die
Asylantragstellung ist nach der derzeitigen politischen Lage als solche kein Grund, der
seinerseits politische Verfolgung nach sich zieht. vgl. bereits Urteil der Kammer vom 16.
Februar 2004 - 2 K 1416/02.A - und auch AA, Lageberichte vom 11. März 2010 T2. . 24
43
und vom 21. Januar 2009 T2. . 21 jeweils unter Ziffer IV 2.
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG sind - soweit im Asylverfahren zu
berücksichtigten - ebenfalls nicht gegeben. Der Klägerin droht weder eine der in § 60
Abs. 2, 5 i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bezeichneten
Gefahren noch ist ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7
AufenthG gegeben.
44
Bei der Prüfung, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen, kann
allerdings im Rahmen der Gefahrenprognose für den Fall einer Rückkehr der Klägerin
nach Nigeria nicht eine Gemeinschaft der Klägerin mit ihren Eltern bzw. mit einem
Elternteil unterstellt werden. Ausgangspunkt für diese Gefahrenprognose ist eine
möglichst realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrsituation.
Insoweit gelten zwar grundsätzlich die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im
Rahmen der asylrechtlichen Verfolgungsprognose entwickelten Grundsätze
entsprechend, wonach regelmäßig von einer gemeinschaftlichen Rückkehr des
Asylsuchenden mit seinen Familienangehörigen auszugehen ist, falls er auch im
Bundesgebiet mit Ihnen als Familie zusammenlebt. Auch eine etwaige fehlende
Rückkehrbereitschaft der bzw. des Familienangehörigen steht grundsätzlich nicht
entgegen, solange die Schutzgemeinschaft der Familie im Bundesgebiet besteht, vgl.
BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 12/99 -, InfAuslR 2000 T2. . 93 unter
Hinweis auf die Urteile vom 16. August 1993 - 9 C 7/93 -, NVwZ, 1994, 504 und vom 8.
September 1992 - 9 C 8/91 -, NVwZ 1993, 190.
45
Dies - d.h. die Annahme einer gemeinsamen Rückkehr - gilt allerdings nicht, wenn der
betreffende Familienangehörige selbst Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG
genießt, vgl. so BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 12/99 -, a.a.O. zu einer
rechtskräftigen Feststellung nach § 51 Abs. 1 AufenthG.
46
Vorliegend scheidet die Annahme einer gemeinsamen Rückkehr der Klägerin mit
beiden Eltern bereits deshalb aus, weil die Eltern schon seit Frühjahr 2007 getrennt
leben und keine familiäre Lebensgemeinschaft mehr mit dem Vater besteht. Auch eine
gemeinsame Rückkehr mit einem Elternteil kann nicht zugrunde gelegt werden. Auf
Grund der fehlenden Lebensgemeinschaft mit dem Vater im Bundesgebiet, kann im
Rahmen der Gefahrenprognose keine gemeinsame Rückkehr mit dem Vater -
unabhängig von dessen Rückkehrwillen - unterstellt werden. Der Vater der Klägerin lebt
seit Frühjahr 2007 mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen und übt lediglich ein
Umgangsrecht mit der Klägerin aus. Der Annahme einer gemeinsamen Rückkehr der
Klägerin mit ihrer Mutter steht schließlich entgegen, dass die Mutter über eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG verfügt. Zwar beruht das Aufenthaltsrecht der
Mutter der Klägerin anders als in dem Fall, der der oben zitierten Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom 21. September 1999 zugrundelag, nicht auf der -
rechtskräftigen - Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG
wegen einer politischen Verfolgung, sondern es handelt sich lediglich um eine befristete
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Allerdings liegt der Grund für die
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Umstand, dass die Mutter der Klägerin seit
Februar 2008 Mutter eines weiteren Kindes ist, welches die deutsche
Staatsangehörigkeit hat und bei der Mutter lebt. In einer derartigen Lebenskonstellation
wäre es ebenfalls wirklichkeitsfremd und mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung
einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Lebenssituation im - hypothetischen -
Rückkehrfall nicht in Einklang zu bringen, wenn von einer gemeinsamen Rückkehr der
47
Klägerin mit ihrer Mutter ausgegangen würde.
Für die Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8
EMRK (Schutz der Familie) ist im Hinblick auf eine mit einer - hier: hypothetischen -
Abschiebung einhergehenden Trennung der Klägerin von ihrer Mutter bzw. Vater
vorliegend kein Raum. Diese Prüfung fällt nicht in die Zuständigkeit des Beklagten bzw.
des Bundesamtes, sondern obliegt der Ausländerbehörde. Ob die mit einer
Durchführung der Abschiebung einhergehende Trennung der Klägerin von ihrer Mutter
bzw. Vater zulässig ist, ist ausschließlich von der örtlich zuständigen Ausländerbehörde
im Rahmen der ihr obliegenden Prüfung im Zusammenhang mit dem Vollzug einer
Abschiebung zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes
beschränkt sich die Zuständigkeit des Bundesamtes auf sog. zielstaatsbezogene
Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG, die sich der Sache nach aus der
Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für den Ausländer herleiten und damit in
Gefahren begründet sind, die im Zielstaat der Abschiebung drohen. Der Schutz der
Familie im Lichte des Art. 8 EMRK oder auch des Art. 6 GG im Falle einer Trennung
begründet jedoch ein sog. inlandsbezogenes Abschiebungsverbot - auch soweit es sich
um trennungsbedingte Gefahren im Zielstaat handelt - für dessen Prüfung die
Ausländerbehörde zuständig ist. Dabei hat die Ausländerbehörde mit Blick auf Art. 6
Abs. 1 und 2 GG neben der unmittelbaren Trennungswirkung im Inland auch - im
Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - etwaige mittelbare nachteilige Folgen in den
Blick zu nehmen, die minderjährigen Kindern durch die Trennung von seinen Eltern im
Zielstaat der Abschiebung drohen können. Obwohl es sich insoweit um im Zielstaat
auftretende Folgen der Abschiebung handelt, sind sie gleichwohl von der
Ausländerbehörde zu ermitteln und zu berücksichtigen. Danach kann von der
Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort
für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
besteht. Eine solche Gefahrenlage kann möglicherweise entstehen, wenn ohne ihre
Eltern abgeschobene Kinder im Zielstaat wegen der Trennung ohne Beistand wären
und deshalb alsbald in eine existenzielle Notlage geraten könnten.
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Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 12/99 -, a.a.O..
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Anderweitige im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG zu berücksichtigende -
zielstaatsbezogene - Abschiebungsverbote, die in der Person der Klägerin selbst
begründet sind (sog. individuelle Gefahren), vgl. dazu BVerwG, Urteil von 16. Juni 2004
- 1 C 27/03 -, NVwZ 2004, 1371.
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sind nicht vorgetragen oder ersichtlich.
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Die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung nach Nigeria
gemäß § 34 AsylVfG i.V.m. § 59 AufenthG ist ebenfalls rechtmäßig, weil die Klägerin
nicht als Asylberechtigter anerkannt, ihr die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt
worden ist und sie keinen - asylunabhängigen - Aufenthaltstitel besitzt. Die Ausreisefrist
von einem Monat nach unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ergibt sich aus §
38 Abs. 1 AsylVfG.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 i. V. m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m.
§§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
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