Urteil des VG Aachen vom 25.02.2010
VG Aachen (kläger, verhältnis zwischen, jugendhilfe, hilfeleistung, aufgaben, höhe, jugendamt, verwaltungsgericht, errichtung, unterbringung)
Verwaltungsgericht Aachen, 1 K 2415/08
Datum:
25.02.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 2415/08
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige
Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des
Vollstreckungsbetrages leistet.
T a t b e s t a n d :
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Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung zur Kostenerstattung für die Kinder- und
Jugendhilfe zugunsten der T. -B. I. . Sie ist am 5. Juli 1995 geboren; ihre allein
personensorgeberechtigte Mutter ist Frau N. P. , wohnhaft in H. .
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Am 3. April 2000 wurde T. -B. zu Pflegeeltern im Kreis P1. in Obhut gegeben; die
anfallenden Kosten erstattete der damals zuständige Beigeladene jeweils an den
Kläger; das Kostenanerkenntnis datiert vom 18. März 2002. Nach der Einschulung im
August 2003 in eine Grundschule wechselte T. -B. im März 2005 in eine Schule für
Lernbehinderte. Auch diese Kosten erstattete der Beigeladene dem Kläger.
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Aufgrund gravierender Auffälligkeiten im Rahmen der Pflegefamilie erstellte die Klinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie M. ein Gutachten über die Erziehungssituation und
empfahl die Unterbringung von T. -B. in einem Pflegeheim. Entsprechend wechselte sie
zum 11. Juli 2005 in das Haus "C.---weg " in T1. -C1. . Der Beigeladene erkannte
gegenüber dem Kläger seine Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII und
seine Kostenerstattungspflicht gemäß § 89 c SGB VIII an. Die praktische
Fallbearbeitung erfolgte bis zum 31. Dezember 2005 weiterhin durch das Jugendamt
des Klägers. Ab dem 1. Januar 2006 übernahm das Jugendamt des Beigeladenen die
Fallbearbeitung.
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Unter dem 4. April 2006 forderte der Kläger die Erstattung der Jugendhilfekosten für die
Zeit vom 11. Juli bis 31. Dezember 2005 in Höhe von 35.231,98 EUR.
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Dieser Forderung widersprach der Beigeladene mit Schreiben vom 13. April 2006 und
zog gleichzeitig sein Kostenanerkenntnis vom 18. März 2002 zurück. Im Rahmen der
praktischen Fallbearbeitung habe er festgestellt, dass für T. -B. ein Anspruch auf
Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bestehen könnte, weil sie offensichtlich
behindert sei. Zuständig für eine derartige Eingliederungshilfe sei der
Landschaftsverband X. -M1. . Dies hätte auch der Kläger erkennen müssen. Dass er die
Forderung nicht gegenüber dem Landschaftsverband X. -M1. geltend gemacht habe,
zeige, dass er die Interessen des Beigeladenen nicht ordnungsgemäß verfolgt habe.
Deshalb scheide ein Kostenerstattungsanspruch aus.
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Der Landschaftsverband X. -M1. lehnte sodann gegenüber dem Beigeladenen die
Kostenübernahme ab.
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Nachdem die Beklagte zum 1. Januar 2008 ein eigenes Jugendamt errichtet hatte und
für ihr Stadtgebiet Funktionsträger für die Kinder- und Jugendhilfe geworden war,
verwies der Beigeladene den Kläger an die Beklagte. Letztere erklärte unter dem 12.
August 2008, nicht sie, sondern der Beigeladene sei weiterhin für die Kostenerstattung
zuständig. Dies resultiere daraus, dass die Angelegenheit bereits vor dem 1. Januar
2008 entscheidungsreif gewesen und deshalb im Rahmen der Rechtsnachfolge nicht
auf sie übergegangen sei.
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Nach wechselseitigem Schriftverkehr, in dessen Rahmen der Beigeladene gegenüber
dem Kläger u. a. auf die Einrede der Verjährung bezüglich des
Kostenerstattungsanspruchs verzichtete, hat der Kläger schließlich unter dem 17.
Dezember 2008 Klage erhoben. Die Beklagte sei mit Wirkung vom 1. Januar 2008
Rechtsnachfolgerin des Beigeladenen geworden und deshalb zur Kostenerstattung
verpflichtet. Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger die in dem Jugendhilfefall T. -B. I. in der Zeit
vom 11. Juli 2005 bis 31. Dezember 2005 aufgewendeten Jugendhilfekosten von
35.231,98 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 v. H. über dem Basiszinssatz ab
Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Da die Frage der Kostenerstattung schon im April/Mai 2006 entscheidungsreif gewesen
sei, könne die verwaltungstechnische Verzögerung nicht zu ihren Lasten gehen.
Anlässlich der Errichtung des Jugendamtes sei sie mit dem Beigeladenen einig
gewesen, dass er für die Abwicklung der abgeschlossenen Hilfefälle weiterhin
zuständig sei. Der Vorgang T. -B. I. müsse schon deshalb als abgeschlossen gelten,
weil die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen für einen Kostenerstattungsanspruch
im April/Mai 2006 hinreichend geklärt gewesen seien und nur noch der Mittelfluss
ausgestanden habe. Zumindest könne sich der Beigeladene gegenüber seiner
Kostenerstattungspflicht nicht darauf berufen, dass er selbst der Pflicht zur zügigen
Bearbeitung des Verwaltungsvorgangs nicht nachgekommen sei.
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Der Beigeladene beantragt ebenfalls,
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die Klage abzuweisen.
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Er hält sich weder materiell noch formell zur Kostenerstattung verpflichtet. Da der Kläger
seiner Obliegenheit zur interessengerechten Wahrnehmung der Rechte des
Beigeladenen nicht nachgekommen sei, könne er eine Kostenerstattung nicht
beanspruchen. Im Übrigen sei der Beigeladene nach der Errichtung des Jugendamtes
durch die Beklagte für Verfahren aus deren Stadtgebiet nicht mehr zuständig.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen, die sämtlich
Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen
Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für die in dem
Jugendhilfefall T. -B. I. in der Zeit vom 11. Juli bis 31. Dezember 2005 aufgewendeten
Jugendhilfekosten von 35.231,98 EUR.
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Die Abweisung des Klagebegehrens folgt allerdings nicht schon daraus, dass der
Kläger anlässlich seiner Fallbearbeitung vom 11. Juni bis 31. Dezember 2005 die
Interessen des - damals örtlich und funktional zuständigen - Beigeladenen fehlerhaft
wahrgenommen hätte. Der Vorhalt des Beigeladenen, der Kläger hätte aufgrund des
Gutachtens der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie M. erkennen müssen, dass T. -
B. I. möglicherweise geistig behindert sei, sodass der Landschaftsverband X. -M1. für
deren Eingliederungshilfe zuständig gewesen sei, trägt in zweierlei Hinsicht nicht. Dem
Beigeladenen war es nach Übernahme der praktischen Fallbearbeitung und Kenntnis
des o.g. Gutachtens ohne rechtliche Einschränkungen möglich, seinerseits
Erstattungsansprüche gegen den Landschaftsverband X. -M1. geltend zu machen.
Insoweit wäre die i.S.d. § 89f Abs. 1 SGB VIII behauptete fehlerhafte
Interessenwahrnehmung des Klägers zu Lasten des Beigeladenen nicht ursächlich für
einen Ausschluss des Anspruchs des Beigeladenen gegenüber dem
Landschaftsverband X. -M1. . Zum anderen verkennt der Beigeladene den
Regelungsgehalt des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, auf den er seine Argumentation
stützt. Soweit es dort heißt, dass Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften
Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen
Behinderung bedroht sind, Leistungen nach diesem Buch (d.h. nach SGB VIII)
vorgehen, hat dies keine Auswirkung auf das Kostenerstattungsbegehren. Nach der
obergerichtlichen Rechtsprechung, vgl. Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg
vom 25. Juli 2007 - 4 LB 90/07 -; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Mai
2008 - BVerwG 5 B 203.07 -,
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der sich die Kammer anschließt, hat § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nur Bedeutung für die
Kostentragung im Verhältnis zwischen dem Jugendhilfeträger und dem
Sozialhilfeträger. Für das Verhältnis der Kinder- und Jugendhilfe zu anderen Leistungen
und Verpflichtungen i. S. d. § 10 SGB VIII sind zwei verschiedene Ebenen zu
unterscheiden: Eine Ebene ist die unmittelbare Feststellung des Vor- bzw. Nachrangs
der Leistungen der Jugendhilfe bzw. der Sozialhilfe. Konkurrieren Jugendhilfeleistungen
(bspw. die Heimerziehung nach dem SGB VIII) mit Maßnahmen der Eingliederungshilfe
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nach Sozialhilferecht (bspw. Heimunterbringung wegen geistiger Behinderung), ist nach
§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII die Sozialhilfe vorrangig. Hiervon zu unterscheiden ist die
Ebene der Kostenerstattung zwischen dem tatsächlich leistenden Jugendhilfeträger und
dem gem. § 86 SGB VIII zur Leistung verpflichteten Jugendhilfeträger. Für das
Verhältnis der einzelnen Jugendhilfeträger untereinander ist § 10 SGB VIII ohne Belang.
Dies bedeutet wiederum, dass der gem. § 86 SGB VIII zur Leistung verpflichtete
Jugendhilfeträger dem Erstattungsanspruch des tatsächlich leistenden
Jugendhilfeträger nicht entgegenhalten kann, dass er sich wegen der Kostenübernahme
unmittelbar an den Sozialhilfeträger hätte wenden müssen.
Mithin ist entscheidungserheblich, ob die Beklagte infolge der Errichtung ihres
Jugendamtes zum 1. Januar 2008 auch für die hier streitige Jugendhilfe für T. -B. I.
kostenerstattungspflichtig geworden oder der Beigeladene kostenerstattungspflichtig
geblieben ist.
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Die entsprechende Verordnung vom 5. September 2007 (GV. NRW 2007, 370), mit der
das Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration die Beklagte zum
örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe für ihr Stadtgebiet bestimmt hat, beschränkt
sich auf diesen Ausspruch. Zu möglichen Zweifelsfragen, die sich aus Anlass des
Funktionsübergangs von dem Beigeladenen auf die Beklagte ergeben können, verhält
sich die Verordnung nicht. Der schlichte - mit Wirkung vom 1. Januar 2008 - bestimmte
Zuständigkeitswechsel kann demnach nur bedeuten, dass grundsätzlich alle zu dem
konkreten Zuständigkeitsbereich gehörenden Aufgaben übergehen sollten. Dies betrifft
zum einen alle Aufgaben, die nach dem Zuständigkeitswechsels neu anfallen. Hinzu
kommen diejenigen Aufgaben, die vor dem Zuständigkeitswechsel entstanden, aber bei
dessen Beginn noch nicht abgeschlossen sind. Denn ein neu errichtetes Jugendamt
erhält die Sach- und Entscheidungsbefugnis auch für solche Fälle, welche einen
Hilfeanspruch für einen vor der Rechtsnachfolge liegenden Zeitraum betreffen; für die
Bestimmung der funktionellen Zuständigkeit kommt es auf den Entstehungszeitpunkt der
Leistungsverpflichtung nicht an,
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vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-X. (OVG NRW), Urteil vom 21. Juni
2007 - 12 A 4088/05 -.
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Darin erschöpft sich allerdings auch die Funktionsnachfolge. Sie betrifft die Aufgaben,
d.h. die tatsächlichen Hilfen (einschließlich deren Kosten), soweit sie noch nicht
abgeschlossen sind. Ist hingegen die konkrete Aufgabe im Sinne einer Hilfeleistung für
den Betroffenen erfüllt und steht (nur) noch deren finanzielle Abwicklung an, kann nicht
mehr von einer Funktionsnachfolge gesprochen werden. Dies betrifft nicht die Hilfefälle,
in denen die gleiche Hilfe weiter gewährt sowie fortlaufend Kosten aufgewendet werden
und erst nachträglich, d.h. nach einem Zuständigkeitswechsel für die in der
Vergangenheit erbrachte Hilfeleistung Kosten geltend gemacht werden. Eine
Funktionsnachfolge ist jedoch dann nicht mehr gegeben, wenn die Hilfeleistung aus der
Vergangenheit nach Art und Umfang klar abgegrenzt werden kann und sich von der zum
Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsel erfolgenden Hilfeleistung deutlich unterscheidet.
In diesem Fall tritt der aktuelle Jugendhilfeträger als Funktionsnachfolger eben nur in die
derzeit bestehende Aufgabe ein und übernimmt die hieraus resultierenden
Leistungsverpflichtungen; die Kosten der abgeschlossenen Maßnahme aus der
Vergangenheit können ihm nicht aufgebürdet werden.
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So liegt es hier. Zum einen hat sich die Hilfeart für T. -B. I. zum 11. Juli 2005 geändert.
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Zu diesem Zeitpunkt endete die Hilfe in Form der Unterbringung in der Pflegefamilie und
wechselte in die stationäre Unterbringung in einem Pflegeheim. Damit wurde der
Beigeladene gemäß § 86 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII (wieder) örtlich zuständig für die
Hilfegewährung; die nachfolgende tatsächliche Hilfegewährung durch den Kläger
beruhte ab diesem Zeitpunkt auf § 86 c Satz 1 SGB VIII. Zum anderen endete die
praktische Fallbearbeitung durch den Kläger zum 31. Dezember 2005, als er die
Hilfegewährung und die Bearbeitung an den Beigeladenen abgab. Demnach ist die
Hilfeleistung für diesen Zeitraum und ihrer Art nach klar abgrenzbar von den anderen
Maßnahmen zugunsten der T. -B. I. und in sich abgeschlossen.
Hieraus folgt, dass die Beklagte hinsichtlich des Kostenerstattungsbegehrens für die
Aufgabenerledigung in dem hier maßgeblichen Zeitraum nicht als Funktionsträgerin und
damit Rechtsnachfolgerin des Beigeladenen anzusehen ist. Gegenüber der Forderung
des Klägers bleibt weiterhin der Beigeladene kostenerstattungspflichtig. Dies ist die
Folge seiner funktionalen Zuständigkeit des in sich abgeschlossenen Teils der Kinder-
und Jugendhilfe von Juli bis Dezember 2005.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen waren erstattungsfähig, weil er ebenfalls
einen förmlichen Antrag gestellt hat, vgl. §§ 154, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO i. V. m. 708 Nr. 11 Alt. 2, 711, 709
Satz 2 ZPO.
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