Urteil des VG Aachen vom 22.05.2003

VG Aachen: aufschiebende wirkung, empfehlung, öffentliches interesse, vollziehung, verfügung, wissenschaft, erlass, interessenabwägung, landwirtschaft, unterrichtung

Verwaltungsgericht Aachen, 6 L 92/03
Datum:
22.05.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 L 92/03
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom
27. Dezember 2002 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners
vom 19. November 2002 wird wiederhergestellt bzw. gegen die
Zwangsgeldandrohung angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.000,- EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der zulässige Antrag,
2
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 27. Dezember
2002 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 19. November 2002
wiederherzustellen bzw. anzuordnen,
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hat Erfolg.
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Allerdings ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid des
Antragsgegners vom 19. November 2002 in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.
Eine Vollziehungsanordnung ist zweifelsfrei ergangen. Es muss den Adressaten der
Verfügung zwar irritieren, dass die sofortige Vollziehung erst im Zusammenhang mit der
Rechtsbehelfsbelehrung zum Bescheid angeordnet worden ist, weshalb sie auf den
ersten Blick als ein Teil derselben erscheint. Bei objektiver Betrachtung ist indessen
durch die bestimmende Formulierung des vorletzten Absatzes der
"Rechtsbehelfsbelehrung" hinreichend erkennbar, dass an dieser Stelle die bereits in
der Einleitungsformel des Bescheids ausdrücklich erwähnte "Anordnung der sofortigen
Vollziehung" auch konkret erfolgt. Ebenso genügt die zugehörige Begründung im letzten
Absatz der "Rechtsbehelfsbelehrung" -gerade noch- den Anforderungen des § 80 Abs. 3
der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), wenn dort als besonderes öffentliches
Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung auf den Schutz der Tiere sowie
auf das öffentliche Vertrauen "in die auch durch das Staatsziel Tierschutz geforderte
Einhaltung des Tierschutzgesetzes" abgehoben wird. Denn die rasche Beseitigung
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erheblicher tierschutzrechtlicher Missstände kann durchaus im Einzelfall ein
besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung tierschützender
Anordnungen nach § 16a des Tierschutzgesetzes (TierSchG) begründen. Den
Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügt die Begründung damit selbst dann, wenn
sie inhaltlich die Anordnung der sofortigen Vollziehung letztlich nicht trägt.
Der Aussetzungsantrag ist jedoch in der Sache begründet.
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Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung sind die
Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs und die Folgen der sofortigen
Vollziehung bzw. Aussetzung der Vollziehung einzustellen.
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Davon ausgehend überwiegt vorliegend das private Interesse des Antragstellers an
einem vorläufigen Aufschub der Vollziehung der von ihm mit Ordnungsverfügung vom
19. November 2002 geforderten Maßnahmen, weil (1.) die -im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes ohnehin nur mögliche- summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des
Hauptsacherechtsbehelfs im vorliegenden Fall nicht eine derart eindeutige
Einschätzung der Rechtslage erlaubt, dass schon das Kriterium der Rechtmäßigkeit
oder Rechtswidrigkeit der behördlichen Anordnung für sich alleine ein Übergewicht des
öffentlichen Interesses des Antragsgegners oder des privaten Interesses des
Antragstellers ergibt, so dass (2.) letztlich entscheidend auf die Folgen der
Interessenabwägung abzustellen ist; deren Berücksichtigung gibt hier den Ausschlag zu
Gunsten des privaten Interesses des Antragstellers, vorläufig von der Vollziehung der
mit der Verfügung vom 19. November 2002 angeordneten Maßnahmen verschont zu
bleiben. Hierzu ist im Einzelnen auszuführen:
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Die -im vorliegenden Eilverfahren nur mögliche- summarische Prüfung der
Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 19. November 2002
ergibt, dass die Verfügung vorläufig noch nicht eindeutig rechtlich -etwa als
offensichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig- eingeordnet werden kann. Die
sichere rechtliche Beurteilung der in Rede stehenden Verfügung durch das Gericht
erfordert eine Sachverhaltsaufklärung und -bewertung, die wegen ihres Umfangs bzw.
ihrer Komplexität dem Klageverfahren in der Hauptsache vorbehalten bleiben muss.
Denn durch summarische Prüfung im vorliegenden Eilverfahren läßt sich nicht
hinreichend verlässlich klären, ob die Pelztierhaltung des Antragstellers gegen § 2
TierSchG verstößt oder verstoßen wird und damit die Voraussetzungen für den Erlass
der Verfügung vom 19. November 2002 -gestützt auf die §§ 16a und 2 TierSchG- erfüllt
waren. Bei summarischer Bewertung der Rechtslage ist nämlich -zugunsten des
Antragstellers- nicht auszuschließen, dass seine Pelztierzucht deshalb den
Anforderungen des § 2 TierSchG -zumindest noch für eine Übergangszeit- genügt, weil
der Antragsteller die verbindlichen Anforderungen der "Empfehlung des Ständigen
Ausschusses des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Tieren in
landwirtschaftlichen Tierhaltungen in bezug auf Pelztiere" vom 22. Juni 1999 (BAnz
2000, Nr. 89a) -"Empfehlung des Ständigen Ausschusses"- erfüllt.
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Ob der Antragsgegner zum Erlass der Verfügung, um deren Rechtmäßigkeit vorliegend
gestritten wird, berechtigt war, ist nach § 16a Satz 1 i.V.m. § 2 TierSchG zu beurteilen.
Gemäß § 16a Satz 1 TierSchG trifft die zuständige Behörde die zur Beseitigung
festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen
Anordnungen. Nach Satz 2 Nr.1 der Vorschrift kann sie insbesondere im Einzelfall die
zur Erfüllung der Anforderungen des § 2 TierSchG erforderlichen Maßnahmen
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anordnen. Durch § 2 Nrn. 1 und 2 TierSchG ist gesetzlich angeordnet, dass ein von
Menschen gehaltenes Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend
angemessen ernährt, gepflegt und verhaltensgerecht untergebracht werden muss und
dass seine Möglichkeit zu artgemäßer Bewegung nicht so eingeschränkt werden darf,
dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden.
Welche Anforderungen an die artspezifische und verhaltensgerechte Haltung von
Nerzen danach im Einzelnen zu stellen sind, ist jedoch weder im Tierschutzgesetz noch
in einer zur Konkretisierung des § 2 TierSchG erlassenen Rechtsverordnung (§ 2a Abs.
1 TierSchG) ausdrücklich geregelt. Insbesondere enthält auch die "Verordnung zum
Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte
gehaltener Tiere bei ihrer Haltung" vom 25. Oktober 2001 in der Fassung der 1.
Änderungsverordnung vom 28. Februar 2002 -Tierschutz- Nutztierhaltungsverordnung-
noch keine konkreten Maßstäbe für die Haltung von Pelztieren. Sie ist zwar auf Nerze,
die zur Erzeugung von Pelzen in Farmen gehalten werden, gemäß § 2 Nr. 1 des
Verordnungstextes anzuwenden, normiert jedoch über die in § 3 enthaltenen, hier
indessen nicht ergiebigen allgemeinen Anforderungen an Haltungseinrichtungen hinaus
keine speziellen Vorgaben im Hinblick auf z.B. die Größe und die Beschaffenheit von
Käfigen zur Haltung von Nerzen. Mit dem Erlass entsprechender Vorschriften ist
allerdings in absehbarer Zukunft zu rechnen. Das Bundesministerium für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft erarbeitet derzeit eine
Änderungsverordnung, durch die ein Abschnitt mit speziellen Anforderungen an die
Haltung von Pelztieren in die Tierschutz- Nutztierhaltungsverordnung eingefügt werden
soll.
11
Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung, Tierschutzbericht 2003, BT-Drucksache
15/723, S. 35 f.
12
Solange diese konkretisierende Änderungsverordnung noch nicht vorliegt, ergeben sich
die Haltungsanforderungen indessen weiterhin -nur- unmittelbar aus dem
Tierschutzgesetz. Die sehr allgemein gehaltenen und durch unbestimmte Rechtsbegriffe
gekennzeichneten Haltungsgrundsätze des § 2 TierSchG lassen sich durch Auslegung -
namentlich unter Berücksichtigung des in § 1 Satz 1 TierSchG niedergelegten Zwecks
des Tierschutzgesetzes, "aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als
Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen"- sowie mit Hilfe des
einschlägigen tiermedizinischen und verhaltenswissenschaftlichen Schrifttums und
sachverständiger Äußerungen hinreichend konkret bestimmen und im Einzelfall
anwenden. Dabei ist nach der Gesetzeskonzeption bereits auf der Ebene der
Normauslegung ein Ausgleich zwischen einerseits dem ethisch begründeten
Tierschutz, der durch Aufnahme als Staatszielbestimmung in Art. 20a des
Grundgesetzes (GG) mittlerweile auch verfassungsrechtlich garantiert ist, sowie
andererseits den rechtlich -insbesondere über Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG-
geschützten Interessen der Tierhalter herzustellen.
13
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 6. Juli 1999 -2 BvF 3/90-, BVerfGE
101, 1 (32, 36f.).
14
Davon ausgehend kann zur Bestimmung der konkreten Anforderungen an eine art- und
verhaltensgerechte Haltung von Nerzen unter anderem auf das vom Antragsteller
angeführte, wenn auch wohl nicht mehr den aktuellen Stand der Wissenschaft
wiedergebende Gutachten der Dres. Brozeit u.a. vom 26. September 1986
15
zurückgegriffen werden, das seinerzeit vom zuständigen Bundesministerium in Auftrag
gegeben worden ist. Insbesondere ist hierzu aber auch die bereits erwähnte
"Empfehlung des Ständigen Ausschusses" in bezug auf Pelztiere vom 22. Juni 1999
heranzuziehen. Nach den Grundsätzen des Völkerrechts und des deutschen
Verfassungsrechts hat sie durch ihre Ausarbeitung und Annahme durch den Ständigen
Ausschuss zwar nicht unmittelbar rechtliche Geltung innerhalb der Bundesrepublik
Deutschland erlangt; vielmehr bedarf es hierfür noch der Umsetzung der Empfehlung in
nationales deutsches Recht, die gemäß Art. 2 des Gesetzes zum Europäischen
Übereinkommen vom 10. März 1976 zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen
Tierhaltungen (ETÜ) vom 25. Januar 1978 (BGBl. II S. 113) durch Rechtsverordnung
des Bundesministeriums erfolgt. Dennoch ist die "Empfehlung des Ständigen
Ausschusses" nach Maßgabe des Art. 9 Abs. 3 ETÜ wirksam geworden und ist damit
schon jetzt für Deutschland als Vertragspartei völkerrechtlich verbindlich.
Vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 -2 BvF 3/90-, BVerfGE 101, 1 (32, 38f.).
16
Die Heranziehung der "Empfehlung des Ständigen Ausschusses" zur Auslegung des §
2 TierSchG ist vor allem aber wegen ihrer Eigenschaft als sachverständige Äußerung
geboten. Gemäß Art. 9 Abs. 1 und 2 ETÜ erfolgt die Ausarbeitung der Empfehlungen
des Ständigen Ausschusses auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen
unter Berücksichtigung der Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung und neuer
Tierhaltungsverfahren, wodurch sie die Qualität von sachverständigen Äußerungen
erlangen. Ihre Beachtung sieht im Übrigen in Ziff. 1.1 auch die "Allgemeine
Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes" (AllgVwV) vom 9.
Februar 2000 (BAnz 2000, Beilage Nr. 36a) vor, die das Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit Zustimmung des Bundesrates nach § 16d
TierSchG erlassen hat.
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Laut Anhang A der "Empfehlung des Ständigen Ausschusses" -Besondere
Bestimmungen für Nerze-, der gemäß Art. 1 Nr. 5 fester Bestandteil der Empfehlung ist,
muss den Tieren ein Nestkasten mit ausreichend großer Grundfläche zur Verfügung
stehen. Geeignetes Einstreu- und Beschäftigungsmaterial wie Stroh soll regelmäßig
bereit gestellt werden (Nr. 1). Tiere, die noch nicht ausgewachsen sind, dürfen nicht
isoliert gehalten werden (Nr. 2). In Paaren gehaltene Tiere sind angemessen zu
überwachen (Nr. 4). Die Käfige dürfen nicht übereinander angeordnet sein und sollten in
ausreichender Höhe angebracht sein. Der Bereich unter den Käfigen sollte mit Sand,
Kies, Schlacke oder anderem geeigneten Material bedeckt sein, um Kot leichter
beseitigen zu können (Nr. 5). Die Mindestfläche (ohne Nestkasten) für ein
ausgewachsenes Einzeltier, für ein ausgewachsenes Einzeltier mit Jungen und für
Jungtiere nach dem Absetzen beträgt bei bis zu zwei Tieren 2550 cm², wobei der Käfig
mindestens 30 cm breit und 70 cm lang sein muss (ohne Nestkasten). Bei mehr als zwei
Tieren muss für jedes weitere Tier die Fläche um jeweils 850 cm² vergrößert werden.
Die Mindesthöhe jedes Käfigs beträgt 45 cm, um den Tieren das Aufrichten auf den
Hinterbeinen zu ermöglichen (Nr. 6). Die angegebenen Maße finden allerdings nur
Anwendung auf neue Systeme und wenn vorhandene Systeme ersetzt werden. Alle
Systeme mit Käfigen mit einer freien Fläche von weniger als 1600 cm² oder einer Höhe
von weniger als 35 cm müssen bis zum 31. Dezember 2001 ersetzt werden. Systeme
mit Käfigen mit einer freien Fläche von über 1600 cm² oder einer Höhe von mehr als 35
cm müssen bis zum 31. Dezember 2010 durch Systeme ersetzt werden, die mindestens
die genannten Ausmaße haben (Nr. 7).
18
Auf der Grundlage des Sachverhalts, der sich -im Wesentlichen unstreitig- aus der
Gerichtsakte und dem beigezogenen Verwaltungsvorgang des Antragsgegners ergibt,
gelangt die Kammer zu der vorläufigen Bewertung, dass die Haltungsbedingungen in
der Farmanlage des Antragstellers den vorstehend dargelegten Anforderungen der
"Empfehlung des Ständigen Ausschusses" entsprechen. Dafür sprechen hinreichende
Anhaltspunkte. So werden ausweislich des mit Schreiben vom 27. April 2000 an die
Bezirksregierung gerichteten Erhebungsbogens des Antragsgegners die Nerze in der
Anlage des Antragstellers entsprechend Ziffern 1, 4 und 5 des Anhangs A der
Empfehlung altersabhängig zu zweit oder in Familiengruppen in Drahtkäfigen gehalten,
die in Reihen angeordnet und mit Nist- bzw. Schlafkästen versehen sind (Blatt 87 der
Beiakte). Die hierzu in Widerspruch stehende Feststellung in der Ordnungsverfügung
vom 19. November 2002, wonach die Solitärhaltung der Tiere im Betrieb des
Antragstellers die Regel darstelle, kann im vorliegenden Eilverfahren nicht weiter
aufgeklärt werden. Der Boden unter den Käfigen ist entsprechend Ziffer 5 des Anhangs
A der Empfehlung mit Strohhäckseln abgestreut (Blatt 46 der Beiakte). Laut
Aktenvermerk des Antragsgegners vom 15. Mai 2001 (Blatt 98 der Beiakte) sowie vom
14. Januar 2002 (Blatt 120 der Beiakte) betragen die Maße der Käfige bei 13 der
insgesamt 35 Käfigreihen 30 cm (Breite) x 88 cm (Länge) x 46 cm (Höhe) und bei 22
Käfigreihen 25 cm (Breite) x 94 cm (Länge) x 46 cm (Höhe); sie weisen damit eine
Grundfläche von jeweils 2.640 cm² bzw. 2.350 cm² auf. Insofern erfüllt der Antragsteller
hinsichtlich der Käfighöhe mit allen Systemen und hinsichtlich der Käfigfläche mit 37 %
der Anlage die Anforderungen der Ziffern 6 und 7 des Anhangs A der "Empfehlung des
Ständigen Ausschusses". Die mit ca. 8 % noch als geringfügig zu bewertende
Unterschreitung der vorgegebenen Grundfläche in 22 Käfigreihen schlägt nach
Maßgabe der Ziffer 7 des Anhangs A der "Empfehlung des Ständigen Ausschusses"
indessen nicht zu Lasten des Antragstellers durch, weil danach die angegebenen Maße
gerade nur Anwendung finden, wenn neue Systeme errichtet oder vorhandene Systeme
ersetzt werden. Demgegenüber sind für Altanlagen zur Wahrung der rechtlich
geschützten Interessen der Farmbetreiber nach Ziffer 7 ausdrücklich Übergangsfristen
vorgesehen. Bei einer freien Käfigfläche von mindestens 1.600 cm² sind danach
Altanlagen noch für einen längeren Zeitraum zu tolerieren. Da die kleineren Käfige des
Antragstellers selbst dann über dieser Mindestfläche liegen, wenn die festgestellten
Maße die Flächenverhältnisse inklusive Nestbox ausweisen, gilt nach der "Empfehlung
des Ständigen Ausschusses" für sie aus Gründen des Bestandsschutzes eine
Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2010.
19
Die "Empfehlung des Ständigen Ausschusses" hat ihre dargelegte Bedeutung für die
Auslegung des § 2 TierSchG auch nicht durch den Runderlass des -damaligen-
Ministeriums für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft des Landes Nordrhein-
Westfalen (MURL) vom 21. Oktober 1999 -II C 3-4201-1851- verloren, durch den unter
Hinweis auf neueste Erkenntnisse der Wissenschaft Mindestanforderungen für die
Käfighaltung von Nerzen festgelegt worden sind und den der Antragsgegner der
Verfügung vom 19. November 2002 zugrunde gelegt hat.
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Eine rechtliche Bindung mit Außenwirkung kann der Erlass als eine lediglich
"norminterpretierende" -verwaltungsintern an nachgeordnete Behörden gerichtete-
allgemeine Verwaltungsvorschrift ohnehin nicht bewirken, so dass hier schon offen
bleiben kann, ob nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes überhaupt durch
Ländererlass strengere Anforderungen an die Pelztierhaltung aufgestellt werden können
als durch die bereits zitierte "Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des
Tierschutzgesetzes" des Bundes.
21
Vgl. dazu Lerche in Maunz-Dürig, Kommentar zum GG, Bd. IV, Art 84 Rn. 85f.; Dittmann
in Sachs, Kommentar zum GG, Art. 84 Rn. 20 und 22; Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG), Urteil vom 18. September 1984 -1 A 4.83-, BVerwGE 70, 127 (131).
22
In Ansehung des Erlasses und der darin verwerteten neuesten Erkenntnisse der
Wissenschaft lässt sich im Rahmen der hier allein möglichen summarischen Prüfung
aber gerade auch nicht sicher feststellen, dass den Anforderungen des § 2 TierSchG nur
eine Nerzhaltung entspricht, die den weiter reichenden Haltungsbedingungen des
Erlasses vom 21. Oktober 1999 genügt. Insbesondere kann nach dem derzeitigen
Erkenntnisstand weder ohne weiteres die Feststellung getroffen werden, dass die
"Empfehlung des Ständigen Ausschusses" durch neue, hinreichend gesicherte
wissenschaftliche Erkenntnisse überholt ist und damit die gesetzlichen Anforderungen
des § 2 TierSchG gegebenenfalls unterschreitet, noch kann bei lediglich summarischer
Prüfung gänzlich ausgeschlossen werden, dass nach neuen, hinreichend gesicherten
wissenschaftlichen Erkenntnissen die vom Antragsteller praktizierte Nerzhaltung gegen
§ 2 TierSchG verstößt und damit tierschutzwidrig ist. Einen hinreichend gesicherten
Erkenntnisstand der Wissenschaft zu fordern, gebietet schon der auf
Normauslegungsebene vorzunehmende Ausgleich zwischen dem ethisch begründeten
Tierschutz einerseits sowie den rechtlich geschützten Interessen des Tierhalters
andererseits, namentlich der im Rechtsstaatsprinzip begründete Grundsatz des
Vertrauensschutzes sowie der über Art. 14 GG garantierte Bestandsschutz, wonach
grundsätzlich die Fortsetzung des Betriebes im bisherigen Umfang nach den schon
getroffenen betrieblichen Maßnahmen geschützt ist und dem Tierhalter demzufolge der
Umbau seines Betriebes nicht bereits mit jeder noch nicht hinreichend abgesicherten
wissenschaftlichen Neuerkenntnis zugemutet werden kann. Für die genannten
Feststellungen bedarf es -sofern sich die Rechtswidrigkeit der Verfügung im Nachhinein
nicht schon aus anderen Gründen ergibt- aber einer umfassenden Aus- und Bewertung
der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und gutachterlichen Äußerungen zur
Farmhaltung von Nerzen und gegebenenfalls der Einholung weiterer sachverständiger
Stellungnahmen. Dies alles ist jedoch nicht im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes zu leisten. Vielmehr kann erst nach eingehender Prüfung im
Hauptsacheverfahren entschieden werden, ob nicht schon die Einhaltung der
Haltungsbedingungen der in einigen Punkten weniger strengen "Empfehlung des
Ständigen Ausschusses" den Anforderungen des § 2 TierSchG -zumindest noch für
eine Übergangszeit- genügt.
23
Bei summarischer Prüfung ist im Übrigen auch nicht offensichtlich, dass der vom
Antragsgegner angeführte "Report of the Scientific Committee on Animal Health and
Animal Welfare - The Welfare of Animals Kept for Fur Production" vom 12./13.
Dezember 2001 umfassend einen grundlegend anderen aktuellen Stand der
Wissenschaft wiedergibt. Der Bericht bewertet generell die Situation in der
Intensivhaltung von Pelztieren und stellt mit Blick auf unzureichende Bewegungs- und
Beschäftigungsmöglichkeiten teils auch nicht unerhebliche Defizite fest, enthält jedoch
gerade keine konkreten, grundlegend neuen Empfehlungen wie etwa zu den
Mindestmaßen oder zur Ausstattung von Haltungseinrichtungen.
24
Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung, Tierschutzbericht 2003, BT-Drucksache
15/723, S. 35 f.; "Report of the Scientific Committee on Animal Health and Animal
Welfare", S. 183 f.
25
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage kann daher nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass der Antragsteller gegen die gesetzlichen
Anforderungen des § 2 TierSchG verstößt und dadurch die Voraussetzungen der
Eingriffsnorm des § 16a TierSchG erfüllt.
26
Bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden weiteren
Interessenabwägung ist daher in erster Linie auf die schützenswerten Interessen des
Antragstellers einerseits und der Allgemeinheit andererseits abzustellen. Insbesondere
sind die Folgen in Rechnung zu stellen, die sich bei jeweils unterschiedlichem Ausgang
des Verfahrens ergeben würden. Die damit gebotenen Folgenbetrachtung ergibt hier,
dass das private Interesse des Antragstellers an der vorläufigen Aussetzung der
Vollziehung der Ordnungsverfügung überwiegt.
27
Diese Wertung beruht entscheidend darauf, dass bei einer Ablehnung des
Aussetzungsantrags dem Antragsteller -auch wenn er im Hauptsacheverfahren später
obsiegt- möglicherweise ein erheblicher irreparabler Schaden entstehen würde. Müsste
der Antragsteller die Ordnungsverfügung sofort befolgen, so müsste er zur Erfüllung der
Anordnungen des Antragsgegners sofort erhebliche finanzielle Aufwendungen und
Arbeitsanstrengungen erbringen, die sich -selbst wenn sich die Anordnungen im
Hauptsacheverfahren als rechtswidrig herausstellen- später voraussichtlich nicht im
Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs auf Folgenbeseitigung rückgängig
machen ließen und dem Antragsteller damit endgültig zur Last fielen. Angesichts des
Umfangs der angeordneten Umbaumaßnahmen -der Antragsteller schätzt die dadurch
entstehenden Kosten wohl nicht ganz realitätsfern auf ca. 1 Million EUR- besteht
dadurch bei sofortiger Vollziehung der Verfügung die Gefahr einer erheblichen
Beeinträchtigung des Gewerbebetriebs des Antragstellers, wenn nicht sogar die Gefahr
des Existenzverlustes wegen drohender Insolvenz. Sie ließe sich später auch nicht
durch die Geltendmachung eines verschuldensunabhängigen
Schadensersatzanspruchs abwenden. Eine entsprechende Anwendung der §§ 717
Abs. 2, 945 ZPO kommt nach Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2
Nr. 4 VwGO nämlich nicht in Betracht.
28
So auch VG Münster, Beschluss vom 7. März 2003 -1 L 174/03-, unter Hinweis auf
BVerwG, Beschluss vom 9. August 1990 -1 B 94.90-, NVwZ 1991, 270, sowie Schoch in
Schoch/Schmidt- Aßmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, § 80 Rn. 409.
29
Dem steht zwar -zugunsten des öffentlichen Interesses an einer effektiven Durchsetzung
des Tierschutzes- gegenüber, dass die Belange des Tierschutzes für die Dauer des
Hauptsacheverfahrens irreparabel beeinträchtigt würden, wenn die Vollziehung der
Verfügung antragsgemäß ausgesetzt, der Antragsteller jedoch später in der Hauptsache
unterliegen würde.
30
In dieser Zuspitzung ist das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers letztlich
höher zu bewerten, weil im vorliegenden Verfahren -wie dargelegt- davon auszugehen
ist, dass der Antragsteller jedenfalls die Mindeststandards des Tierschutzes dadurch
einhält, dass er die in den "Empfehlung des Ständigen Ausschusses" in bezug auf
Pelztiere vorgegebenen Haltungsanforderungen erfüllt.
31
Im Ergebnis so auch VG Münster a.a.O.
32
Lediglich klarstellend weist die Kammer abschließend in diesem Zusammenhang
33
darauf hin, dass dem Argument des Antragsgegners, der Betrieb des Antragstellers sei
nicht schützenswert, weil er nach § 11 Abs. 1 Nr. 3a TierschG genehmigungspflichtig,
aber nicht genehmigt sei, keine Bedeutung bei der vorzunehmenden Abwägung
zukommt, weil der Antragsteller tatsächlich für die Zucht von Nerzen der in Rede
stehenden Genehmigung nicht bedarf. Dies hat das VG Minden mit Urteil vom 28.
November 2002 -2 K 2695/01- zutreffend entschieden. Hierauf wird zur Begründung im
Einzelnen Bezug genommen.
Aus den vorstehenden Gründen war auch die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs gegen die gemäß §§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, 8 Satz 1 AG VwGO NRW
kraft Gesetzes sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung anzuordnen.
34
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
35
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 des
Gerichtskostengesetzes (GKG). Sie berücksichtigt zum einen, dass wegen der
Vorläufigkeit der Entscheidung lediglich die Hälfte des gesetzlichen Auffangstreitwerts
nach § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG anzusetzen ist, und zum anderen, dass die mit der
Grundverfügung verbundene Zwangsgeldandrohung den Streitwert nicht erhöht.
36