Urteil des VG Aachen vom 08.07.2004
VG Aachen: gewöhnlicher aufenthalt, stadt, stationäre behandlung, sozialhilfe, indien, besuch, sicherheitsleistung, besitz, arbeitsstelle, vollstreckung
Verwaltungsgericht Aachen, 1 K 343/03
Datum:
08.07.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 343/03
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren
Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in dieser Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Die beteiligten Sozialhilfeträger streiten um die Erstattung von Kosten, die der Kläger in
der Zeit vom 11. Dezember 2000 bis 19. August 2002 im Sozialhilfefall des Herrn C.
aufgewendet hat.
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Herr C. , der sich selbst als "keltischer Priester" bezeichnet, wohnte ursprünglich in L. in
der Verbandsgemeinde P. L1. . Am 2. Oktober 2000 flog er - nach seinen Angaben auf
Einladung des Shiva-Trust - nach Indien. Während seines dortigen Aufenthaltes wurde
die Wohnung in L. am 11. Oktober 2000 von einem Gerichtsvollzieher zwangsgeräumt.
Da Herr C. zum Zeitpunkt der Rückkehr aus Indien am 24. Oktober 2000 von der
Zwangsräumung ausging, begab er sich unmittelbar nach seiner Ankunft am Flughafen
Luxemburg zu einem Bekannten nach N. , der ihm ein Obdach zur Verfügung stellte. Am
7. November 2000 beantragte er bei dem Bürgermeister der Stadt N. Hilfe zum
Lebensunterhalt und erklärte, dass "er sich als Gast in N. aufhalte; er werde sich in
Kürze in Geroldstein anmelden; er gehe davon aus, in zirka drei Wochen in das Objekt
"Wassermühle N1. " umziehen zu können, weil der "Orden der Kraft e.V." derzeit den
Kaufpreis für das Objekt überweise." Tatsächlich hatte eine Gesellschaft bürgerlichen
Rechts, der Herr C. angehört(e), zu diesem Zeitpunkt schon den Kaufvertrag für das
Objekt unterzeichnet. Noch im Laufe des Monats November zog Herr C. nach H. , N1. ,
jetzt: N2. Straße 77, und meldete sich dort zum 22. November 2000 an. Nachdem der
Bürgermeister der Stadt N. den Antrag auf laufende Leistungen und Krankenhilfe nach
dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) mit Bescheid vom 13. November 2000 abgelehnt
hatte, beantragte Herr C. unter dem 11. Dezember 2000 bei der Verbandsgemeinde H.
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Hilfe zum Lebensunterhalt, die ihm mit Bescheid vom 27. Dezember 2000 bewilligt
wurde.
Unter dem 11. Januar 2001 begehrte der Kläger bei der Stadt N. die Anerkennung der
Kostenerstattungspflicht nach § 107 Abs. 1 BSHG unter Hinweis darauf, dass Herr C.
sich vor dem Zuzug nach H. in N. aufgehalten habe.
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Diesen Antrag lehnte der Bürgermeister der Stadt N. unter dem 2. Mai 2001 mit der
Begründung ab, Herr C. habe sich vom 24. Oktober bis 21. November 2000 lediglich
besuchsweise in N. aufgehalten, sodass ein gewöhnlicher Aufenthalt i. S. d. § 30 Abs. 3
Satz 2 SGB I in N. nicht vorgelegen habe.
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Daraufhin befragte ein Mitarbeiter des Sozialamtes der Verbandsgemeinde H. Herrn C.
am 25. Mai 2001 erneut zu den näheren Umständen seines Aufenthaltes in N. .
Nunmehr erklärte Herr C. , "er habe sich in N. nicht nur zu Besuch aufgehalten;
nachdem seine Wohnung in L. zwangsgeräumt wurde, sei er nach N. zu einem
Bekannten gezogen; er habe sich dort aber keineswegs nur zu Besuch aufgehalten,
sondern es sei sein einziger Wohnsitz gewesen; eine Anmeldung bei dem
Einwohnermeldeamt sei jedoch nicht erfolgt."
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Auf das erneute Begehren des Klägers lehnte der Beklagte als der zuständige
Sozialhilfeträger mit Schreiben vom 13. November 2001 eine Kostenerstattungspflicht
endgültig ab. Ergänzend führte er aus, dass Herr C. zu keiner Zeit den Willen bzw. die
Absicht gehabt habe, die Stadt N. zum Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen zu
machen und dies zu verwirklichen. Ein gewöhnlicher Aufenthalt sie demnach in N. nicht
begründet worden.
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Der Kläger hat am 22. Februar 2003 Klage erhoben. Er führt zur Begründung aus:
Entscheidend sei, dass es sich bei dem Aufenthalt des Herrn C. in N. nicht um einen
vorübergehenden oder besuchsweisen Aufenthalt gehandelt habe. Herr C. habe
beabsichtigt, bis auf weiteres in N. zu bleiben, weil es für den geplanten Umzug nach H.
noch keinen konkreten Termin gegeben habe. Ein deutlicher Ausdruck für diesen Willen
des Herrn C. sei die eigenständige Kennzeichnung des Briefkastens in N. , wie sie in
dem Aktenvermerk vom 8. November 2000 niedergelegt sei. Der Erstattungsanspruch
sei auch der Höhe nach berechtigt. Der Umstand, dass Herr C. im Besitz eines Pkw
gewesen sei, dessen Verwertung nicht gefordert worden sei, könne dem Kläger nicht
entgegengehalten werden. Das Fahrzeug sei zum damaligen Zeitpunkt bereits als
Sicherheitsleistung an einen Kreditgeber des Herrn C. verpfändet gewesen, sodass der
Einsatz der Sozialhilfe auch dann erforderlich gewesen wäre, wenn eine Veräußerung
des Fahrzeugs erfolgt wäre. Im Übrigen habe man sich fortlaufend bemüht, Herrn C. in
eine Arbeitsstelle zu vermitteln. Dies sei jedoch sehr schwierig gewesen, da er ständig
Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit vorgelegt und auch erklärt habe, er erwarte
eine stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Klinik. Trotz dieser
Schwierigkeiten habe er zum 15. August 2002 in eine Arbeitsstelle vermittelt werden
können.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 9.781,44 EUR für Hilfe zum
Lebensunterhalt und 2.787,25 EUR für Krankenhilfe im Fall des Herrn C. nebst fünf
Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hält an seiner Auffassung fest, dass Herr C. einen gewöhnlichen Aufenthalt in N.
nicht begründet habe. Dies gehe aus seinen Angaben anlässlich der Beantragung von
Hilfe zum Lebensunterhalt bei der Stadt N. am 7. und 8. November 2000 hervor. Dabei
habe er erklärt, dass er in wenigen Wochen nach N1. umziehen werde, wie es dann
auch tatsächlich am 22. November geschehen sei. Interessanterweise habe er auch bei
der Beantragung von Hilfe zum Lebensunterhalt bei der Verbandsgemeinde H. erklärt,
dass er am 22. November 2000 nicht von N. , sondern von L. nach H. zugezogen sei.
Aber selbst dann, wenn Herr C. in N. einen gewöhnlichen Aufenthalt gegründet habe,
bestehe der Anspruch auf Kostenerstattung nicht. Der Kläger habe den
Interessenwahrungsgrundsatz nach § 111 Abs. 1 Satz 1 BSHG nicht eingehalten. Er
habe nicht alle möglichen Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen, die erforderlich
gewesen seien, die erstattungsfähigen Kosten möglichst niedrig zu halten. So sei er den
Zweifeln an der Hilfsbedürftigkeit des Herrn C. , die sich daraus ergäben, dass jener im
Besitz eines Pkw gewesen sei, nicht weiter nachgegangen. Auch habe der Kläger sich
nicht ausreichend bemüht, Herrn C. eindringlich anzuhalten, seine Arbeitskraft zu
verwerten. Nach seiner - des Beklagten - Auffassung wäre es sicherlich hilfreich
gewesen, ein vertrauensärztliches oder psychoanalytisches Gutachten über Herrn C.
einzuholen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der vom Kläger und vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Der Kläger besitzt gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf Kostenerstattung.
Die Voraussetzungen des § 107 Abs. 1 BSHG sind nicht erfüllt. Verzieht nach dieser
Vorschrift eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts, ist der Träger
der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen
örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von
Einrichtungen im Sinne von § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Person
innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. Die
Verpflichtung entfällt, wenn für einen zusammenhängenden Zeitraum von zwei Monaten
keine Hilfe zu gewähren war.
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Mangels einer näheren Regelung im Bundessozialhilfegesetz zur Bestimmung des
Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthaltes ist gemäß § 37 Satz 1 SGB I die
Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I heranzuziehen mit der Maßgabe, dass der
unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck sowie
Regelungsgehalt der jeweiligen Norm auszulegen ist. Danach ist zur Begründung eines
gewöhnlichen Aufenthalts ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich. Es
genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf
weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt
seiner Lebensbeziehungen hat.
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Vgl.: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
7. November 2003 - 12 A 3187/01 -, m. w. N.
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Nach Maßgabe dieser Rechtsprechung lässt sich im Fall des Herrn C. nicht feststellen,
dass er in der Zeit vom 24. Oktober 2000, d. h. unmittelbar nach seiner Rückkehr aus
Indien, bis Mitte November 2000 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in N. genommen hat.
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Zweifel an der Aufnahme eines gewöhnlichen Aufenthalts des Herrn C. in N. ergeben
sich schon aus der Dauer des Aufenthalts, der jedenfalls noch unter einem Monat liegt.
Damit stimmt auch die Erklärung des Herrn C. vom 7. November 2000 gegenüber dem
Bürgermeister der Stadt N. überein, dass "er (d. h. Herr C. ) davon ausgehe, in zirka drei
Wochen in das Objekt 'Wassermühle N1. ' umziehen zu können". Mit dieser Erklärung
mag ein Verbleib in N. "bis auf weiteres" angedeutet sein, weil eben zum 7. November
2000 für Herrn C. noch nicht feststand, wann er denn nach H. umziehen kann.
Andererseits stand das "Weitere", nämlich der Umzug in das vom "Orden der Kraft e. V."
käuflich erworbene Objekt, als Faktum schon fest und realisierte sich tatsächlich auch
kurze Zeit später. Hierdurch erweist sich auch die Annahme des Herrn C. am 7.
November 2000, dass er sich nur als Gast in N. aufhalte, als zutreffend, sodass sich
auch der dortige Verbleib nicht verfestigt hatte. Für Herrn C. war zu Beginn des
November 2000 sein Verbleib in N. nicht "zukunftsoffen". Für ihn war zu diesem
Zeitpunkt offensichtlich klar, dass er nach erfolgter Überweisung des Kaufpreises
unmittelbar nach H. umziehen würde. Insoweit erweist sich auch das subjektive
Empfinden des Herrn C. , dass sein Zuzug in die Verbandsgemeinde H. von L. aus, d. h.
seinem früheren Wohnort, erfolge, wie er am 11. Dezember 2000 bei seiner
Antragstellung auf Hilfe zum Lebensunterhalt angegeben hat, durchaus als objektiv
zutreffend.
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Demgegenüber ist seine Erklärung vom 25. Mai 2001, "er habe sich in N. nicht nur zu
Besuch aufgehalten", inhaltlich nicht nachvollziehbar und durch objektive Umstände
nicht begründbar. Zum einen fällt auf, dass Herr C. anlässlich dieser Erklärung, die
gegenüber einem Mitarbeiter des Sozialamtes der Verbandsgemeinde H. erfolgt ist,
nicht ausdrücklich erklärt hat, er habe in N. seinen "gewöhnlichen Aufenthalt"
genommen. Die Erklärung des Herrn C. wirkt aufgesetzt und muss insbesondere in den
zeitlichen Kontext einbezogen werden, in dem sie entstanden ist. Die Erklärung wurde
nämlich ausdrücklich abgefragt, nachdem der Bürgermeister der Stadt N. unter dem 2.
Mai 2001 das Kostenerstattungsbegehren abgelehnt hatte mit der Begründung, Herr C.
habe nicht den Willen zum dauerhaften Verbleib in N. gehabt. Unter diesen Umständen
ist die in dem Vermerk des Mitarbeiters des Sozialamtes aufgenommene Erklärung des
Herrn C. wenig aussagekräftig und belegt keineswegs, dass Herr C. trotz der oben
geschilderten Umstände im November 2000 dennoch seinen gewöhnlichen Aufenthalt
in N. nehmen wollte. Letztlich ergibt sich dies auch nicht aus dem Umstand, dass nach
den Feststellungen des Bürgermeisters der Stadt N. am 8. November 2000 auf dem
Briefkasten an der Haustür in der F.------- straße 57, N. , zwei Aufkleber befestigt waren,
die den Namen S. C. und zum zweiten die Bezeichnung "C. Unternehmensberatung -
Geschäftsstelle" enthielten. Dies allein dokumentiert noch nicht den gewöhnlichen
Aufenthalt in N. . Wie ausgeführt, ist die Annahme und Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthalts im Sinne des sozialhilferechtlichen Erstattungsrechts erheblich
vielschichtiger. Allein mit dem Anbringen von Namensschildern an einem Briefkasten
wird noch nicht dokumentiert, dass der Betreffende an diesem Ort den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen einnimmt. Die Kennzeichnung eines Briefkastens mit dem Namen
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bedeutet regelmäßig nur, dass die betreffende Person unter dieser Adresse postalisch
erreichbar ist. Davon sind jedoch die weiteren Lebensbeziehungen, die
ausschlaggebend für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts sind, nicht erfasst.
Da ein gewöhnlicher Aufenthalt des Herrn C. in N. nicht anzunehmen ist, bedarf es
keiner weiteren Ausführungen zu dem von dem Beklagten geltend gemachten Verstoß
des Klägers gegen den Interessenwahrungsgrundsatz.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr.
11, 711 ZPO.
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