Urteil des VG Aachen vom 29.08.2007
VG Aachen: behandlung, betroffene person, verwaltungsakt, auflage, realschule, körperverletzung, feststellungsklage, verfügung, anhörung, ausführung
Verwaltungsgericht Aachen, 6 K 551/07
Datum:
29.08.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 551/07
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der durch die
Anrufung des örtlich unzuständigen Verwaltungsgerichts Köln
entstandenen Mehr- kosten, die der Beklagte trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des jeweiligen Vollstreckungsbetrags
abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 16. August 1993 geborene Kläger ist Schüler der Städtischen Realschule V. -Q.
.
2
Am 18. Januar 2007 erstattete ein Mitschüler gegen ihn und andere Strafanzeige wegen
gefährlicher Körperverletzung. Nach den Angaben des Anzeigeerstatters werde er seit
August 2006 von verschiedenen Jungen aus seiner Klasse - darunter der Kläger -
nahezu täglich während der Pausenzeiten gehänselt, geschlagen und getreten.
Letztmalig sei er am Vortag der Anzeigeerstattung mit einem Zeigestock auf den
Oberschenkel geschlagen worden. Dieser Vorfall sei durch einen Mitschüler per
Mobiltelefon aufgenommen worden.
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Am 30. Januar 2007 beschloss die Städtische Realschule V. -Q. , dem Kläger einen
schriftlichen Verweis zu erteilen und ihn für eine Woche vom Unterricht auszuschließen.
In der Begründung heißt es, der Kläger habe zusammen mit anderen mehrfach einen
Mitschüler geschubst und getreten. Auch als ein Mitschüler eine solche Aktion mit
seinem Handy aufgenommen habe, habe der Kläger wissentlich daran teilgenommen.
4
Am 2. Februar 2007 hörte der Beklagte den Kläger im Zuge des Ermittlungsverfahrens
wegen gefährlicher Körperverletzung (Staatsanwaltschaft Aachen 704 Js 299/07) als
Tatverdächtigen an. Der Kläger erklärte, er wolle keine Aussage machen.
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Ebenfalls am 2. Februar 2007 behandelte der Beklagte den Kläger
erkennungsdienstlich.
6
Mit Verfügung vom 2. Februar 2007 bestätigte der Beklagte die Anordnung einer
erkennungsdienstlichen Behandlung gegen den Kläger und ordnete die sofortige
Vollziehung an, weil aufgrund der fortgesetzten Begehung eine Wiederholungsgefahr
bestehe.
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Der Kläger erhob am 2. März 2007 Widerspruch.
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Mit Verfügung vom 16. März 2007 stellte die Staatsanwaltschaft Aachen das Verfahren
704 Js 299/07 gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) ein, weil der Kläger
zur Tatzeit 14 Jahre alt und damit strafunmündig gewesen sei.
9
Am 1. April 2007 beantragte der Kläger beim Beklagten die Vernichtung der über ihn
angefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen.
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Mit Schreiben vom 25. April 2007 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass er die
Vernichtung der am 2. Februar 2007 gefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen
veranlasst habe.
11
Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2007 wies die Bezirksregierung Köln den
Widerspruch zurück. Der Widerspruch des Klägers sei mit der Vernichtung der
erkennungsdienstlichen Unterlagen unzulässig geworden. Einen Fortsetzungsfest-
stellungswiderspruch gebe es nicht.
12
Der Kläger hat am 16. Mai 2007 - entsprechend der dem Widerspruchsbescheid
beigefügten Rechtsmittelbelehrung - Klage beim Verwaltungsgericht Köln erhoben.
Dieses hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 8. Juni 2007 an das erkennende Gericht
verwiesen.
13
Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger vor, die in der erkennungsdienstlichen
Behandlung liegende schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung wirke fort. Die
Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung sei bereits nichtig gewesen. Er
könne als Minderjähriger nicht Beschuldigter i.S.v. § 81 b StPO sein. Seine Identität
habe nicht in Zweifel gestanden. Der vernehmende Polizeibeamte habe die
erkennungsdienstliche Behandlung angeordnet, um ihn zu veranlassen, sich zu dem
Vorwurf zu äußern. Diese Verknüpfung stelle eine vollendete Nötigung dar. Jedenfalls
sei der Verwaltungsakt rechtswidrig. Eine Notwendigkeit zur erkennungsdienstlichen
Behandlung habe nicht bestanden.
14
Der Kläger beantragt,
15
festzustellen, dass die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung durch den
Beklagten vom 2. Februar 2007 nichtig war,
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hilfsweise,
17
festzustellen, dass die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung durch den
Beklagten vom 2. Februar 2007 rechtswidrig war.
18
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
20
Er trägt vor, im Falle des Klägers habe zunächst ein besonderes kriminalistisches
Interesse an der Anlegung der erkennungsdienstlichen Unterlagen zur Erleichterung
künftiger Ermittlungen bestanden. Die weiteren Ermittlungen hätten jedoch dazu geführt,
dass auf die Aufbewahrung der erkennungsdienstlichen Unterlagen habe verzichtet
werden können.
21
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge (2 Hefte)
Bezug genommen. Bezug genommen wird darüber hinaus auf den Inhalt der
Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Aachen 704 Js 299/07.
22
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
23
Der Hauptantrag ist zulässig, aber unbegründet.
24
Statthafte Klageart ist insoweit gemäß § 43 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) die Feststellungsklage. Nach dieser Vorschrift kann durch Klage unter anderem
die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger
ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Sein Begehren, die
Nichtigkeit der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung vom 2. Februar
2007 feststellen zu lassen, kann der Kläger danach im Wege der Feststellungsklage
verfolgen.
25
Der in § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO niedergelegte Grundsatz der Subsidiarität der
Feststellungsklage steht der Zulässigkeit der Klage gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 VwGO
nicht entgegen. Die Möglichkeit einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage oder - wie
hier der hilfsweise erhobenen - Fortsetzungsfeststellungsklage schließt die Zulässigkeit
einer Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts nicht aus.
26
Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 43 Rn. 7.
27
Der Kläger hat auch ein von § 43 Abs. 1 VwGO verlangtes berechtigtes Interesse an der
begehrten Feststellung der Nichtigkeit der Anordnung der erkennungsdienstlichen
Behandlung vom 2. Februar 2007. Dieses ist vorliegend in einem Interesse an
Rehabilitierung zu sehen.
28
Das berechtigte Interesse i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO schließt jedes als schutzwürdig
anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Art ein. Zu den
Hauptfällen, in denen das Feststellungsinteresse als gegeben anzusehen ist, zählt auch
das Interesse an Rehabilitierung. In der Rechtsprechung ist geklärt, welcher Art ein
Rehabilitationsbedürfnis sein muss, um ein (Fortsetzungs- )Feststellungs-interesse zu
begründen, insbesondere, dass dieses Bedürfnis nach Genugtuung durch
diskriminierendes Verwaltungshandeln und dem innewohnende Beeinträchti-gungen
des Persönlichkeitsrechts oder sonstiger grundrechtsgeschützter ideeller Interessen
ausgelöst werden kann.
29
Vgl. etwa Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 3. März 2005 - 2 B
109.04 -, juris; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 43 Rn. 23.
30
Nach diesen Grundsätzen kommt dem Kläger ein Rehabilitationsinteresse zu, weil der
Beklagte ihn am 2. Februar 2007 erkennungsdienstlich behandelte. Denn mit einer auf
den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung und das Bestehen einer
Wiederholungsgefahr gegründeten Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung
ist ein gravierender Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 des
Grundgesetzes (GG) i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbunden.
31
Vgl. etwa Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen (OVG NRW),
Beschlüsse vom 7. März 2001 - 5 B 1972/00 -, NRWE-Datenbank, und vom 13. Januar
1999 - 5 B 2562/98 -, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1999, 2689;
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH B.-W.), Urteil vom 18. Dezember
2003 - 1 S 2211/02 -, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungsreport
(NVwZ-RR) 2004, 572.
32
Der Hauptantrag ist jedoch unbegründet.
33
Die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung vom 2. Februar 2007 war nicht
nichtig.
34
Ein Nichtigkeitsgrund des § 44 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) war nicht gegeben.
35
Es bestand auch keine Nichtigkeit gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG NRW.
36
Nach dieser Regelung ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders
schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht
kommenden Umstände offenkundig ist.
37
Besonders schwere - formelle und materielle - Fehler sind solche, die mit der Rechts-
ordnung unter keinen Umständen vereinbar sind. Der Verstoß muss über die unrichtige
Anwendung hinausgehen und schlechthin unerträglich für die Rechtsordnung sein.
38
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 1970 - VIII C 23.68 -, NJW 1971, 578; Sachs, in:
Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Auflage 2001, § 44 Rn. 100 f.
39
Nichtig kann danach ein Verwaltungsakt sein, der sich als gesetzlos und bewusst ohne
Rücksicht auf die gesetzlichen Anforderungen getroffene Willkürmaßnahme darstellt.
40
Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Auflage 2001, § 44 Rn. 102 f.
41
Gemessen an diesem Maßstab litt die Anordnung der erkennungsdienstlichen
Behandlung vom 2. Februar 2007 nicht an einem besonders schwerwiegenden, zur
Nichtigkeit führenden Fehler.
42
Bei ihr handelte es sich nicht um einen "gesetzlosen Verwaltungsakt" bzw. um eine
bewusst getroffene Willkürmaßnahme, weil sie sich auf die Ermächtigungsgrundlage
des § 14 Abs. 1 Nr. 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordhrein-Westfalen (PolG
NRW) stützen ließ.
43
Vgl. bereits hier insoweit OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1999 - 5 B 2562/98 -,
NJW 1999, 2689.
44
Ein über eine unrichtige Rechtsanwendung hinausgehender und für die Rechtsordnung
schlechthin unerträglicher Verstoß ist auch nicht deswegen ersichtlich, weil der
anordnende Polizeibeamte die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung -
wie der Kläger behauptet - unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 PolG NRW aus sachwidrigen
Erwägungen getroffen hätte, um den Kläger zu einer Aussage zu veranlassen.
45
Für eine solche Verknüpfung findet sich in den Akten bereits kein Anhalt. Dagegen
spricht vielmehr, dass der Kläger ausweislich des Protokolls über seine Anhörung als
Tatverdächtiger auf seine Schuldunfähigkeit gemäß § 19 des Strafgesetzbuchs (StGB)
hingewiesen worden war und ohnehin von seinem Aussageverweigerungsrecht
Gebrauch gemacht hatte.
46
Der Hilfsantrag ist gleichfalls zulässig, aber unbegründet.
47
Er ist als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft.
48
Hat sich der Verwaltungsakt vorher - d. h. nach Klageerhebung, aber vor der
gerichtlichen Entscheidung - durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das
Gericht gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO auf Antrag durch Urteil aus, dass der
Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an
dieser Feststellung hat. Diese Regelung gilt analog für die Fälle des Eintritts der
Erledigung von Klageerhebung.
49
Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 113 Rn. 99.
50
Die streitgegenständliche Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung hat sich
vor Klageerhebung erledigt. Mit der Vernichtung der über den Kläger angefertigten
erkennungsdienstlichen Unterlagen, die der Beklagte seinem Schreiben an den Vater
des Klägers vom 25. April 2007 zufolge am selben Tag veranlasste, entfiel die mit der
Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung verbundene Beschwer.
51
Vgl. zum Begriff der Erledigung allgemein: Kröninger/ Wahrendorf, in:
Fehling/Kastner/Wahrendorf, VwVfG/VwGO, 2006, § 113 Rn. 73; insbesondere für die
Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung: Bayerischer
Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Beschluss vom 13. September 2006 - 24 C 06.967 -,
juris.
52
Im Anschluss an das oben Ausgeführte folgt das berechtigte Interesse des Klägers an
der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung der erkennungsdienstlichen
Behandlung aus seinem Interesse an Rehabilitierung nach einem Eingriff in sein
allgemeines Persönlichkeitsrecht.
53
Der Hilfsantrag ist jedoch unbegründet.
54
Die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung vom 2. Februar 2007 war
rechtmäßig und verletzte den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und
Satz 4 VwGO analog).
55
Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung
war der bereits erwähnte § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW.
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Nach dieser Vorschrift kann die Polizei eine erkennungsdienstliche Behandlung
vornehmen, wenn das zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist,
weil die betroffene Person verdächtig ist, eine Tat begangen zu haben, die mit Strafe
bedroht ist und wegen der Art und Ausführung der Tat die Gefahr der Wiederholung
besteht.
57
§ 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW war vorliegend anwendbar. Er wurde nicht durch die
konkurrierende Bestimmung des § 81 b 2. Alt. StPO verdrängt.
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Auf § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW können erkennungsdienstliche Maßnahmen zur
vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten nur gestützt werden, soweit nicht die
konkurrierende Vorschrift des § 81 b 2. Alt. StPO anlässlich eines Strafverfahrens gegen
einen "Beschuldigten" zur Gewinnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen für
präventivpolizeiliche Zwecke ermächtigt. § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW enthält keine sich
mit § 81 b 2. Alt. StPO überschneidende Regelung, sondern ermächtigt nur zu solchen
erkennungsdienstlichen Maßnahmen, die außerhalb von Strafverfahren von der Polizei
zu präventiven Zwecken angefertigt werden. In Betracht kommen danach insbesondere
Maßnahmen gegen Personen, die nicht "Beschuldigte" i.S.d. § 81 b 2. Alt. StPO sind,
also zum Beispiel Strafunmündige oder rechtskräftig Verurteilte.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1999 - 5 B 2562/98 -, NJW 1999, 2689 unter
Bezugnahme auf die Landtags-Drucksache 8/4080, S. 57.
60
Demzufolge konnte die streitbefangene Verfügung des Beklagten ihre Rechtsgrundlage
in § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW finden. Denn der am 16. August 1993 geborene Kläger
war in dem in Rede stehenden Tatzeitraum, der sich nach den Angaben des
Geschädigten im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Aachen 704 Js 299/07
von August 2006 bis zum 18. Januar 2007 erstreckte, gemäß § 19 StGB schuldunfähig,
weil er bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt war.
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Die Voraussetzungen für die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung
gegenüber dem Kläger waren im vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der Erledigung,
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vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 - 3 C 25.84 -, Amtliche
Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 72, 43 ff.;
Kröninger/Wahrendorf, in: Fehling/ Kastner/Wahrendorf, VwVfG/VwGO, 2006, § 113 Rn.
99; zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bei nicht erledigten Anordnungen der
erkennungsdienstlichen Behandlung siehe BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1982 - 1 C
29.79 -, BVerwGE 66, 192 ff.,
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gegeben.
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Die Notwendigkeit der Anfertigung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen
Unterlagen gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW bemisst sich danach, ob der
festgestellte, den Betroffenen belastende Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung
angesichts aller Umstände des Einzelfalls - insbesondere angesichts der Art, Schwere
und Begehungsweise der dem Betroffenen zur Last gelegten Straftaten, seiner
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Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, währenddessen er
strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist - Anhaltspunkte für die Annahme
bietet, dass der Betroffene künftig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis
potentieller Beteiligter an einer strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und
dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen
fördern könnten, indem sie den Betroffenen überführen oder entlasten
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1999 - 5 B 2562/98 -, NJW 1999, 2689.
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Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der verfassungsrechtliche
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der präventive Charakter der
erkennungsdienstlichen Maßnahmen verlangen eine Abwägung zwischen dem
öffentlichen Interesse an einer effektiven Verhinderung und Aufklärung von Straftaten
und dem Interesse des Betroffenen, entsprechend dem Menschenbild des
Grundgesetzes nicht bereits deshalb als potentieller Rechtsbrecher behandelt zu
werden, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder angezeigt worden ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1999 - 5 B 2562/98 -, NJW 1999, 2689.
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Bei Strafunmündigen sind ferner das jugendliche Alter und die möglichen negativen
Wirkungen für die weitere Entwicklung des Jugendlichen oder Kindes zu
berücksichtigen.
69
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1999 - 5 B 2562/98 -, NJW 1999, 2689.
70
Ausgehend von diesen Grundsätzen war die streitgegenständliche Anordnung der
erkennungsdienstlichen Behandlung aus der Sicht des maßgeblichen
Entscheidungszeitpunktes nicht zu beanstanden.
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Der Kläger war hinreichend verdächtig, eine mit Strafe bedrohte Tat - eine gefährliche
Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 4 StGB - begangen zu haben, die
nur deshalb nicht strafrechtlich verfolgt werden konnte, weil der Kläger zur Tatzeit
strafunmündig war.
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Aufgrund der Angaben des Geschädigten Alan Gebhardt und der weiteren
Tatverdächtigen E. C. und N. T. sowie aufgrund der von der Städtischen Realschule V1.
-Q1. vorgelegten Unterlagen über gegen den Kläger verhängte schulrechtliche
Ordnungsmaßnahmen und die vorangegangene Klassenkonferenz ist davon
auszugehen, dass der Kläger in der Zeit von August 2006 bis zum 18. Januar 2007
mehrfach als Mittäter i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB an - teilweise mit einem gefährlichen
Werkzeug begangenen - körperlichen Misshandlungen des Mitschülers B. H. beteiligt
war.
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Der Geschädigte B. H. gab im Rahmen seiner Strafanzeige gegenüber dem Beklagten
glaubhaft an, dass er seit August 2006 von verschiedenen Jungen aus seiner Klasse
nahezu täglich gehänselt, geschlagen und getreten worden sei. Die Vorfälle spielten
sich regelmäßig in den Pausenzeiten ab. Immer wieder sei er von den Jungen
festgehalten, geschubst und auf den Boden geworfen worden. Dabei hätten sie ihm die
Kapuze oder seinen Anorak über den Kopf gezogen. Während er festgehalten worden
sei, hätten sie auf ihn eingeschlagen und ihn getreten. Letztmalig sei er am Vortrag der
Anzeigeerstattung mit einem Zeigestock auf den Oberschenkel geschlagen worden,
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während ein anderer den Vorgang per Handy aufgenommen habe. An den
Misshandlungen sei der Kläger beteiligt gewesen.
Im Rahmen seiner Anhörung durch den Beklagten am 1. Februar 2007 sagte der E. C.
im Wesentlichen damit übereinstimmend aus, die Tätlichkeiten hätten im August 2006
angefangen. Der Kläger und ein anderer Schüler hätten "eigentlich die blauen Flecke
alle gemacht" und hätten den Geschädigten "meistens getreten und geschlagen". Dies
habe sich manchmal jede Pause abgespielt. Der Kläger sei dem B. H. hinterher gerannt;
der Q2. E1. sei dann gekommen und habe ihn getreten. Am 18. Januar 2007 habe er, E.
C. , gehört, wie der Q2. E1. zu dem Kläger gesagt habe, dass er eine Handyaufnahme
machen wolle. Der Kläger habe dann angefangen, den B. zu schubsen; der B. sei auch
getreten worden. Er habe schließlich auf dem Boden gelegen.
75
Entsprechendes berichtete der N. T. anlässlich seiner Anhörung durch den Beklagten
am 1. Februar 2007. Ihm zufolge habe der Kläger den B. H. oft herumgeschubst und oft
auch getreten. Einmal habe der Kläger zu ihm, N. T. , gesagt: "Komm´ lass´ uns den B.
verhauen". Später habe der B. H. auf dem Schulhof in einer Ecke auf dem Boden
gelegen. Unter anderem der Kläger habe auf ihn eingetreten. Der Q2. E1. habe die
Misshandlungen mit dem Mobiltelefon gefilmt.
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Diese Sachverhaltsangaben decken sich mit den Feststellungen der Klassenkonferenz
vom 30. Januar 2007. Ausweislich des diesbezüglich gefertigten Protokolls habe der
Kläger zu einer Gruppe von sechs Jungen gehört, die den B. H. wiederholt auf dem
Schulhof getreten und geschlagen hätten. Der Kläger sei bewusst bei einer Gewalttat
dabei gewesen, die ein Mitschüler per Handy aufgenommen habe. Dieses
Ermittlungsergebnis veranlasste die Städtische Realschule V1. -Q1. auch dazu, dem
Kläger einen schriftlichen Verweis zu erteilen, ihn eine Woche vom Unterricht
auszuschließen und ihm aufzugeben, in einem Projekt einen Vortrag zu dem Thema
"Vermeidung von Gewalt" zu halten.
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Wegen der Art und Ausführung der Taten ging der Beklagte zu Recht davon aus, dass
die Gefahr der Wiederholung besteht.
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Der Kläger hatte sich über Monate teilweise täglich an aus einer Gruppe heraus
begangenen Körperverletzungen maßgeblich beteiligt. Aus dem Protokoll der
Klassenkonferenz geht hervor, dass er die anderen Mitglieder der Gruppe zudem
aufforderte, B. H. zu treten und zu schlagen. Nach den Aussagen von E. C. und N. T.
war gerade der Kläger besonders aggressiv und hatte zumindest einzelne
Misshandlungen initiiert. Das gemeinschaftliche Treten eines am Boden Liegenden, zu
dem es bei einem der Vorfälle kam, ist eine brutale und gefährliche Begehungsweise.
Die Rohheit der Taten wird noch dadurch verstärkt, dass sie mitunter planvoll mittels
eines Mobiltelefons aufgezeichnet wurden.
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Dass der Kläger den Unwertgehalt seiner Taten erkannt hat, muss als zweifelhaft
bezeichnet werden, auch wenn er dem Protokoll der Klassenkonferenz zufolge geäußert
habe, seine Taten zu bereuen und Besserung versprochen habe. Denn dem Protokoll
ist auch zu entnehmen, dass der Kläger sich bei dem Opfer bisher nicht entschuldigt
habe. Dazu befragt, habe er angegeben, dass er telefonisch versucht habe, sich bei B.
H. zu entschuldigen, von dessen Vater aber abgewiesen worden sei. Weitere Versuche,
sich zu entschuldigen, habe er nicht ernsthaft unternommen. Bei vorhandener Einsicht
in das Unrecht der Taten wäre zu erwarten gewesen, dass der Kläger sich weiterhin
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ernstlich um eine (persönliche) Entschuldigung bei dem Opfer bemüht.
Diese Gesamtumstände rechtfertigten es, den Kläger mit guten Gründen als
Verdächtigen in den Kreis potentieller Beteiligter an noch aufzuklärenden Handlungen
der in Rede stehenden oder ähnlicher Art einzubeziehen.
81
Die zu erstellenden erkennungsdienstlichen Unterlagen waren auch geeignet,
potentielle zukünftige Straftaten, insbesondere in Sachzusammenhängen, wie sie beim
Kläger relevant geworden sind, aufklären zu helfen, indem sie zur Feststellung oder zum
Ausschluss einer Tatbeteiligung beitragen konnten. Auch wenn der Kläger die bekannt
gewordenen Körperverletzungen im schulischen Bereich beging und sich seine Identität
dort unschwer feststellen ließ, schloss dies nicht aus, dass die erkennungsdienstlichen
Unterlagen zukünftige Ermittlungen - sei es im schulischen, sei es im außerschulischen
Umfeld - zur Identifizierung des Klägers hätten fördern können. Gerade bei
gemeinschaftlich begangenen Körperverletzungen wäre die Aufklärung zukünftiger
Straftaten ohne erkennungsdienstliche Unterlagen schwierig geworden.
82
Die angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung war auch nicht deshalb
unverhältnismäßig, weil lediglich "jugendtypische Rangeleien" in Rede gestanden
hätten.
83
Vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1999 - 5 B 2562/98 -, NJW 1999, 2689.
84
Nach dem vorliegenden Ergebnis der Ermittlungen ging der Kläger - wie dargelegt -
vielmehr über einen längeren Zeitraum wiederholt roh und gewalttätig gegen den
Geschädigten vor. Die Taten des Klägers überstiegen nach Schwere und
Begehungsweise bei weitem unter Jugendlichen übliche, gelegentlich auch mit
Verletzungen verbundene Raufereien. Angesichts des brutalen Vorgehens des Klägers
überwog das öffentliche Interesse an präventiven Maßnahmen zum Schutz vor künftigen
Taten das private Interesse des Klägers, nicht bereits als Strafunmündiger als
potentieller Rechtsbrecher behandelt zu werden.
85
Die Anordnung litt schließlich nicht an einem Ermessensfehler i.S.v. § 114 Satz 1
VwGO. Dass der anordnende Beamte sich von sachfremden Erwägungen hätte leiten
lassen und somit von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht
entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hätte, ist - wie ausgeführt - nicht ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 4 VwGO.
87
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 und 2
VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.
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