Urteil des VG Aachen vom 03.06.2005
VG Aachen: aufschiebende wirkung, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, aufenthaltserlaubnis, europa, besondere härte, öffentliches interesse, tunesien, arbeitserlaubnis, abkommen
Verwaltungsgericht Aachen, 3 L 1036/04
Datum:
03.06.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 L 1036/04
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen die in der
aufenthaltsrechtlichen Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 6.
Oktober 2004 enthaltene Versagung der
Aufenthaltserlaubnisverlängerung und Androhung der Abschiebung wird
angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
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1. Der Antrag mit dem durch Auslegung nach § 88 der Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) ermittelten Inhalt,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen die in der aufenthaltsrechtlichen
Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 6. Oktober 2004 enthaltene Versagung
der Aufenthaltserlaubnisverlängerung und Androhung der Abschiebung anzuordnen,
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ist als Aussetzungsbegehren nach § 80 Abs. 5 VwGO insgesamt zulässig und
begründet.
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Soweit der Antragsteller sich gegen die Versagung der Verlängerung seiner am 29. Mai
2000 bis zum 28. Mai 2001 erteilten Aufenthaltserlaubnis wendet, erweist sich der nach
§ 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag auch als der zulässige Rechtsbehelf, weil dem am 2.
Mai 2001 gestellten Verlängerungsantrag des Antragstellers die Fiktionswirkung des §
69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 des bis zum 1. Januar 2005 geltenden Ausländergesetzes
(AuslG) zukam und der Widerspruch gegen die Ablehnung eines Antrages auf Erteilung
oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 72 Abs. 1 AuslG keine
aufschiebende Wirkung hat.
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An dieser Rechtslage hat sich durch das ab 1. Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz
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(AufenthG) nichts geändert. Die im Falle der Beantragung einer
Aufenthaltsgenehmigung unter der Geltung des Ausländergesetzes vorgesehenen
Rechtsfolgen bleiben unverändert. Eine danach - wie hier - eingetretene
Fiktionswirkung ist gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 AufenthG weiterhin beachtlich. War
bisher keine Fiktionswirkung eingetreten, so hat es damit mangels einer Regelung im
Aufenthaltsgesetz gleichfalls sein Bewenden. In einem derartigen Fall hilft auch der an
die Stelle des § 69 AuslG getretene § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG nicht weiter. Dieser
kann von vornherein eine Fiktionswirkung nur vermitteln, wenn die Erteilung oder
Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes
beantragt worden ist. Denn die von § 69 Abs. 3 AuslG ebenso wie von § 81 Abs. 4
AufenthG geforderte Kontinuität des rechtmäßigen Aufenthalts kann nur durch das bei
der Antragstellung geltende Recht gewahrt werden,
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31. Januar 2005 - 18 B 915/04 -, Juris.
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Der Aussetzungsantrag betreffend die Versagung der beantragten Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis ist auch begründet.
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Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden
Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung
des angefochtenen Verwaltungsaktes und dem Individualinteresse des Betroffenen an
einem einstweiligen Aufschub der Vollziehung überwiegt hier das letztgenannte
Interesse des Antragstellers. Eine offensichtliche Rechtmäßigkeit der angegriffenen
Versagung vermag die Kammer nicht festzustellen. Vielmehr schätzt sie die
Erfolgsaussichten des erhobenen Widerspruchs bzw. einer nachfolgenden Klage
angesichts ungeklärter Rechtsfragen des Gemeinschaftsrechts als offen ein mit der
Folge, dass der Wahrung der Rechtsschutzinteressen des Antragstellers das
maßgebliche Gewicht zukommt.
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Zwar bestehen keine Bedenken daran, dass der Antragsgegner einen Anspruch auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter dem Gesichtspunkt der familiären Gründe
verneint hat.
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So besteht die eheliche Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit der deutschen
Staatsangehörigen H. X. nicht mehr, vgl. insoweit § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG und nunmehr
§ 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Die Lebensgemeinschaft der Eheleute hat im Anschluss an
die Eheschließung am 7. Februar 2000 - nach den unwidersprochen gebliebenen
Feststellungen des Antragsgegners - auch nicht zwei Jahre bestanden, vgl. insoweit §
19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG und nunmehr § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Ferner kann eine
besondere Härte im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AuslG und nunmehr
§ 31 Abs. 2 AufenthG nicht angenommen werden.
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Allerdings ist derzeit offen und einer abschließenden Klärung im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren nicht zugänglich, ob der Antragsteller als tunesischer
Staatsangehöriger seit dem Zeitpunkt des Auslaufens seiner letzten
Aufenthaltserlaubnis im Mai 2001 über ein konstitutives Aufenthaltsrecht gemäß Art. 64
Abs. 1 des am 1. März 1998 in Kraft getretenen Europa-Mittelmeer-Abkommens mit
Tunesien,
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vgl. das Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen
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Republik andererseits, Amtsblatt Nr. L 097 vom 30. März 1998, S. 2 bis 183,
verfügt und ihm damit auch nach nationalem Recht einen Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis zusteht.
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Zunächst ist der Antragsteller ein Arbeitnehmer im Sinne des genannten Abkommens.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH) ist Arbeitnehmer jeder, der eine tatsächliche und echte
Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen
Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das
wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung
darin, das jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen
Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält,
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vgl. EuGH, Urteile vom 23. März 1982 - Rs 53/81 - (Levin) und vom 21. Juni 1988 - Rs
197/86 (Brown), m.w.N.
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Der Antragsteller steht nach der vorgelegten Bescheinigung vom 9. November 2004 in
einem unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnis mit einem
Personaldienstleistungsunternehmen namens Adecco.
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Durch Vorlage einer entsprechenden Kopie hat der Antragsteller im Verlauf des
Eilverfahrens auch glaubhaft gemacht, dass ihm am 5. Juni 2000 eine unbefristete
Arbeitsberechtigung nach § 286 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch
i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr.1 der Arbeitsgenehmigungsverordnung erteilt worden ist. Diese
Arbeitsberechtigung war zum Zeitpunkt des Auslaufens seiner Aufenthaltserlaubnis im
Mai 2001 nicht erloschen und ist auch nach wie vor wirksam. Davon geht im Übrigen
auch der Antragsgegner aus, wenn er an seiner Ordnungsverfügung festhält, in der es
u.a. heißt:
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"Die Fortführung einer Erwerbstätigkeit wird ihnen bis zur Ausreise im Rahmen einer
Ihnen vom Arbeitsamt erteilten Arbeitserlaubnis gestattet."
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Angesichts des Umstandes, dass der Antragsteller in einem dauerhaften
Beschäftigungsverhältnis steht, stellt sich vorliegend die Frage, ob der Antragsteller sich
in Anwendung der Vorschrift des Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer- Abkommens mit
Tunesien auf ein (assoziationsrechtliches) Aufenthaltsrecht berufen kann. Nach diesem
Abkommen gewähren die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den tunesischen
Arbeitnehmern, die in ihrem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung, die
gegenüber den Arbeitnehmern aus dem eigenen Mitgliedstaat hinsichtlich der Arbeits-,
Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen keine auf der Staatsanghörigkeit beruhende
Benachteiligung bewirkt.
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Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat in der Rechtssache El- Yassini,
vgl. Urteil vom 2. März 1999 - Rs. C-3416/96 (El-Yassini)- InfAuslR 1999, 218ff.,
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zu der im Wortlaut fast identischen Vorschrift des Art. 40 Abs. 1 des
Kooperationsabkommens/EWG mit Marokko, vgl. Kooperationsabkommen zwischen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko, Amtsblatt Nr. L
264 vom 27. September 1978 S. 2 bis 118,
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entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis trotz
Wegfalls des ursprünglichen Grundes für die Gewährung des Aufenthaltsrechts dann
nicht versagen dürfen, wenn dem Betroffenen von dem Aufnahmemitgliedstaat in Bezug
auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den
Aufenthalt verliehen worden sind. Dies sei dann der Fall, wenn die dem Betroffenen
vom Mitgliedstaat gewährte Aufenthaltserlaubnis kürzer als die Arbeitserlaubnis wäre
und der Mitgliedstaat vor Ablauf der Arbeitserlaubnis eine Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hätte, ohne dies mit Gründen des Schutzes eines
berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründen der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit und Gesundheit rechtfertigen zu können.
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Es spricht einiges dafür, dass die El-Yassini-Rechtsprechung des Gerichtshofs auch auf
die Vorschrift des Art. 64 Abs.1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien
übertragen werden kann. Allerdings obliegt die Klärung dieser Rechtsfrage allein dem
Gerichtshof. Die Mitgliedstaaten haben ihm ein Monopol zur Auslegung des
Gemeinschaftsrechts eingeräumt, wie sich aus Art. 234 EG-Vertrages über das
Vorabentscheidungsverfahren ergibt. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht E.
mit Beschluss vom 25. Januar 2005 - - dem Gerichtshof in der Rechtssache (H1. ) u.a.
folgende Auslegungsfragen gestellt:
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"1. Entfaltet Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien (ABI. L 97 vom
30.03.1998) aufenthaltsrechtliche Wirkung?
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Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 1. bejaht wird:
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2. Kann aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 64 des Europa- Mittelmeer-
Abkommens mit Tunesien eine aufenthaltsrechtliche Position abgeleitet werden, die
einer Befristung des Aufenthaltsrechts entgegensteht, wenn ein tunesischer
Staatsangehöriger im Besitz einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung ist, tatsächlich
einer Beschäftigung nachgeht und im Zeitpunkt der ausländerrechtlichen Entscheidung
über ein befristetes Aufenthaltsrecht verfügt ?"
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Unzweifelhaft ist Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien als Ausdruck
des Diskriminierungsverbots zu verstehen. Zur näheren Auslegung dieses
Strukturprinzips des Gemeinschaftsrechts und der Bestimmung seiner
aufenthaltsrechtlichen Wirkungen, wenn - wie hier - die von der nationalen Verwaltung
unbefristet erteilte Arbeitsberechtigung über die Geltungsdauer einer befristeten
Aufenthaltserlaubnis hinausgeht, liegt dem Gerichtshof darüber hinaus in der
Rechtssache (H2. ) ein Vorlagebeschluss der 8. Kammer des angerufenen
Verwaltungsgerichts vom 29. Dezember 2004 - -vor.
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Damit bleibt bleibt abzuwarten und ist nach der Einschätzung der Kammer auch als
offen anzusehen, ob der zur Entscheidung berufene Gerichtshof die vom
Bundesverwaltungsgericht, vgl. Urteil vom 1. Juli 2003 - 1 C 18/02 -, DVBl. 2004, 119,
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und im Anschluss daran vom Oberverwaltungsgerichtes NRW, vgl. Beschluss vom 30.
März 2004 - 19 B 1530 -,
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vertretene und für den Antragsteller ungünstige Rechtsauffassung stützt. Danach wäre
eine aufenthaltsrechtliche Wirkung der in den Europa-Mittelmeer-Abkommen
formulierten assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbote aufgrund der von den
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deutschen Behörden zwar "unbefristet" und damit an sich ohne Einschränkung der
zeitlichen Geltungsdauer erteilten Arbeitserlaubnis im Wesentlichen deshalb zu
verneinen, weil derartige Arbeitserlaubnisse nach der nationalen Rechtsordnung nicht
dazu bestimmt sind, ein vom Zweck der Aufenthaltsgenehmigung unabhängiges,
gleichsam überschießendes Recht auf Fortsetzung einer nicht selbstständigen
Erwerbstätigkeit und auf weiteren Aufenthalt einzuräumen.
Da somit die Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens und einer Klage nach
alledem nicht hinreichend sicher beurteilt werden können, ist eine umfassende
Interessenabwägung erforderlich, die zu Lasten des Antragsgegners ausgeht. Dabei ist
zu berücksichtigen, dass der Antragsteller in einem festen Arbeitsverhältnis erwerbstätig
ist und trotz eines schweren Arbeitsunfalles am 20. März 2001, als er bei seiner Arbeit in
einer Müllverbrennungsanlage aus ca. 2-3 m Höhe auf eine metallische Kante eines
Förderbandes stürzte, nicht von der Gewährung öffentlicher Mittel abhängig ist. Das
private Interesse des Antragstellers an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet für
die Dauer eines Klageverfahrens steht auch nicht ein anderweitiges öffentliches
Interesse entgegen. Dabei ist im Hinblick auf die den Verwaltungsakten zu
entnehmenden Verurteilungen zu Geldstrafen in den Jahren 1997 und 1999 zu
berücksichtigen, dass das Bestehen eines gemeinschaftsrechtlichen und damit
konstitutiven Aufenthaltsrechts in Betracht zu ziehen ist, welches nur aufgrund des
Vorliegens schwerwiegender und in der Person des Betroffenen liegender Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung Beschränkungen unterliegt. Derartige Gründe sind
jedenfalls derzeit nicht erkennbar.
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Soweit sich der Antrag des Antragstellers auf die in der angefochtenen
Ordnungsverfügung enthaltene Abschiebungsandrohung bezieht, handelt es sich um
den zulässigen Rechtsbehelf, da nach der Regelung des § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO
i.V.m. § 8 AGVwGO NRW der Widerspruch gegen die Abschiebungsandrohung keine
aufschiebende Wirkung entfaltet.
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Der Aussetzungsantrag ist begründet, weil bereits das Vorliegen der Ausreisepflicht als
Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung zweifelhaft erscheint. So
könnte - wie dargelegt - die Auslegung des Diskriminierungsverbotes in Art. 64 des
Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien angesichts der dem Antragsteller
unbefristet erteilten Arbeitsberechtigung zu einem konstitutiven Aufenthaltsrecht nach
Gemeinschaftsrecht führen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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2. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes in der Höhe der Hälfte des nach
§ 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) bestimmten Regelwertes erscheint das
Antragsinteresse mit Rücksicht auf den vorläufigen Charakter dieses Verfahrens
ausreichend und angemessen zu berücksichtigen.
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