Urteil des VG Aachen vom 23.07.2007
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Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 4307/04
Datum:
23.07.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 4307/04
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die Kosten der Unterbringung
von U. B. im Jugendhaus S. e.V. in der Zeit vom 15. August 2001 bis
zum 10. Januar 2002 nebst Zinsen in Höhe von 5 v. H. über dem
Basiszinssatz ab dem 9. Dezember 2004 zu erstatten. Im Übrigen wird
die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt 7/8, der Kläger 1/8 der Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 15.000,00 EUR
vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden,
wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit
leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
1
Der Kläger erstrebt im vorliegenden Verfahren vom Beklagten nach den §§ 102 ff. SGB
X Kostenerstattung in Höhe von 15.533,40 EUR nebst Prozesszinsen in Höhe von 5 %
über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit. Diese Kosten hat der Kläger
in der Zeit vom 15. August 2001 bis zum 1. Februar 2002 für den am 11. Januar 1981
geborenen U. B. während des Aufenthalts desselben im Jugendhaus S. e.V. -S1. - in H.
aufgewandt.
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U. B. hatte im Jahr 2001 einen Hauptschulabschluss nach Klasse 10 und eine
abgebrochene Schreinerlehre aufzuweisen. Seit dem 16. Lebensjahr gab es wegen
einer Drogenproblematik Kontakte zwischen der personensorge- berechtigten Mutter,
die sich überfordert fühlte, und dem zuständigen Jugendamt. Von Dezember 1998 bis
März 1999 war er im Rahmen von Hilfe zur Erziehung in Form einer stationären
Unterbringung/Hilfe für junge Volljährige zu Lasten des Beklagten im G. -w -T. -Haus in
V. -Q. untergebracht. Nach einer Stellungnahme des Resohauses in H. kam der
Jugendliche nach Beendigung der Jugendhilfe erneut mit dem Drogenmilieu in Kontakt.
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Im Juli und August 2000 hatte er zwei Monate Untersuchungshaft in der
Justizvollzugsanstalt L -P. verbracht. Wegen Betrugs und Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz wurde U. B. zu einer Jugendstrafe von acht Monaten verurteilt,
die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Verbunden war damit die Auflage,
14-tägige Drogenscreenings zu liefern und 200 soziale Arbeitsstunden abzuleisten. Seit
Mai 1999 war er nach den Aufzeichnungen in den Verwaltungsvorgängen des Klägers
mehrfach - zuletzt in der Zeit von Ende Mai 2001 bis zum 15. August 2001 - mehrere
Monate wohnungslos. Bis Ende Mai 2001 hatte er zusammen mit seiner Freundin eine
eigene Wohnung, die er nach der Trennung aufgeben musste.
Mit Schreiben vom 9. Juni 2001 beantragte U. B. beim Jugendamt der Stadt I. Hilfe für
junge Volljährige nach § 41 SGB VIII. Die selbständige Wohnungssuche sei gescheitert.
Man habe ihm die Möglichkeit angeboten, im S1. in H. an seinen Problemen zu
arbeiten. Seine Drogenprobleme habe er mittlerweile selbst in den Griff bekommen. Er
brauche aber weiter Hilfe beim selbständigen Wohnen und der Arbeitsaufnahme. Er
würde in diesem Jahr gern eine kaufmännische Ausbildung beginnen.
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Am 27. Juni 2001 leitete die Stadt I. diesen Antrag an das Jugendamt des Beklagten
zuständigkeitshalber weiter. Am 9. August 2001 führte der zuständige Mitarbeiter des
Jugendamtes des Beklagten mit dem Antragsteller und dessen Betreuer einen
Anhörungstermin durch. In diesem Termin machte ausweislich des darüber gefertigten
Vermerks Herr B. geltend, er müsse lernen, mit einer Tagesstruktur umzugehen
(insbesondere aufzustehen); ferner stelle der Umgang mit Geld ein Problem dar.
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Mit Bescheid vom 13. August 2001 lehnte der Beklagte die Hilfegewährung ab. Auf
Grund des Anhörungstermins habe er den Eindruck gewonnen, dass die persönliche
Reife und Entwicklung des Herrn B. altersentsprechend sei. Er habe bereits in der
Vergangenheit durch das Leben in der eigenen Wohnung grundlegende Fertigkeiten
der eigenverantwortlichen Lebensführung erworben. Die Akutproblematik ergebe sich
nicht aus einer Entwicklungsretardierung, sondern aus der Drogenproblematik. Durch
flankierende ambulante Maßnahmen (Drogenberatung, Schuldnerberatung) ließen sich
die bestehenden Probleme lösen. Ferner müsse berücksichtigt werden, dass Herr B. im
Januar 2002 das 21. Lebensjahr vollende und zu diesem Zeitpunkt in der Regel die
Hilfe für junge Volljährige ende. Es sei nicht zu erwarten, dass in nur wenigen Monaten
eine etwaig erforderliche Nachreifung bewirkt werden könne. Den Widerspruch des
Herrn B. wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. September 2001, der
Herrn B. am 17. September 2001 zugestellt wurde, als unbegründet zurück. Dieser
Bescheid und der Widerspruchsbescheid wurden dem Kläger vom S1. am 26.
September 2001 per Fax übermittelt.
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Der Kreis M , der als Beauftragter für den Kläger einen entsprechenden Antrag des
Herrn B. auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72
BSHG - insbesondere zur Überwindung der Wohnungslosigkeit - aufgenommen hatte,
leitete diese Unterlagen an den Kläger weiter. Beigefügt war eine Stellungnahme des
Reso-Hauses in H. vom 24. August 2001.
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Mit Bescheid vom 27. September 2001 bewilligte der Kläger rückwirkend ab dem 15.
August 2001 die Kosten für die Unterbringung U. B1. im S1. im Rahmen der Hilfe zur
Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten als vorläufige Leistung nach § 44
BSHG. Am 1. Februar 2002 verließ Herr B. , der seit dem Beginn des Schuljahres
2001/2002 die Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung besuchte, das S1. in H. .
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Mit Schreiben vom 19. Oktober 2001 machte der Kläger beim Beklagten
Kostenerstattung geltend. Der Beklagte lehnte dies formularmäßig mit Schreiben vom
22. Oktober 2001 ab.
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Der Kläger hat am 9. Dezember 2004 Klage erhoben, mit der er Kostenerstattung nach §
102 SGB X erstrebt. Er habe lediglich vorläufige Leistungen erbracht. Gerade aus den
Berichten des Resohauses ergebe sich, dass bei Herrn B. ein erheblicher Bedarf der
Nachreifung der Persönlichkeit bestanden habe. Dies zu bewirken sei nach der
Regelung des § 10 Abs. 2 SGB VIII zuvörderst Aufgabe der Jugendhilfe. Auch die
Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen - OVG
NRW -, wonach der vorleistende Sozialhilfeträger an ihm bekannte bestandskräftige
Ablehnungen eines anderen zur Leistung verpflichteten Sozialleistungsträgers
gebunden sei, wenn er von seinem Recht nach § 91 a BSHG keinen Gebrauch mache,
könne ihm nicht entgegengehalten werden. Zum einen gehe es hier um einen Anspruch
nach § 102 SGB X, während in den vom OVG NRW entschiedenen Fällen um einen
Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X gestritten worden sei. Zum anderen halte er die
Entscheidungen für rechtlich falsch. Nach seiner Auffassung habe der Sozialhilfeträger
ein Wahlrecht zwischen einem Vorgehen nach § 91 a BSHG und der Geltendmachung
von Erstattungsansprüchen. Dies besage zumindest die höchstrichterliche
Rechtsprechung des BSG und des LSG NRW. Nach der Kommentarliteratur zu dem §
91 a BSHG inhaltsgleichen § 95 SGB XII liege es im pflichtgemäßen Ermessen des
Sozialhilfeträgers, ob er von der Ermächtigung des § 95 SGB XII Gebrauch mache.
Durch die Entscheidungen des OVG NRW werde dieses Ermessen für sämtliche
Fallkonstellationen auf Null reduziert. Auch die Heranziehung des § 86 SGB X trage
nicht. Diese Vorschrift verpflichte zur engen Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger,
damit dem Bürger keine Nachteile aus dem gegliederten System der
Sozialleistungsträger entstünden. Dem Bürger entstehe kein Nachteil, wenn der
Sozialhilfeträger sein Ermessen ausübe, ob er nach § 91a BSHG oder nach den §§ 102
ff. SGB X vorgehe. Der Bürger sei in keinem dieser Fälle beteiligt. Beide Ansprüche
setzten in der Regel vielmehr voraus, dass der Bürger die gewünschte Hilfe erhalte bzw.
erhalten habe. Auch mit dem Verweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zu § 44 SGB X lasse sich die obergerichtliche
Rechtsprechung nicht stützen Das Bundesverwaltungsgericht habe in der Entscheidung
vom 13.3.2003 - 5 C 6.02 -, BVerwGE 118, 52 ff., betont, dass im Erstattungsverfahren
die materielle Sozialleistungsverpflichtung "selbständig zu prüfen" sei, "unabhängig
davon, ob der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger die Leistung im
Verhältnis zum Berechtigten bestandskräftig" abgelehnt habe. Auch in seiner neuesten
Entscheidung (Urteil vom 20.10.2005 - 5 C 28.03 -, FEVS 57, 347 ff.) halte das
Bundesverwaltungsgericht an dieser Auffassung fest. Im Übrigen könne es beim
Betreiben eines Feststellungsverfahrens nach § 91 a BSHG, § 95 SGB XII eher der Fall
sein, dass der Leistungsberechtigte doch noch in das Verfahren einbezogen werde
anders als etwa bei der Kostenerstattung. Es könne gelegentlich vorkommen, dass der
Hilfeempfänger bei vorläufigen Leistungen und einem Vorgehen nach § 91 a BSHG
zum Beispiel dem Heimbetreiber für die Heimkosten zivilrechtlich zahlungspflichtig
bleibe, während die Kostenerstattung zwingend die vorherige Leistungserbringung
durch einen Sozialleistungsträger voraussetze. Es könne auch nicht festgestellt werden,
dass dieser Problematik wegen § 14 SGB IX nur noch eine untergeordnete Bedeutung
zukomme.
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Der Kläger beantragt (schriftsätzlich),
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den Beklagten zu verurteilen, die von ihm in dem Zeitraum vom 15. August 2001 bis
zum 1. Februar 2002 im Hilfefall U. B. erbrachten Aufwendungen in Höhe von 15.533,40
EUR nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu
erstatten.
12
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
14
Er tritt der Klage unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des OVG NRW entgegen.
Er hält insbesondere seinen Leistungen der Jugendhilfe versagenden Bescheid in
Sachen U. B. für rechtmäßig.
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Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Verfahren
gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Klägers (Beiakte I) und
des Beklagten (Beiakte II) Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Aufgrund des übereinstimmenden Verzichts der Beteiligten auf mündliche Verhandlung
kann die Kammer gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne
Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden.
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Die Klage ist bezüglich der im Zeitraum vom 15. August 2001 bis zum 10. Januar 2002
für U. B. erbrachten Leistungen im S1. in H. begründet; der Beklagte ist insoweit zur
Kostenerstattung an den Kläger verpflichtet. Hinsichtlich des Zeitraums vom 11. bis zum
1. Februar 2002 war die Klage abzuweisen.
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Nach § 102 Abs. 1 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger
erstattungspflichtig, wenn ein Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften
vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet
sich nach § 102 Abs. 2 SGB X nach den für den vorleistenden Leistungsträger
geltenden Rechtsvorschriften.
21
Die Voraussetzungen eines Erstattungsbegehrens nach dieser Vorschrift sind hier
gegeben. Der Kläger hat mit Bescheid vom 27. September 2001 die von U. B.
beantragte Hilfe im S1. in H. für die Zeit vom 15. August 2001 bis 1. Februar 2002 als
Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG bewilligt
und die von ihm für den Empfänger erbrachten Leistungen als vorläufige Leistungen
gemäß § 44 BSHG bezeichnet. Dieses Vorgehen war in der gegebenen Situation die
zutreffende Entscheidung. Denn nachdem der Beklagte als örtlich zuständiger
Jugendhilfeträger die Leistungsgewährung abgelehnt hatte, war der Kläger, der am 15.
August 2001 als überörtlicher Sozialhilfeträger über die Notlage des U. B. unterrichtet
worden war, gehalten, die notwendigen Maßnahmen unverzüglich zu veranlassen, weil
ansonsten zu befürchten war, dass dem Hilfesuchenden die erforderlichen Hilfen, die er
benötigte, um zukünftig selbständig und ohne Inanspruchnahme von staatlichen
Transferleistungen zu leben, nicht gewährt würden. Als eine solche geeignete Hilfe kam
zum damaligen Zeitpunkt auch die sozialpädagogische Betreuung im S1. in H. in
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Betracht. Damit steht zugleich fest, dass es sich nach § 44 Abs. 2 BSHG bei dem
Kostenerstattungsbegehren um einen Erstattungsanspuch nach § 102 SGB X handelt.
Der Beklagte war als örtlicher Jugendhilfeträger vorrangig vor dem Kläger als
überörtlichem Träger der Sozialhilfe der zur Bewilligung der Kosten der Betreuung von
U. B. im S1. in H. verpflichtete Leistungsträger.
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Das Verhältnis der Jugendhilfe zur Sozialhilfe war im hier maßgeblichen Zeitraum
August 2001 bis Februar 2002 in § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII a.F., die bis zum 30.
September 2005 (seit dem 1. Oktober 2005: § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII) galt, geregelt.
Danach gehen Leistungen nach dem SGB VIII Leistungen nach dem BSHG vor. Die
Sonderregelungen für die Eingliederungshilfe (§ 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F.) und die
Frühförderung (§ 10 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII) können für den vorliegenden Rechtsstreit
außer Betracht bleiben. Der Jugendhilfeträger - also hier der Beklagte - ist gemäß § 10
Abs. 2 SGB VIII zuständiger Leistungsträger, wenn es sich bei der dem Hilfeempfänger
gewährten Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72
BSHG (seit dem 1. Januar 2005: §§ 67 ff. SGB XII) um eine Maßnahme handelt, die dem
Leistungsprofil der Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII entspricht, es sich
mithin insoweit tatsächlich um konkurrierende Leistungen handelt.
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Dies ist hier der Fall.
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Jugendhilfe und Sozialhilfe sind zwei umfassende sozialrechtliche Hilfesysteme mit
unterschiedlichen Aufgaben, die nicht aufeinander abgestimmt sind und in sich selbst
teilweise unsystematisch und von großer begrifflicher Unschärfe gekennzeichnet sind,
26
Wiesner in Wiesner, u.a., SGB VIII, 3. Aufl. 2006 § 10 Rdnr. 31.
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Sie lassen sich deshalb nicht allgemeingültig voneinander abgrenzen. Die Vor- und
Nachrangregelung stellt nicht auf einen Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden
Hilfeleistungen ab, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden
Leistungen. Schon ganz allgemein wird in der Literatur gerade die Hilfe für junge
Volljährige für den anspruchsberechtigten Personenkreis als vorrangig gegenüber der
Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gesehen,
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vgl Wiesner in Wieser u.a., SGB VIII, 2 Aufl. 2000, §10 Rdnr. 27; ders. SGB VIII, 3. Aufl.
2006, § 10 Rdnr. 32; Kindle in LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 41 Rdnr. 24; Fischer In
Schellhorn u.a., SGB VIII, 3 Aufl. 2007, § 41 Rdnr. 22.
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Dies gilt zumindest in all den Fällen, in denen Mängel und Defizite in der
Persönlichkeitsstruktur des jungen Volljährigen bestehen, die seine individuelle
Situation prägen und die mit sozialpädagogischen Mitteln im Rahmen einer
jugendhilferechtlichen Maßnahmen bearbeitet werden können. Das heißt zugleich, dass
nur in besonders gelagerten Fällen, etwa wenn der junge Volljährige ausdrücklich keine
seine persönliche Entwicklung fördernden Maßnahme der Jugendhilfe wünscht,
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vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 4. Juli 2007 - 12 A 1266/97 -,
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sondern es ihm nur um die Sicherung des Lebensunterhalts sowie um Hilfe zur
Erlangung einer Wohnung und einer Arbeitsstelle geht oder sozialpädagogische Mittel
der Jugendhilfe von vornherein zur Behebung der Defizite nicht geeignet sind oder von
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vornherein nicht ausreichen, eine Konkurenzsituation von sozialhilfe- rechtlicher und
jugendhilferechtlicher Hilfemöglichkeit zu verneinen ist.
Eine solche Situation liegt indes hier nicht vor. Der junge Volljährige wollte hier
ausdrücklich Leistungen der Jugendhilfe. Er wollte gerade ein Hilfeangebot, das unter
Rückgriff auf sozialpädagogische Mittel mit ihm an seinen Problemen arbeitet, wie zum
Beispiel Schaffung und Einhaltung einer Tagesstruktur mit dem Ziel der Sicherung
eines Besuchs einer Fachschule oder des Beginns einer Lehre, des Findens und
Haltens einer Wohnung, der Regulierung bestehender und der Vermeidung neuer
Schulden, dem Ziel der Einteilung und des Umgangs mit Geld überhaupt und des
Entwickelns von Strategien zur Erreichung der Drogenabstinenz. Bei dieser Problematik
ist die Einschätzung des Jugendamtes des Beklagten, wie sie in den die Jugendhilfe
versagenden Bescheide zum Ausdruck gekommen ist, allgemeine Hilfsangebote wie
Schuldner- und Drogenberatung seien ausreichend, nach Überzeugung der Kammer
offensichtlich nicht haltbar. Sie verkennt, dass der junge Volljährige durch die
Bewährungsstrafe vielmehr als in der Vergangenheit motiviert war, selbst an dem
Erreichen der Ziele mitzuarbeiten. Auch der Umstand, dass bei Antragstellung nur noch
ein beschränkter Zeitraum von einem guten halben Jahr bis zur Vollendung des 21.
Lebensjahres zur Verfügung stand, gibt zu keiner abweichenden Entscheidung Anlass.
Zum einen kann bei dem Druck, wie er beispielsweise hier von einer Bewährungsstrafe
ausgeübt wurde, auch in einem solchen zugegeben kurzen Zeitraum eine
entsprechende Nachreifung in Gang gesetzt werden, um das angestrebte Ziel der
Persönlichkeitsentwicklung zu erreichen. Darüber hinaus wäre es zum Zeitpunkt der
Vollendung des 21. Lebensjahres möglich zu überprüfen, ob ein begründeter Einzelfall
vorliegt, in dem die Hilfegewährung über das 21. Lebensjahr hinaus möglich ist. Zum
anderen muss das Ziel der Jugendhilfe nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung
auch bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres nicht erreicht werden. Es genügt, dass
ein entsprechender zielgerichteter Entwicklungsprozess in Gang kommt, der zu einer
Festigung der Persönlichkeit führt.
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Anderseits war der Erstattungsanspruch hier auf den Zeitraum vom 15.August 2001 bis
zur Vollendung des 21. Lebensjahres (hier: 10. Januar 2002) zu beschränken. Denn zu
diesem Zeitpunkt endet nach § 41 Abs. 1 SGB VIII in der Regel die Hilfe für junge
Volljährige. Dass ein begründeter Einzelfall vorgelegen hätte, für den Hilfe über das 21.
Lebensjahr hinaus zu leisten war, ist weder vom Kläger vorgetragen noch offensichtlich.
Die Klage war deshalb für den Zeitraum vom 11. Januar 2002 bis zum 1. Februar 2002
abzuweisen.
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Der Entscheidung steht auch die Rechtsprechung des OVG NRW zu § 104 SGB X nicht
entgegen,
35
vgl. Urteil vom 22. März 2006 - 12 A 2094/05 - und Beschluss vom 1. August 2006 - 12 A
1164/06 -,
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wonach der nachrangige Sozialleistungsträger grundsätzlich verpflichtet ist,
Regelungen des Sozialleistungsverhältnisses zum Hilfeempfänger durch den
vorrangigen Sozialleistungsträger hinzunehmen. Zum einen ist die Rechtsprechung in
einer besonderen Fallkonstellation und zu einer anderen Vorschrift ergangen, und es ist
nicht ersichtlich, dass diese Rechtsprechung auch auf Fälle der Kostenerstattung nach §
102 SGB X übertragen wird. Die Kammer folgt im vorliegenden Fall der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts, das in mehreren Entscheidungen zu § 102 SGB X,
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vgl. Urteil vom 13. März 2003 - 5 C 6.02 - NDV-RD 2003, 102 ff., und Urteil vom 20.
Oktober 2005 - 5 C 28.03 -, FEVS 57, 347 ff.
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entschieden hat, dass in einem solchen Erstattungsverfahren dem Anspruch nicht
entgegensteht, ob der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger eine
Leistung im Verhältnis zum Berechtigten bestandskräftig abgelehnt hat.
39
Nach alledem sind die Zuständigkeit des Beklagten als des örtlichen Jugendhilfeträgers
für die dem Hilfeempfänger gewährte Maßnahme und ein Anspruch des Klägers auf
Übernahme der ihm entstandenen Kosten gemäß § 102 Abs. 1 SGB X zu bejahen.
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Der Erstattungsanspruch konnte allerdings nicht beziffert werden, da er neben dem
einrichtungsbezogenen Anteil der Kosten (bis 31.12.2001 kalendertäglich 70,97 EUR,
ab dem 1.1.2002 kalendertäglich 71,68 EUR), der leicht zu ermitteln ist, auch auf den
Erstattungszeitraum entfallende Kosten laufender Hilfe zum Lebensunterhalt (insgesamt
1.448,24 EUR) nebst einmaliger Beihilfen für Bekleidung (178,95 EUR) und
Weihnachten (32,19 EUR) sowie Krankenkosten (1.787,77 EUR) umfasst.
Bekleidungsbeihilfen werden üblicherweise im Frühjahr und Herbst ausgezahlt und
dürften wie die Weihnachtsbeihilfen vom Erstattungszeitraum erfasst sein. Allerdings ist
dem Gericht eine Klärung nach Aktenlage, wann die Arztkosten entstanden sind, nicht
möglich. Es ist aber davon auszugehen, dass die Beteiligten diese Frage auch ohne
Einschaltung des Gerichts klären können.
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Der Beklagte war weiter zu verurteilen, den dem Kläger zustehenden
Kostenerstattungsanspruch ab Rechtshängigkeit der Klage in der zugesprochenen
Höhe zu verzinsen. Dies ergibt sich aus der sinngemäßen Anwendung der §§ 291, 288
Abs. 1 BGB und ist höchstrichterlich anerkannt,
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BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 - 5 C 34.00-, BVerwGE 114, 61 ff.
43
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO. Die
Quotelung berücksichtigt das jeweilige Obsiegen und Unterliegen. Das Verfahren ist -
da nach dem 31. Dezember 2001 bei Gericht eingegangen - nicht mehr
gerichtskostenfrei (§ 194 Abs. 5 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
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Die Berufung war zuzulassen, da die Rechtssache besondere rechtliche
Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist.
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