Urteil des VG Aachen vom 17.02.2004

VG Aachen: eheliche wohnung, aufschiebende wirkung, körperliche unversehrtheit, verfügung, polizei, gewalt, strafanzeige, wahrscheinlichkeit, familie, vollziehung

Verwaltungsgericht Aachen, 6 L 145/04
Datum:
17.02.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 L 145/04
Tenor:
1. Herr G. H.---- , c/o Herrn I. I1. , H1.------straße 0, 0000 N. , wird zum
Verfahren beigeladen.
2. Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche
Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- EUR festgesetzt.
4. Der Beschluss soll den Beteiligten vorab per Telefax bekanntgegeben
werden.
G r ü n d e:
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1. Der Ehemann der Antragstellerin, Herr G. H.---- , ist gemäß § 65 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) beizuladen, weil er als Person, gegen die die
polizeiliche Anordnung über die Wohnungsverweisung und das Rückkehrverbot vom
12. Februar 2004 gerichtet ist, an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt ist,
dass die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann (sog.
"notwendige Beiladung"). Der Sach- und Streitstand ist dem Beigeladenen nach dem
Inhalt der Akten bekannt. Ihm wurde durch den Berichterstatter telefonisch die
Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben.
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2. Der -sinngemäß gestellte- Antrag,
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die aufschiebende Wirkung des -noch zu erhebenden- Widerspruchs der Antragstellerin
gegen die polizeiliche Anordnung über die Wohnungsverweisung und das
Rückkehrverbot vom 12. Februar 2004 anzuordnen,
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hat keinen Erfolg.
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Der Antrag ist zwar zulässig. Insbesondere ist die Antragstellerin als Ehefrau des
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Beigeladenen analog § 42 Abs. 2 VwGO wegen des in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes
(GG) verbürgten und somit auch ihr zuteil werdenden besonderen Schutzes von Ehe
und Familie antragsbefugt, weil eine Verletzung des Schutzbereiches dieses
Grundrechts durch die angefochtene Polizeiverfügung jedenfalls möglich erscheint.
Der Antrag ist jedoch unbegründet. Bei der im Rahmen des Aussetzungsverfahrens
nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen
Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts einerseits
und dem Individualinteresse der betroffenen Antragstellerin, vorläufig von den
Auswirkungen der sofortigen Vollziehung der Verfügung verschont zu bleiben,
überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse. Denn die angefochtene Verfügung des
Antragsgegners, die gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO kraft Gesetzes sofort
vollziehbar ist, erweist sich bei summarischer Betrachtung als rechtmäßig.
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Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 a des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-
Westfalen (PolG NRW). Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW kann die Polizei eine
Person zur Abwehr einer von ihr ausgehenden gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit einer anderen Person aus einer Wohnung, in der die gefährdete Person
wohnt, sowie aus deren unmittelbaren Umgebung verweisen und ihr die Rückkehr in
diesen Bereich untersagen. Gemäß § 34 a Abs. 5 Satz 1 enden Wohnungsverweisung
und Rückkehrverbot regelmäßig mit Ablauf des zehnten Tages nach ihrer Anordnung,
soweit nicht die Polizei im Einzelfall ausnahmsweise eine kürzere Geltungsdauer
festlegt.
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Diesen Anforderungen genügt die vom Antragsgegner am 12. Februar 2004 zunächst
mündlich erlassene und später schriftlich bestätigte Verfügung, mit der dem
Beigeladenen die Rückkehr in die eheliche Wohnung zunächst bis zum 24. Februar
2004, durch Änderungsverfügung vom heutigen Tage nunmehr noch bis zum 22.
Februar 2004 untersagt wurde.
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Ausweislich der Begründung der angefochtenen Verfügung, des Inhalts der
Strafanzeige, des "Ergänzenden Berichts zur Strafanzeige in Fällen häuslicher Gewalt"
sowie der "Dokumentation über den polizeilichen Einsatz bei häuslicher Gewalt" ist es
am 12. Februar 2004 in der von der Antragstellerin gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem
Beigeladenen, und den beiden drei und neun Jahre alten Kindern S. und S1. sowie dem
Säugling S2. bewohnten Wohnung zu einem Polizeieinsatz gekommen. Anlass für den
Polizeieinsatz war der Hilferuf von Nachbarn, die der Polizei mitteilten, in der Wohnung
der Antragstellerin und des Beigeladenen sei es zu einer Schlägerei gekommen. Nach
den Angaben der Beteiligten habe der Beigeladene erhebliche Mengen Alkohol (etwa
zehn Flaschen Bier) konsumiert. Dann sei es zu einem heftigen Streit gekommen, in
dessen Verlauf der Beigeladene der Tochter S1. mit der flachen Hand derart ins Gesicht
geschlagen habe, dass diese eine sichtbare Schwellung der rechten Gesichtshälfte
davongetragen habe. Die Antragstellerin selbst sei vom Beigeladenen mehrfach mit der
Faust derart auf die rechte Gesichtshälfte geschlagen worden, dass dies zu einer
Schwellung der Wange, einem Hämatom am rechten Auge sowie einer blutenden
Unterlippe geführt habe. Dann habe er sie auf den Boden gestoßen, ihr ein Büschel
Haare ausgerissen und ihr mit dem beschuhten Fuß mehrfach in den Rücken und in die
rechte Seite getreten. Nach den Angaben der Antragstellerin sei es in der
Vergangenheit mehrfach zu Gewalttätigkeiten dieser Art gekommen. Der Beigeladene
neige insbesondere nach Alkoholgenuss zu Gewalttätigkeiten gegenüber der Familie.
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Die Antragstellerin und der Beigeladene räumen diesen Sachverhalt im Wesentlichen
als unstreitig ein. Lediglich die Verletzung der Tochter sei auf ein Versehen
zurückzuführen. Der Beigeladene führt weiter sinngemäß aus, er habe jetzt kein
Alkoholproblem mehr, es habe sich vielmehr um einen einmaligen "Ausrutscher"
gehandelt.
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Vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhaltes ist die im Zeitpunkt des
Einschreitens der Polizeibeamten getroffene Einschätzung, es bestehe eine
hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass es bei einem Verbleib des Beigeladenen in
der gemeinsamen Wohnung bzw. bei einer kurzfristigen Rückkehr zu Gewalttätigkeiten
kommen werde, nicht zu beanstanden. Die Polizeibeamten sind angesichts dessen,
dass durch den Vorfall entgegen der Einschätzung des Beigeladenen sehr wohl ein bei
diesem aktuell bestehendes und nach wie vor nicht bewältigtes Alkohol- und
Gewaltproblem belegt worden ist, zu Recht von einer gegenwärtigen
Gefährdungssituation für die Antragstellerin und die gemeinsamen Kinder
ausgegangen. Die zur Abwehr dieser Gefahr getroffene Entscheidung bleibt, nachdem
durch Änderungsverfügung vom heutigen Tage die zunächst gesetzte Frist auf zehn
Tage verkürzt worden ist, auch im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung.
Ermessensfehler sind ebenfalls nicht zu erkennen.
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Auch der Umstand, dass die Antragstellerin nunmehr beantragt, das Rückkehrverbot
aufzuheben, und vorträgt, alles sei "halb so schlimm" gewesen, dem Beigeladenen sei
einfach "die Hand ausgerutscht", führt nicht zu einer anderen Bewertung. Denn
entscheidend für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung ist nicht die eigene -
nachträgliche- Einschätzung der Gefahrenlage durch das Opfer, sondern vielmehr die
durch die Polizei vorgenommene Gefährdungsprognose im Zeitpunkt ihres
Einschreitens,
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vgl. hierzu auch: VG Aachen, u.a. Beschlüsse vom 20. August 2003 -6 L 979/03-, vom
26. Mai 2003 -6 L 589/03- und vom 4. März 2003 -6 L 237/03-; kritisch hierzu: Collin, Das
polizeiliche Betretungsverbot bei häuslicher Gewalt - Anwendungsprobleme einer
neuen Standardermächtigung, DVBl. 2003, 1499 ff.
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Diese ist aber -gerade unter Berücksichtigung der Einlassung der Antragstellerin
anlässlich ihrer Strafanzeige vom 12. Februar 2004- nicht zu beanstanden. Von
Bedeutung ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass nach dem jetzigen Sach-
und Streitstand einiges dafür spricht, dass infolge übermäßigen Alkoholkonsums die
Steuerungsfähigkeit des Beigeladenen erheblich eingeschränkt sowie dessen
Hemmschwelle herabgesetzt wird, so dass die hinreichende Wahrscheinlichkeit
besteht, dass sich dessen bereits gezeigte Aggressivität und Gewaltbereitschaft in
einem ähnlichen Zustand jederzeit wiederholen und gerade auch gegen die
Antragstellerin selbst richten kann. Das Entstehen einer solchen Gefährdungssituation
kann angesichts der betroffenen Rechtsgüter von Leib und Leben der Antragstellerin
nicht erst abgewartet werden. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund, dass auch die
Tochter S1. durch Schläge des Beigeladenen in Mitleidenschaft gezogen worden ist.
Zwar stellen die Antragstellerin und der Beigeladene insoweit übereinstimmend den
Vorfall als bloßes Versehen dar. Angesichts der festgestellten Verletzungen der Tochter
hält die Kammer die Behauptung, es hätte sich "lediglich" um eine folgenlose Ohrfeige
gehandelt, jedoch nicht für glaubhaft.
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Die Kammer übersieht in diesem Zusammenhang nicht, dass das aus Art. 2 Abs. 1 GG
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folgende Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit grundsätzlich auch
beinhaltet, dass der Einzelne sich -in gewissem Rahmen- selbst gefährden darf. Der aus
Art. 2 Abs. 2 GG folgende Schutzauftrag des Staates (für Leben und körperliche
Unversehrtheit) kann daher in Konflikt geraten mit dem Selbstbestimmungsrecht des
Einzelnen,
vgl. hierzu Collin, a.a.O., S. 1503 f. mit weiteren Nachweisen.
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Es mag daher durchaus Fallgestaltungen geben, in denen die Ausübung des
Selbstbestimmungsrechts eines Gewaltopfers, das mit der Rückkehr des Gewalttäters
einverstanden ist, eine bewusste Selbstgefährdung bedeuten und den Schutzauftrag
des Staates zurückdrängen kann. Im vorliegenden Fall kann aber angesichts der Kürze
der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit verlässlich
beurteilt werden, ob der von der Antragstellerin geäußerte und in ihrem Antrag zum
Ausdruck kommende Wunsch, der Beigeladene solle in die gemeinsame Wohnung
zurückkehren, tatsächlich auf einer unbeeinflussten und freien Willensentscheidung
beruht oder vielmehr geprägt ist von einem möglichen - wirtschaftlichen oder sozialen-
Abhängigkeitsverhältnis zum Beigeladenen. Kann ein freier Willensentschluss des
Gewaltopfers aber nicht sicher und zweifelsfrei konstatiert werden, so wird dem
Schutzauftrag des Staates regelmäßig der Vorrang einzuräumen sein. Im vorliegenden
Fall führt der Wunsch der Antragstellerin - abgesehen davon, dass nicht sie alleine,
sondern in gleicher Weise ihre Kinder gefährdet sind (!)- daher nicht im Wege einer
Ermessensreduzierung auf Null zu einem Anspruch auf Aufhebung des
Rückkehrverbotes.
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Die gemäß §§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, 8 Satz 1 AG VwGO NRW kraft Gesetzes sofort
vollziehbare Zwangsgeldandrohung ist schließlich ebenfalls rechtlich nicht zu
beanstanden. Sie steht im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen der §§ 55, 57,
58, 60 und 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-
Westfalen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Da der
Beigeladene sich selbst mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat,
entspricht es der Billigkeit, dass er seine eigenen außergerichtlichen Kosten selbst trägt.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 des
Gerichtskostengesetzes (GKG). Sie berücksichtigt zum einen, dass vorliegend wegen
der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache der ungekürzte Auffangstreitwert des § 13
Abs. 1 Satz 2 GKG anzusetzen ist,
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vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Februar 2002 -5 B 278/02- ,
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und zum anderen, dass die mit der Grundverfügung verbundene Zwangsgeldandrohung
den Streitwert nicht erhöht.
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