Urteil des VG Aachen vom 11.07.2006

VG Aachen: entlassung aus der haft, ausreise, bundesamt für migration, verschlechterung des gesundheitszustandes, drohende gefahr, persönliche freiheit, medikamentöse behandlung, innere medizin

Verwaltungsgericht Aachen, 5 K 1577/00.A
Datum:
11.07.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 K 1577/00.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes
vom 24. Mai 2000 verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte
anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60
Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
T a t b e s t a n d :
1
Die nach eigenen Angaben am 00.00.0000 geborene Klägerin ist iranische
Staatsbürgerin und reiste gemeinsam mit ihrem am 00.00.0000 geborenen Ehemann
und dem am 00.00.0000 geborenen Sohn (beide Kläger des Verfahrens 5 K 1142/06.A)
am 12. Februar 2000 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie alsbald einen
Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte stellte.
2
Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im folgenden: Bundesamt) am 21.
Februar 2000 erklärte die Klägerin: Sie sei mit ihrem Ehemann bereits im April 1999
einmal in der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Im zweiten Jahr ihrer
Gymnasialzeit im Sommer 1983 sei sie festgenommen worden und anschließend 4
Jahre und 3 Monate in Haft gewesen bis sie 1987 entlassen worden sei. Danach habe
sie die Schule beendet und ein Studium der Geburtshilfe erfolgreich abgeschlossen.
Aufgrund ihres Führungszeugnisses habe sie keine Anstellung bekommen. 1990 habe
sie geheiratet. Einen Tag, nachdem ihr Ehemann einen Mitarbeiter entlassen habe bzw.
einige Tage später, seien die Leute vom Revolutionsgericht gekommen und zwar am 1.
Januar 2000 und hätten bei der Durchsuchung Unterlagen des N. L. gefunden, darunter
Zeugnisse, die sie ihrem Bruder N. nach Deutschland geschickt habe. Die Wohnung der
Mutter sei zuvor bereits des öfteren durchsucht worden, wobei das Satellitenfernsehen
des Vaters beschlagnahmt worden sei. Bei der Kontrolle der Pässe sei aufgefallen, dass
sie im Ausland gewesen waren. Am nächsten Tag, den 2. Januar 2000, hätten sie beim
Revolutionsgericht bestritten, etwas mit der Flucht des N. L. zu gehabt zu haben. Man
habe ihr vorgehalten, nach Deutschland gefahren zu sein, um Kontakt zu den
Mudjahedin aufzunehmen. Sie sei mit 15 Jahren ins Gefängnis gekommen, weil sie mit
den Mudjahedin Sport getrieben, Zeitungen gelesen und Parolen gerufen habe. Sie sei
nur Sympathisantin der Mudjahedin und nur während der Schulzeit für diese aktiv
3
gewesen. Die Strafe für die Beihilfe zur Flucht des N. L. sei die Hinrichtung. Ihre Pässe
seien einbehalten und sie zu einem erneuten Verhör geladen worden. Man habe ihnen
gesagt, sie seien verpflichtet, den Aufenthaltsort des N. zu nennen. Dies hätten sie aber
nicht getan, weil man sie sonst beschuldigt hätte, ihm zur Flucht verholfen zu haben. Zu
Hause hätten sie sich dann zur Ausreise entschieden. Die Ausreise hätten sie mit
erspartem Geld sowie dem Erlös aus dem Verkauf von Elektrogeräten finanziert. Ihr
Ehemann trug vor, er sei zum zweiten Mal in Deutschland, nachdem er sich bereits 1999
(ab dem 16. April 1999) mit einem Schengenvisum 12 Tage lang hier aufgehalten habe.
Er habe den Iran gemeinsam mit seiner Familie am 20. Januar 2000 mit dem Bus über
die Türkei verlassen, von wo aus sie mit gefälschten Papieren mit dem Flugzeug nach
Frankfurt geflogen seien. Nach dem Schulabschluss habe er zunächst in einer Firma
gearbeitet, die Transformatoren herstellt und von 1987 bis 1990 seinen Wehrdienst
absolviert. Er habe auch acht Monate im Militärgefängnis gesessen. Anschließend habe
er sich selbständig gemacht und bis zu seiner Ausreise Transformatoren hergestellt und
verkauft. 1990 habe er geheiratet. Er sei ausgereist, weil seine Frau fünf Jahre lang im
Gefängnis gewesen sei; sie gehöre der Organisation der Mudjahedin an. Er selbst sei
während seiner Militärzeit acht Monate im Gefängnis gewesen, weil er mit einem Juden
zusammen gearbeitet habe. Ihre Pässe seien vom Revolutionsgericht eingezogen und
beschlagnahmt worden. Er - der Kläger - sei verhaftet worden, weil er in geschäftlichen
Beziehungen zu einem N1. S. gestanden habe, der wegen eines gefälschten Schecks
festgenommen worden sei. Es habe acht Monate gedauert, bis er seine Unschuld habe
beweisen können. Danach habe er keine Probleme mehr mit den iranischen
Sicherheitsbehörden gehabt. Seine Ehefrau sei zu fünf Jahren Gefängnis (1983 bis
1987) verurteilt worden, weil sie die Zeitschrift Mudjahedin gelesen habe. Der Schwager
N. L. sei wegen der Teilnahme an den Studentenprotesten verfolgt worden und
ausgereist. Vor der Ausreise habe er einen Mitarbeiter der Firma entlassen. Dieser habe
ihm gedroht, ihn zu verraten, weil er ein Telefongespräch mit dem Cousin S1. L.
mitbekommen habe und zu wissen glaubte, dass die Kläger dem N. L. zur Flucht
verholfen hätten. Ein paar Tage später - am 1. Januar 2000 - seien Ordnungskräfte mit
einem Urteil des Revolutionsgerichts gekommen und hätten die Wohnung durchsucht
und persönliche Unterlagen des N. L. sowie ihre Pässe beschlagnahmt. Am nächsten
Tag, dem 2. Januar 2000, seien sie in der Außenstelle des Revolutionsgerichts Nr. 13
gefragt worden, ob sie dem N. zur Flucht verholfen hätten. Man habe ihnen vorgeworfen
1999 in Deutschland gewesen zu sein, weil die Klägerin wieder Kontakt zu den
Mudjahedin aufnehmen wollte. Die Pässe seien zunächst bis zum nächsten Termin
einbehalten worden; sie seien beleidigt und schlecht behandelt worden. Die Wohnung
des Schwiegervaters sei durchsucht und das Satellitenfernsehen beschlagnahmt
worden.
Mit Bescheid vom 24. Mai 2000, der Klägerin zugestellt am 30. Juni 2000, lehnte das
Bundesamt die Asylanträge der Klägerin und ihres Ehemannes sowie Kindes ab und
stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG)
und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Gleichzeitig forderte es
die Klägerin unter Androhung der Abschiebung in den Iran zur Ausreise binnen eines
Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung auf.
4
Die Klägerin hat am 13. Juli 2000 - gemeinsam mit Ehemann und Kind - Klage erhoben
und trägt zur Begründung vor: Hinsichtlich des Anhörungsprotokolls beim Bundesamt
seien Anmerkungen und Ergänzungen zu machen. Die Inhaftierungen der Eheleute
seien nur der Hintergrund, vor dem sich das fluchtauslösende Ereignis besser verstehen
lasse. Der Mitarbeiter der Firma habe entlassen werden müssen, damit er nicht sein
5
Wissen in der Firma weiterverbreitete. Der Ehemann habe nicht gesagt, dass er fürchte
in ein Militärgefängnis, sondern in ein Gefängnis gesteckt zu werden. Nach der
Entlassung aus dem Revolutionsgericht seien sie zunächst nach Hause gegangen, aber
aus Angst nach kurzer Zeit zur Wohnung der Schwester des Ehemannes gegangen, wo
sie bis zur Ausreise geblieben seien und nur einmal zum Zwecke des Verkaufs der
Elektrogeräte zurückgekehrt. Der Klägerin sei nicht das gesamte Protokoll rückübersetzt
worden; sie habe auf die Übersetzung der Angaben zum Lebenslauf verzichtet. Die
Klägerin sei wegen der Erlebnisse im Evin-Gefängnis schwerst traumatisiert. Sie sei von
1981 bis 1982 bei den Mudjahedin aktiv gewesen, indem sie 'Slogans' gerufen, Plakate
geschrieben und Manifeste gegen das Mullahregime an die Häuser geheftet sowie an
Demonstrationen teilgenommen habe. Sie habe an Diskussionsgruppen sowie dem
Lesen und Verkauf von Zeitschriften teilgenommen. 1982 sei sie deshalb bereits einmal
aus der Schule geworfen, aber dann wieder aufgenommen worden. Im Sommer 1982
sei das Haus der Eltern von Pasdaran durchsucht und sie mitgenommen worden. Sie
sei mit verbundenen Augen zum Evin- Gefängnis gebracht und von einem Mann verhört
worden, der sich O. genannt und ihr gesagt habe, dass sie sich in der
Anhörungsabteilung Nr. 12 im Evin- Gefängnis befinde. Sie habe erfahren, dass viele
ihrer Freunde festgenommen worden seien und ihren Namen verraten hätten. Sie und
andere Personen in ihrer Zelle seien gefoltert worden; sie sei mit einer Peitsche auf die
Füße und mit einem Gummistock auf die Fußsohlen geschlagen worden. Danach hätten
sie Salbe und Verbandszeug bekommen, seien aber wieder geschlagen worden. So sei
sie dazu gebracht worden, Dinge zu gestehen, die sie nie getan habe und dies zu
unterschreiben. Manchmal seien sie nachts mit verbundenen Augen in den Gebetsraum
geführt worden, wo ihr eine zum Tode verurteilte Frau gesagt habe, dass sie von einem
männlichen Pasdaran vergewaltigt worden sei. Sie habe schreckliche Dinge erlebt und
etwa gehört, dass Namen von Gefangenen aufgerufen worden seien, von denen sie
später erfahren habe, dass sie exekutiert worden seien. Der Ehemann einer Freundin
sei auch hingerichtet worden, dennoch habe diese ihr zweijähriges Kind nur einmal im
Monat sehen dürfen. Nach einiger Zeit sei sie in eine andere Abteilung mit sieben
Zellen verlegt worden, wo sie mit 40 bis 50 weiblichen Gefangenen in einer etwa 35 qm
großen Gefängniszelle untergebracht gewesen sei. Für die ca. 300 Gefangenen habe
es nur vier Toiletten gegeben. Dort seien sie mehr psychisch gefoltert worden und etwa
als Teufel bezeichnet worden. Erst nach einem Monat habe sie ihre Familie telefonisch
benachrichtigen dürfen; diese habe sie erst nach Monaten besuchen dürfen und dabei
bis auf einmal nur durch Glas mit ihr sprechen dürfen. Es habe nicht genug zu essen
gegeben, sie habe Zwangsarbeit leisten und Kleidung für Pasdaran nähen müssen.
Nach einigen Monaten sei sie mit verbundenen Augen in einen 'Gerichtssaal' gebracht
worden, wo nach ihren Eindruck ein Mullah gewesen sei, der sie nach sieben oder acht
Minuten und einem aus Angst erfolgen Geständnis zu einer Gefängnisstrafe von 5
Jahren verurteilt habe. Um die Umstände der Haft etwas zu mildern habe sie versucht,
sich an den Untersuchungsbeamten O. zu wenden, der aber versetzt worden war.
Aufgrund von Aktivitäten ihrer Eltern sei sie nach vier Jahren und drei Monaten
entlassen worden. Später habe sie sich aber immer wieder noch melden müssen. Noch
heute träume sie oft vom Gefängnis und wache oft nachts schreiend auf. Ihr Cousin und
ihr Bruder könnten bestätigen, dass sie auf dem Luftweg eingereist seien, da diese sie
vom Flughafen abgeholt hätten. Der entlassene Arbeiter habe mehrfach Materialien und
Werkzeug gestohlen und sei ein religiöser Fundamentalist. Beim Revolutionsgericht
seien sie nach dem Aufenthaltsort von N. gefragt worden. Ihnen sei vorgehalten worden,
dass sich aus den beschlagnahmten Briefen des S1. ergebe, dass sie dem N. zur Flucht
verholfen hätten. Tatsächlich habe die Klägerin zwei Briefe des Cousins S1. aus
Deutschland gebracht, als dieser sich im Norden des Irans versteckt gehalten habe.
Aber diese Briefe seien nicht gefunden worden, sondern Kopien der Zeugnisse des N. ,
die sie diesem geschickt hatte. Sie habe den N. über die Fortschritte wegen der
Ausstellung eines Reisepasses und Visums für ihn informiert. Nach ihrer Entlassung
aus der Haft habe sie sich über fünf Jahre regelmäßig melden müssen und sei verhört
worden. Sie sei überwacht und das Haus mehrfach durchsucht worden. Erst 13 Jahre
nach der Haftentlassung habe sie einen Pass bekommen. Nachdem sie sich um einen
Studienplatz beworben habe, sei sie trotz guter Ergebnisse bei der Aufnahmeprüfung
zunächst nicht auf der Universität aufgenommen worden. Sie habe von der Universität
einen Brief erhalten, wonach ihr Name trotz bestandener Aufnahmeprüfung wegen ihrer
politischen Gefangenschaft nicht auf der Liste der erfolgreichen Kandidaten erscheine.
Personen, die im Iran bereits einmal auffällig gewesen seien und gegen das
Versprechen, nicht noch einmal straffällig zu werden entlassen worden seien,
unterlägen bei erneuter Auffälligkeit einer besonderen Gefahr. Dies werde durch ein
überreichtes Gutachten des Deutschen Orient-Instituts belegt. Die Klägerin legte ferner
Bescheinigungen des Facharztes für Nervenheilkunde und Psychotherapie Dr. L1. vom
2. April 2001 und 30. März 2002 vor, wonach sie dort seit November 2000 wegen
massiver Angstzustände, schweren Depressionen u.a. in Behandlung ist und das
festgestellte Krankheitsbild allein auf das im Iran Erlebte zurückzuführen ist. Es müsse
von weiteren 50 Sitzungen ausgegangen werden und die notwendige medikamentöse
Behandlung mit Antidepressiva durchgeführt werden. Darüber hinaus legte die Klägerin
ein psychotraumatologisches Gutachten der Dipl.-Psych. B. -B1. und des Arztes für
Innere Medizin sowie für psychotherapeutische Medizin Dr. H. vom 26. Januar 2004 vor.
Die Gutachter bescheinigen der Klägerin das Vorliegen einer Posttraumatischen
Belastungsstörung ICD-Nr. F 43.1 mit dissoziativen Symptomen (F 44), eine depressive
Störung (ICD-Nr. F 33), Somatisierungsstörung ICD-Nr. F 45.0 und beg.
Persönlichkeitsstörung (Desnos - DSM IV) und F 62.0 ICD. Die Störung sei mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit auf Erlebnisse im Iran zurückzuführen, wobei die
ursprüngliche Traumatisierung den Jahren 1983 bis 87 und die Retraumatisierung der
Phase 1999 bis 2004 zuzurechnen sei. Es bestehe ein dringendes
Behandlungserfordernis. Ohne ein sicheres Umfeld sei die Prognose mit und ohne
Therapie eher ungünstig. Eine Abschiebung würde zu einer Destabilisierung führen und
berge ein erhebliches Risiko einer Retraumatisierung. In einem Schreiben an das
Gericht wiederholt und vertieft die Klägerin ihre bisherigen Angaben. Sie weist darauf
hin, dass sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen sei und
die Belastungen und Beschränkungen während des Aufenthalts hier nicht auf sich
genommen hätte, wenn sie nicht in Lebensgefahr seien. Sie seien auch alle keine
Moslems mehr, da sie nicht mehr an den Islam glaubten. Sie seien in Deutschland für
die CPI-Partei tätig, die Kontakt zum Sohn des ehemaligen Schah habe. Die Klägerin
beantragt,
1. die Beklagte unter Aufhebung von Ziff. 1 des Bescheides des Bundesamtes vom 24.
Mai 2005 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und unter Aufhebung
von Ziff. 2 des Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,
6
hilfsweise,
7
die Beklagte unter Aufhebung von Ziff. 3 des Bescheides zu verpflichten festzustellen,
dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen
8
sowie
9
2. die Abschiebungsandrohung aufzuheben.
10
Die Beklagte beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12
Zur Begründung nimmt sie Bezug auf die Ausführungen in dem angefochtenen
Bescheid und führt ergänzend aus: Auch das vorgelegte psychotraumatologische
Gutachten führe nicht zu einer Feststellung von Abschiebungshindernissen, da nicht
dargelegt sei, dass die dargelegten depressiv-ängstlichen Störungen bei einer
Rückkehr der Klägerin zu einer wesentlichen oder gar lebensbedrohenden
Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen könne, weil keine
Behandlungsmöglichkeiten bestünden. Auch erfülle das Gutachten die vom
Bundesverwaltungsgericht aufgestellten hohen inhaltlichen Anforderungen an ein
aussagepsychologisches Gutachten. Es fehle jede Auseinandersetzung mit dem
Wahrheitsgehalt der Aussagen der Klägerin. Es sei nicht geklärt, ob das Krankheitsbild
genetisch oder traumatisch bedingt sei. Wegen des Vertrauensverhältnisses solle eine
Begutachtung grundsätzlich auch nicht durch den behandelnden Arzt erfolgen. Eine
Sippenhaft gebe es im Iran nicht. Auf die behaupteten politischen Aktivitäten der
Eheleute und die Fluchthilfe zu Gunsten des Bruders habe der iranische Staat reagiert
und zwar ohne gravierende Folgen.
13
Die Kammer hat durch Einholung eines Gutachtens des Deutschen Orient- Instituts
Beweis über die Frage erhoben, ob der Klägerin wegen geleisteter Fluchthilfe für den
Bruder bei einer Rückkehr in den Iran Verfolgungsmaßnahmen drohen. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 3. April 2006
Bezug genommen.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagte und des
Landrates des Kreises Aachen sowie der Gerichtsakte des VG Stuttgart zum Verfahren
des N. L. - A 11 K 12370/00 - ergänzend Bezug genommen.
15
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
16
Die Klage hat Erfolg.
17
Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. Mai 2000 ist rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in ihren Rechten; die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung als
Asylberechtigte gemäß Art. 16 a des Grundgesetzes (GG) und Feststellung des
Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
18
Politisch verfolgt im Sinne der Asylgrundrechts gemäß Art. 16 a GG ist derjenige,
dessen Leib, Leben oder persönliche Freiheit in Anknüpfung an seine politische
Überzeugung, an seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen (asylerhebliche Merkmale), gezielt gefährdet
oder verletzt wird.
19
Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 5. August 1998 - 2 BvR 153/96 -, DVBl. 1998, 1178, und
vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 und 515, 1827/89 -, BVerfGE 83, 216.
20
Asylerhebliche Rechtsverletzungen sind Eingriffe in Leib, Leben und physische Freiheit,
da sie generell die asylrechtlich erforderliche Intensität und Schwere haben.
Maßnahmen, die andere Rechtsgüter treffen, sind dann Verfolgung, wenn sie nach ihrer
Intensität und Schwere in die Menschenwürde des Opfers eingreifen und im Sinne einer
ausgrenzenden Verfolgung über das hinausgehen, was die Bewohner des
Verfolgerstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen
haben.
21
Gezielt ist der Eingriff, wenn die Rechtsverletzung "wegen" eines asylerheblichen
Merkmals erfolgt. Ob eine in dieser Weise spezifizierte Zielrichtung vorliegt, ist anhand
ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst
zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden
leiten,
22
vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. August 1998 - 2 BvR 153/96 -, DVBl. 1998, 1178.
23
Eine unmittelbar drohende Gefahr steht der eingetretenen Verfolgung gleich.
24
Die so definierten Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigte liegen
vor. Zu dieser Überzeugung ist die Kammer aufgrund der Angaben der Klägerin und
ihres Ehemannes beim Bundesamt in der rund sechsstündigen mündlichen
Verhandlung vom 25. August 2005, der Angaben in der Verhandlung vom 11. Juli 2006
sowie dem gewonnenen persönlichen Eindruck der Asylsuchenden und der
gutachterlichen Ausführungen des Deutschen Orient-Instituts vom 3. April 2006 an das
erkennende Gericht gelangt. Danach drohten der Klägerin vor der Ausreise und drohen
ihr auch bei einer Rückkehr in den Iran Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Stellen
wegen eines asylerheblichen Merkmals. Die Kammer glaubt der Klägerin, dass sie in
den achtziger Jahren (bis 1987) im Iran wegen des Vorwurfs der Betätigung für die
Mudjahedin vier Jahre und drei Monate inhaftiert war, während der Haft misshandelt
wurde und auch in der Folgezeit Repressalien in Gestalt von Meldepflichten und
Passverweigerung ausgesetzt war. Ihre Angaben hierzu sind im wesentlichen
widerspruchsfrei, anschaulich und detailliert. Soweit sie in der mündlichen Verhandlung
über eine bis dahin nicht erwähnte, aber zu Beginn des Klageverfahrens bereits
angedeutete sexuelle Misshandlung in Form einer Vergewaltigung berichtet hat, sieht
das Gericht hierin kein gesteigertes und unglaubwürdiges Vorbringen, da das zunächst
erfolgte Unterlassen entsprechender Angaben sowohl im Hinblick auf den kulturellen
Hintergrund der Klägerin als auch nach dem von ihr gewonnenen persönlichen
Eindruck nachvollziehbar erscheint. Insbesondere konnte sie dem Gericht vermitteln,
dass ihr vormaliges Schweigen nicht darauf beruhte, dass die Schilderung nicht der
Wahrheit entspricht und zunächst 'erfunden' werden musste, sondern auf dem mit der
Erinnerung und der Beschreibung des Geschehens verbundenen besonderen
Leidensdruck. Ihre Bereitschaft, der Vorsitzenden hierüber zu berichten und Rede und
Antwort zu stehen sowie ihr Wunsch, dies nicht in Anwesenheit des Ehemannes, ihres
Prozessbevollmächtigten und des Dolmetschers zu tun, der Inhalt ihrer Schilderung und
die Art und Weise des Vortrags haben deutlich zur Glaubhaftigkeit des Vorbringens und
Nachvollziehbarkeit des Umstandes beigetragen, dass die Vorgänge nicht bereits zuvor
beim Bundesamt oder ihrem Prozessbevollmächtigten geschildert worden waren. Die
Klägerin machte im Rahmen der Befragung durch die Vorsitzende in sich stimmige
Angaben zu Einzelheiten des Geschehens im Gefängnis. Dabei entstand zu keinem
Zeitpunkt der Eindruck von Übertreibung und vermittelte ihre Schilderung nicht den
25
Verdacht, auf nicht selbst Erlebtem zu beruhen oder das Geschehene dramatisieren
oder steigern zu wollen. Die Beschreibung der Vergewaltigung, ihre Einlassungen auch
auf mehrfache Nachfragen des Gerichts sowie die dabei vermittelte emotionale
Beteiligung der Klägerin waren insgesamt glaubhaft. Die Kammer glaubt der Klägerin
auch, dass die Inhaftierung und Misshandlung wegen des Vorwurfs der Betätigung der
Klägerin für die Mudjahedin erfolgte. Auf die tatsächliche Gewichtigkeit oder
Ernsthaftigkeit der Betätigung kommt es dabei nicht an. Die Kammer geht ferner davon
aus, dass die Klägerin wegen der gegen sie erhobenen Vorwürfe auch Jahre nach der
Entlassung aus der Haft noch Repressalien in Gestalt von Meldepflichten und der
Verweigerung eines Passes ausgesetzt war. Die Klägerin und ihr Ehemann haben
ferner glaubhaft gemacht, unmittelbar nach und wegen der Flucht des Bruders der
Klägerin, N. L. , von den Sicherheitskräften zum Verhör geladen und drangsaliert
worden zu sein. Das Gericht ist aufgrund der widerspruchsfreien Angaben der Klägerin
und der Ausführungen des Deutschen Orient-Instituts in seinem Gutachten vom 3. April
2006 zu der Überzeugung gelangt, dass deshalb jedenfalls für sie die Gefahr
asylerheblicher Übergriffe durch staatliche Sicherheitskräfte mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit unmittelbar drohte und mit der Ausreise zunächst abgewendet
wurde, aber bei einer Rückkehr in den Iran auch heute noch droht. Der Gutachter macht
anschaulich und nachvollziehbar deutlich, dass jemand mit einer politischen Biographie
wie die Klägerin, sich in den Augen iranischer Behörden nicht mehr richtig befreien
kann und mit einer Reaktivierung alter Vorgänge rechnen muss, wenn etwas 'auffälliges'
passiert. Er erachtet das Vorbringen der Klägerin, insbesondere auch den Einzug der
Reisepässe und das Erheben von Vorhaltungen wegen früherer Reisen nach
Deutschland wegen des Bruders und dessen Ausreise, für insgesamt plausibel und das
geschilderte Verhalten iranischer Behörden in solchen Fällen als durchaus typisch.
Völlig gleichgültig ist nach seiner Einschätzung, ob an den erhobenen Vorwürfen
'irgendetwas dran ist'. Dabei verkennt er nicht, sondern stellt selbst ausdrücklich fest,
dass die Ausreise des Bruders - wegen der Beteiligung an Studentenunruhen - für die
iranischen Behörden nicht von sonderlicher Bedeutung war oder geblieben ist.
Maßgeblich für die Annahme einer Gefährdung der Klägerin ist danach deren eigene
politische Vergangenheit, ohne dass es auf die Richtigkeit der gegen sie erhobenen
Vorwürfe ankommt. Daher sei die Frage, ob die Klägerin mit Verfolgungsmaßnahmen zu
rechnen hat, wegen ihrer eigenen Vorgeschichte und wegen des langjährigen
Auslandsaufenthalts zu bejahen. Das Gericht schließt sich dieser Einschätzung des
Gutachters, an dessen Sach- und Fachkunde keine Zweifel bestehen, an, da sie auf der
Grundlage langjähriger Beschäftigung mit der Problematik beruht und in sich schlüssig
und nachvollziehbar begründet ist. Der vom Bundesamt gegen die Bewertung des
Sachverständigen erhobene Einwand, dass Sippenhaft im Iran nicht praktiziert wird, trifft
den Sachverhalt nicht. Denn es war nicht zu prüfen, ob eine Gefährdung der Klägerin
allein wegen politischer Tätigkeiten oder Verfolgung des Bruders besteht, sondern ob
dies der Fall ist, weil sie selbst aufgrund ihrer Vergangenheit vorbelastet ist und diese
Vorbelastung aus Anlass eines neuen - ohne ihre Vergangenheit möglicherweise
unproblematischen - Vorfalls erneut auflebt. Auch der Umstand, dass die Klägerin bis zu
ihrer Ausreise keinen gravierenderen Folgen als den von ihr beschriebenen ausgesetzt
war, sagt nichts aus über den Grad der Gefährdung und die Wahrscheinlichkeit weiterer
asylerheblicher Verfolgungsmaßnahmen, wenn nicht zuvor die Ausreise erfolgt wäre
bzw. bei einer Rückkehr in den Iran nach Abschluss des Asylverfahrens.
Der Anerkennung als Asylberechtigte steht auch nicht eine Einreise auf dem Landweg
und damit über einen sicheren Drittstaat entgegen, Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG.
Die Kammer erachtet auch die hierzu erfolgte Schilderung der Klägerin und ihres
26
Ehemannes als glaubhaft. Sie haben hierzu in der mündlichen Verhandlung vom 11.
Juli 2006 Angaben zum Flug, Flugzeug und Flugpersonal gemacht, die angesichts der
zwischenzeitlich vergangenen Zeit seit der Ausreise hinreichend konkret waren. Weitere
Nachforschungen durch das Gericht, etwa in Gestalt einer Anfrage über Passagierlisten
bei der Fluggesellschaft, waren danach nicht erforderlich und wegen des Zeitablaufs
ohne Aussicht auf weitere Aufklärung.
Die Klägerin hat aus den vorstehenden Gründen auch einen Anspruch auf Verpflichtung
der Beklagten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von
Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 - BGBl. I
S. 1950 - vorliegen und auf Aufhebung der negativen Feststellung zu
Abschiebungshindernissen § 53 AuslG bzw. nunmehr § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
27
Die Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig, soweit der Klägerin darin die
Abschiebung in den Iran angedroht und eine Ausreisefrist von einem Monat gesetzt
worden ist. Gemäß §§ 34 AsylVfG, 59 Abs. 3 AufenthG steht das Vorliegen eines
Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG dem Erlass einer
Abschiebungsandrohung grundsätzlich nicht entgegen. Die gerichtliche Verpflichtung
zur Feststellung des Abschiebungsverbots führt jedoch zur Teilaufhebung der
Abschiebungsandrohung in Bezug auf den Zielstaat, sofern - wie hier - Verfolgerstaat
und Zielstaat identisch sind, und zur Aufhebung der Fristbestimmung, wenn es - wie hier
- an der nach § 60 Abs. 10 Satz 1 AufenthG insoweit erforderlichen
Ermessensentscheidung fehlt.
28
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt ergibt sich aus § 167
VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.
29