Urteil des VG Aachen vom 26.11.2002

VG Aachen: behinderung, rechtschreibschwäche, lese, professor, legasthenie, eltern, form, eingliederung, gesellschaft, wahrscheinlichkeit

Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 1153/01
Datum:
26.11.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 1153/01
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 6. April
2001 und seines Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 2001
verpflichtet, der Klägerin Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für die
Zeit ab dem 22. September 2000 bis zum 30. Juni 2001 in Form der
Übernahme der Kosten einer Intensivförderung durch das
Lerntherapeutische Institut in B. im Umfang von einer Stunde
Einzelunterricht wöchentlich zu bewilligen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden,
wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe
leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Das 1990 geborene klagende Kind ist das zweite Kind der Eheleute X.. Es hat einen
vier Jahre älteren Bruder. Am 21. September 1999 stellten die Eltern erstmals einen
Antrag auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, da K. erhebliche
Rechtschreibschwierigkeiten aufweise. In einer Stellungnahme der
Erziehungsberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband I., vom 17. August 1999
wurde festgestellt, dass K. im Intelligenztest mit einem IQ von 103 einen
durchschnittlichen Wert erreichte. Dagegen zeigten die Leistungen im Rechtschreibtest,
dass hier eine deutliche Schwäche vorliege (Prozentrang 17). Aufgrund der
vorliegenden Testergebnisse müsse davon ausgegangen werden, dass bei K. eine
spezifische Rechtschreibschwäche vorliege, so dass sie einer besonderen Förderung
bedürfe. In einer Stellungnahme der Gemeinschaftsgrundschule -GGS- Q. vom 22.
Oktober 1999 heißt es, dass die Schülerin erlassgemäß gefördert werde. Sie nehme mit
vier bis fünf weiteren Kindern am Förderunterricht teil. Gelegentlich werde zusätzlich
Einzelförderung zum Beispiel mit Hilfe des Computers oder tägliches Worttraining
durchgeführt. Sie erreiche trotz dieser Förderung die Grundanforderungen im Lesen und
2
Schreiben nicht. Sie erbringe auch in anderen Fächern nur schwache Leistungen. Sie
habe deshalb bereits das 1. Schuljahr wiederholt. Bedingt durch die
Wahrnehmungsstörungen und die geringe Merkfähigkeit stelle sich der Lernerfolg nur
sehr schleppend ein. Da der Erfolg bislang nur gering gewesen sei, befürwortete die
Klassenlehrerin eine qualifizierte spezielle Förderung im außerschulischen Bereich.
Nachdem die Erziehungsberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt des Kreisverbandes I. mit
Stellungnahme vom 1. Februar 2000 bestätigt hatte, dass infolge der
Teilleistungsstörung Reaktionen im emotionalen Bereich und im Sozialverhalten
festzustellen seien, die die Gefahr einer seelischen Fehlentwicklung - bzw. seelischen
Behinderung - befürchten ließen, bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 3. April 2000
für die Zeit vom 22. September 1999 bis zum 21. September 2000 Eingliederungshilfe
gemäß § 35 a SGB VIII durch das Lerntherapeutische Institut in B..
3
Am 13. Juli 2000 fand ein Hilfeplangespräch im Jugendamt des Beklagten statt, in dem
u.a. die Weiterführung der Eingliederungshilfe über den 21. September 2000 hinaus
besprochen wurde. Es wurde vereinbart, dass vor einer Entscheidung eine
Stellungnahme von Herrn E. vorgelegt werden sollte, die sich mit dem weiteren
Förderungsbedarf von K. befasse. Weiter sollte das Abschlusszeugnis der 2. Klasse
dem Jugendamt zugeleitet werden.
4
Am 11. Oktober 2000 stellte die Mutter des klagenden Kindes einen ausdrücklichen
Verlängerungsantrag für ein weiteres Jahr.
5
Unter dem 29. Januar 2001 legte die Erziehungsberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt
des Kreisverbandes I. ein Folgegutachten vor. Dort heißt es u.a.: "Im Rechtschreibtest
HSP 3 erzielte K. mit einem Prozentrang von 31 ein unterdurchschnittliches Ergebnis.
Vergleicht man doch dieses Testergebnis mit dem Befund vom 1. Februar 2000
(Prozentrang 28), so lassen sich Fortschritte in ihrer Schreibfähigkeit feststellen."
6
In den Akten befindet sich ein handschriftlicher Vermerk vom 22. Februar 2001, dass die
Klägerin nach diesen Feststellungen nicht weiter gefördert werden könne. Nachdem die
Eltern zu der geplanten Entscheidung angehört worden waren, lehnte der Beklagte mit
Bescheid vom 6. April 2001 die weitere Gewährung von Eingliederungshilfe zur
Behebung der Lese- und Rechtschreibschwäche der Klägerin ab. Das Kreisjugendamt
habe die Kriterien für die Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII an
die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angepasst. Aufgrund dessen
seien nun bei der Prüfung des Verlängerungsantrages die neuen Kriterien für eine
eventuelle Bewilligung zugrunde gelegt worden. Zwar seien ausweislich des
Gutachtens der AWO- Beratungsstelle vom 17. August 1999 eine Lese-
/Rechtschreibschwäche und eine seelische Störung beobachtet worden. Die Klägerin
zeige den Verlust von Selbstvertrauen, Minderwertigkeitsgefühle, Selbstvorwürfe und
den Verlust der Lernmotivation. Es liege jedoch keine seelische Störung im Sinne von §
3 Satz 2 der Eingliederungshilfeverordnung aufgrund der Lese-/ Rechtschreibschwäche
vor. Nicht jede ausgeprägte Teilleistungsschwäche führe zu einer seelischen Störung,
aus der dann eine seelische Behinderung entstehen könne. Nach der internationalen
Klassifikation psychischer Störungen müsse diese Teilleistungsschwäche vielmehr
erheblich sein. Eine solche erhebliche Beeinträchtigung könne jedoch nur
angenommen werden, wenn die spezielle schulische Fertigkeit einen Prozentrang
kleiner oder gleich 3 ergebe. Dies bedeute, dass 97 % der Schüler in derselben Alters-
/Klassenstufe bei diesem Test ein besseres Ergebnis erzielten. Bei K. sei im
7
vorgenannten Testverfahren ein Prozentrang größer als 3, nämlich 31, festgestellt
worden. Die festgestellte Teilleistungsstörung liege deshalb nicht in der Ausprägung
vor, dass daraus mit hoher Wahrscheinlichkeit eine seelische Behinderung entstehe.
Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie verwies darauf, dass sie sich um einen Testtermin
in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums B. bemüht habe. Sie bat, die
Entscheidung über den Widerspruch erst nach Vorlage des Gutachtens zu treffen.
8
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 2001 wies der Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück. Er wiederholte und vertiefte die Begründung des Erstbescheides.
Auf die Untersuchung der Kinder- und Jugendpsychiatrie komme es nicht an, da mit der
durch die AWO-Erziehungsberatungsstelle durchgeführten Untersuchung eine fachliche
Aussage vorliege, die eine abschließende Entscheidung hinsichtlich des Anspruchs auf
Eingliederungshilfe in Form von Lese- /Rechtschreibschwäche erlaube.
9
Am 29. Juni 2001 ging beim Beklagten das von der Leiterin der Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Hochschule B., Frau Professor I.,
erstellte Gutachten vom 26. Juni 2001 ein. Dort heißt es unter anderem:
10
"Diagnosen: Nägelkauen, (ICD 10; F 98.8), ausgeprägte Lese- und Rechtschreibstörung
(ICD 10; F 81.0),
11
Beurteilung und Empfehlung: Wir sehen bei K. eine leichte Lese- und sehr ausgeprägte
Rechtschreibstörung, die trotz der entsprechenden Förderung seit dem 22. September
1999 besteht. Wir empfehlen daher die bereits eingeleitete Förderung intensiver als
bisher fortzusetzen, um einer sonst sehr wahrscheinlichen Entwicklung einer seelischen
Behinderung vorzubeugen."
12
Die Eltern von K. haben am 25. Juni 2001 Klage erhoben. Sie sind der Auffassung, dass
selbst unter Zugrundelegung der in den versagenden Bescheiden zum Ausdruck
gekommenen Auffassung des Beklagten ein Anspruch auf die begehrte
Eingliederungshilfe bestehe. Aus dem Gutachten von Frau Professor Dr. I. ergebe sich,
dass durch die Schwere der Rechtschreibstörung eine seelische Störung von Belang
bereits vorliege und die Entwicklung einer seelischen Behinderung sehr wahrscheinlich
sei. Wie sich aus dem Test ergeben habe, erreiche die Klägerin lediglich den
Prozentrang 2,2, was bedeute, dass fast 98 % der gleichaltrigen Schüler bessere
Ergebnisse zeigen würden. Deshalb sei von einer erheblichen Teilleistungsschwäche
auszugehen, bei deren Nichtbehandlung von einer drohenden Behinderung
ausgegangen werden könne. Deshalb sei eine Fortsetzung der gewährten
Eingliederungshilfe dringend geboten. Im Gutachten von Frau Professor Dr. I. sei
ausdrücklich sogar eine Intensivierung der Förderung gefordert worden. Nach vier
Jahren Grundschule sei sie zu Beginn des Schuljahres 2002/2003 auf eine
Gesamtschule gewechselt, wo sie zurzeit die fünfte Klasse besuche.
13
Die Klägerin beantragt,
14
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 6. April 2001 und seines
Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 2001 zu verpflichten, der Klägerin
Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für die Zeit ab dem 22. September 2000 bis
zum 30. Juni 2001 in Form der Übernahme der Kosten einer Intensivförderung durch
das Lerntherapeutische Institut in B. für eine Wochenstunde Einzelunterricht zu
15
gewähren.
Der Beklagte beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
17
In der Sache tritt er der Klage unter Wiederholung der Erwägungen der versagenden
Bescheide entgegen. Dem klagenden Kind sei - wie vielen anderen Kindern in seinem
örtlichen Zuständigkeitsbereich - zunächst großzügig Eingliederungshilfe nach § 35 a
SGB VIII zur Behebung von Teilleistungsschwächen gewährt worden. Unter
Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht habe er Anlass
gesehen, die Anforderungen an das Vorliegen einer seelischen Behinderung oder einer
drohenden Behinderung infolge einer Teilleistungsschwäche zu verschärfen. Nach
diesen Anforderungen sei er der Überzeugung, dass die Klägerin weder seelisch
behindert noch in Folge der Lese- /Rechtschreibschwäche von einer seelischen
Behinderung bedroht sei. Für diese Prognoseentscheidung habe er sich bis zum
Inkrafttreten des SGB IX am 1. Juli 2001 der Kompetenz der Fachkräfte in den
Erziehungsberatungsstellen der im Kreis I. tätigen Verbände der freien Wohlfahrtspflege
bedient. Dort werde ein standardisiertes Testverfahren angewandt. Es bestünden aus
seiner Sicht keine Zweifel an der Fachlichkeit der dort getroffenen Entscheidungen. Das
Gutachten von Frau Prof. Dr. I. sei nicht geeignet, die Richtigkeit seiner diesbezüglichen
Entscheidung in Zweifel zu ziehen. Die versagenden Entscheidungen seien auch durch
eine von ihm eingeholte Stellungnahme der GGS Q. vom 2. Oktober 2002 bestätigt
worden. Dort werde festgestellt, dass bei dem klagenden Kind keine isolierte Lese-
/Rechtschreibschwäche vorliege, sondern K. nach den Leistungen in allen Fächern als
allgemein schwach begabt anzusehen sei. Die Klassenlehrerin habe auf die
Lernschwierigkeiten mit einer intensiven, in die Arbeit in der Klasse integrierten
Förderung reagiert, die ein solides Fundament für die Fortführung der Ausbildung an
einer Hauptschule sei. Die frühere Grundschule sehe deshalb die erstrebte
außerschulische Förderung nicht als den geeigneten Weg an, um dem klagenden Kind
zu einer seinen Verhältnissen angemessenen Schullaufbahn zu verhelfen.
18
Die Kammer hat im Termin zur mündlichen Verhandlung den Lerntherapeuten E. vom
Lerntherapeutischen Institut in B. als Zeugen zum Ablauf des Einzellunterrichts für K. X.
gehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift zur
mündlichen Verhandlung vom 12. November 2002 verwiesen.
19
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die im Verfahren gewechselten Schriftsätze
Bezug genommen.
20
Entscheidungsgründe:
21
Die Klage ist zulässig.
22
Die Kammer hat im Termin zur mündlichen Verhandlung von Amts wegen und im
Einvernehmen mit den Beteiligten das Rubrum dahin berichtigt, dass Kläger das
minderjährige Kind K. und nicht seine Eltern sind. Denn anders als bei der Hilfe zur
Erziehung nach den §§ 27 ff SGB VIII, die den Eltern gewährt wird, sind Inhaber des
Anspruchs auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII die Kinder bzw. die
Jugendlichen selbst. Beide Hilfen sind zwar im vierten Abschnitt des SGB VIII geregelt,
23
sind aber verschiedenen Unterabschnitten zugewiesen.
In der Beschränkung des Klagezeitraums auf die Zeit vom 22. September 2000 bis zum
30. Juni 2001 ist nach Auffassung des Gerichts keine teilweise Klagerücknahme,
sondern eine Präzisierung des Klagebegehrens im Sinne des § 88 VwGO zu sehen.
Diese Ansicht der Kammer beruht zum einen darauf, dass die Klägerin im Termin zur
mündlichen Verhandlung erklären ließ, nie die Absicht gehabt zu haben, das Begehren
unbefristet zu verfolgen, und zum anderen der Beklagte daran interessiert war, den
Anspruch der Klägerin für die Zeit ab Inkrafttreten des SGB IX nunmehr selbst im
Verwaltungsverfahren zu überprüfen, was lediglich im Hinblick auf die vorliegende
Klage zunächst zurückgestellt worden war.
24
Die Klage ist auch begründet.
25
Die versagenden Entscheidungen des Beklagten vom 6. April 2001 und 23. Mai 2001
sind rechtswidrig und verletzen das klagende Kind in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz
1 VwGO. Das klagende Kind hat einen Rechtsanspruch auf die begehrte
Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die außerschulische
Intensivförderung durch das Lerntherpeutische Institut in B. im Umfang von einer Stunde
Einzelunterricht wöchentlich für die Zeit vom 22. September 2000 bis zum 30. Juni 2001.
26
Dem Klageanspruch steht nicht entgegen, dass ein förmlicher Weiterbewilligungsantrag
erst unter dem 11. Oktober 2000 - und somit nach dem 22. September 2000 - gestellt
wurde. Zwar setzen Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich einen vorherigen Antrag
gegenüber dem zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraus,
27
vgl. Bundesverwaltungsgericht -BVerwG-, Urteil vom 28. September 2000 -5 C 29.99 -,
BVerwGE 112, 98 ff., = DVBl. 2001, 1060 ff, = NDV-RD 2001, 85 ff., = FEVS 52, 532 ff.;
28
diese Rechtsprechung will aber nur der Selbstbeschaffung ohne Zustimmung des
Jugendhilfeträgers vorbeugen, die diesen ohne die Möglichkeit der Überprüfung des
Bedarfs der Eingliederungshilfe und der Einflussnahme auf die Gestaltung der Hilfe zum
bloßen Kostenträger degradieren würde. Inwieweit diese Rechtsprechung auch im
Rahmen der Fortführung einer bereits begonnenen und vom zuständigen
Jugendhilfeträger genehmigten Hilfemaßnahme Anwendung findet, kann hier offen
bleiben. Selbst wenn man dies bejahte, liegt hier eine solche Situation schon deshalb
nicht vor, weil die Eltern des klagenden Kindes im Hilfeplangespräch vom 13. Juli 2000
den Beklagten über den Wunsch zur Fortführung der Hilfe unterrichtet haben und damit
dem Antragserfordernis im Sinne des Ingangsetzens eines Verwaltungsverfahrens in
hinreichendem zeitlichen Abstand vor Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe
Genüge getan war.
29
Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist für den hier maßgeblichen Zeitraum
§ 35 a Absatz 1 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S.
1088). Nach dieser Vorschrift haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert
oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe.
30
Das klagende Kind K. X. erfüllt diese gesetzlichen Voraussetzungen, da es nach
Auffassung des erkennenden Gerichts wegen einer schweren Legasthenie von einer
seelischen Behinderung bedroht ist, die mit hoher Wahrscheinlichkeit seine
Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt.
31
Die "seelische Behinderung" ist nach der Auffassung der Kammer, die sich insoweit den
ausführlichen Erwägungen des VG Düsseldorf,
32
vgl. Urteil vom 22. Januar 2001 - 19 K 11140/98 -, ZfJ 2001, 196 ff = NWVBl. 2001 362 ff,
33
anschließt, in Fällen der vorliegenden Art in drei Schritten festzustellen:
34
Zunächst muss eine Teilleistungsstörung (z.B. Legasthenie, Dyskalkulie oder
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) vorliegen. Diese Teilleistungsstörung muss
Hauptursache für eine "seelische Störung" (Neurose oder sonstige seelische Störung)
sein, die ihrerseits zu Beeinträchtigungen bei der "Eingliederung in die Gesellschaft"
(Störung des Sozialverhaltens mit dem Ergebnis einer dissozialen Entwicklung, einer
sogenannten "sekundären Neurotisierung") führt,
35
vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 -5 C 38.97-, Buchholz, Sammlung
der Rechtsprechung des BVerwG, 436.511 § 35 a SGB VIII Nr. 1 = FEVS 49, 487; =
NDV-RD 1999, 71f., Wiesner in Wiesner, Kommentar zum SGB VIII, 2. Aufl. 2000, vor §
35 a Rdnr. 33 f und § 35 a Rdnr. 7a und 7b.
36
Soweit es um das "Drohen" einer seelischen Behinderung geht, muss zunächst die
Teilleistungsstörung selbst zweifelsfrei festgestellt werden. Auch wenn diese
Teilleistungsschwäche sich in einer seelischen Störung niedergeschlagen, aber noch
nicht in einer seelischen Behinderung manifestiert hat, muss diese drohende
Behinderung aber nach allgemein ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis
aufgrund einer Prognoseentscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein
und zu Beeinträchtigungen bei der "Eingliederung in die Gesellschaft" führen. Diese
Anforderungen ergeben sich aus § 5 der Eingliederungshilfeverordnung, der wegen der
im hier maßgeblichen Zeitraum geltenden (und am 1.7.2001 außer Kraft getretenen)
Verweisung in § 35 a Abs. 2 Nr. 1 und 3 SGB VIII Anwendung findet.
37
Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, a.a.O., BVerwG,
Beschluss vom 5. Juli 1995 - 5 B 119.94 -, Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 12; Wiesner
in Wiesner, Kommentar zum SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 35 a Rdnr. 8.
38
Bei K. lag im hier maßgeblichen Zeitraum vom 22. September 2000 bis zum 30. Juni
2001 trotz der mittlerweile einjährigen außerschulischen Förderung noch stets eine
Teilleistungsstörung in Form einer leichten Lese- und einer sehr ausgeprägten
Rechtschreibschwäche vor. Dies steht zur Überzeugung der Kammer zum einen nach
dem Gutachten von Frau Professor Dr. I. vom 26. Juni 2001 fest. Unter Anwendung der
Langform des Weingartner-Grundwortschatz-Rechtschreibtests für 3. und 4. Klasse
(WRT 3 plus) waren nach ihren Feststellungen die Leistungen des klagenden Kindes
hier weit unterdurchschnittlich; der Prozentrang lag bei 2,2; das bedeutet, dass fast 98 %
der Schüler der Vergleichsstichproben bessere Leistungen erbringen. Zum andern
beruht die Auffassung der Kammer zum Vorliegen der genannten
Teilleistungsschwäche auf den Erkenntnissen, die sie bei der Vernehmung des Zeugen
E. gewonnen hat. Der Zeuge wusste das Gericht davon zu überzeugen, dass K. an der
schlimmsten Form der Lese-/Rechtschreibschwäche, nämlich der Variante der sog.
Laut-Buchstaben-Zuordnung, leidet. Dies war auch der Grund, weshalb die
lerntherapeutische Behandlung K.s deutlich länger als die "normale" Therapie unter
Lese-/Rechtschreibschwäche leidender Kinder und Jugendlicher dauert. Die von Frau
39
Professor Dr. I. im Vergleich zur Rechtschreibung festgestellte bessere Lesefähigkeit
resultiert nach Aussage des Zeugen daher, dass im ersten Therapiejahr der
Schwerpunkt auf die Verbesserung der Lesefähigkeit gelegt wurde, um K. zunächst
einmal in Stand zu setzen, dem schulischen Unterricht in den anderen Fächern -
einschließlich der Textaufgaben im Fach Mathematik - überhaupt folgen zu können.
Schließlich beruht die Annahme einer schweren Rechtschreibschwäche auf der
Einsichtnahme des Gerichts in das von den Eltern im Termin zur mündlichen
Verhandlung vorgelegte Klassenarbeitsheft im Fach Deutsch für das 4. Schuljahr und
den dazu gegebenen Erläuterungen des Zeugen E..
Der Auffassung der Kammer steht auch das unter dem 29. Januar 2001 im
Verwaltungsverfahren eingeholte Folgegutachten der Erziehungsberatungsstelle der
Arbeiterwohlfahrt des Kreisverbandes I. nicht entgegen. Zwar heißt es dort, dass K. im
Rechtschreibtest HSP 3 einen Prozentrang von 31 (d.h. 69 % der Schüler der
Vergleichsstichprobe sind besser) und somit (immer noch) ein unterdurchschnittliches
Ergebnis erreicht habe. Im Vergleich mit dem Befund vom 1. Februar 2000 (Prozentrang
28) ließen sich Fortschritte in ihrer Schreibfähigkeit feststellen. Träfe diese Beurteilung
zu, wäre zwar die Rechtschreibfähigkeit immer noch unterdurchschnittlich, aber eine
daraus resultierende drohende oder bestehende seelische Behinderung wäre für die
Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII nur sehr schwer zu
begründen. Allerdings hat Frau Professor Dr. I. in ihrem Gutachten vom 26. Juni 2001
ausdrücklich ausgeführt, dass sie in Auswertung der ihr von den Eltern von K.
vorgelegten und bei der Erziehungsberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt des
Kreisverbandes I. ausgefüllten Rechtschreibtests HSP 3 keinen Hinweis auf einen
Prozentrang 31 erkennen könne. Der Beklagte hat trotz dieser Einwendung von Frau
Professor Dr. I. in der Folge keine Erklärung der Erziehungsberatungsstelle zu dieser
unterschiedlichen Bewertung des vorgelegten Tests vorgelegt, so dass auch für das
Gericht weder ersichtlich noch nachvollziehbar ist, wieso es zu derart divergierenden
Feststellungen kommen konnte. Die bloße Erklärung des Beklagten, er habe keinen
Zweifel an der Fachlichkeit der Einschätzungen der Erziehungsberatungsstelle, reicht
jedenfalls nicht aus, um die Richtigkeit der Feststellungen von Frau Professor Dr. I. in
ihrem Gutachten vom 26. Juni 2001 in Zweifel zu ziehen. Dem steht nicht entgegen,
dass bei der Gewährung von Eingliederungshilfe vor dem Inkrafttreten des SGB IX die
Einholung eines ärztlichen Gutachtens nicht vorgeschrieben war und eine behördliche
Entscheidung auch aufgrund anderweitiger sachlich kompetenter Beurteilung - z.B.
einer personell entsprechend ausgestatteten Erziehungsberatungsstelle - getroffen
werden konnte. Entstehen jedoch im behördlichen oder anschließenden gerichtlichen
Verfahren Zweifel, z.B. - wie hier - durch Vorlage eines sachkompetenten ärztlichen
Gutachtens, an der Richtigkeit dieser anderweitigen Beurteilung und werden diese nicht
ausgeräumt, vermag diese Stellungnahme - hier der Erziehungsberatungsstelle der
Arbeiterwohlfahrt des Kreisverbandes I. - die behördliche Entscheidung nicht mehr zu
tragen.
40
Auch die Stellungnahme der GGS Q. vom 2. Oktober 2002 gibt keinen Anlass, das
Vorliegen einer Lese-/Rechtschreibschwäche in Zweifel zu ziehen. Dabei fällt zunächst
auf, dass die Stellungnahme der GGS Q. vom 22. Oktober 1999 noch zum Ergebnis
kam, dass aufgrund der vorliegenden Testergebnisse davon ausgegangen werden
müsse, dass bei K. eine spezifische Rechtschreibschwäche vorliege, die einer
besonderen außerschulischen Förderung bedürfe. Zwar werde die Schülerin
erlassgemäß gefördert. Sie nehme mit vier bis fünf weiteren Kindern am Förderunterricht
teil. Sie erreiche trotz dieser Förderung die Grundanforderungen im Lesen und
41
Schreiben nicht. Sie erbringe auch in anderen Fächern nur schwache Leistungen, ohne
dass die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Legasthenie erörtert werde.
Soweit in der Stellungnahme der GGS Q. vom 2. Oktober 2002 nunmehr die Auffassung
vertreten wird, es liege keine isolierte Lese-/Rechtschreibschwäche vor, sondern K. sei
nach den Leistungen in allen Fächern als allgemein schwach begabt anzusehen,
vermag dies die Einschätzung der Kammer nicht zu widerlegen. Zunächst lässt die
Stellungnahme nicht erkennen, weshalb nunmehr von der im Jahre 1999 abgegebenen
Bewertung abgerückt wurde und ob der Schule das Gutachten von Frau Professor Dr. I.
vom 26. Juni 2001 überhaupt bekannt war; sie setzt sich zumindest mit den dort
getroffenen Feststellungen nicht auseinander. Auch im Übrigen hat die Kammer Anlass
zu Zweifeln an der Richtigkeit der dort abgegebenen Bewertung. Bereits die von der
Klassenlehrerin angebrachten Korrekturbemerkungen des in der mündlichen
Verhandlung vorgelegten Klassenarbeitsheftes des 4. Schuljahres im Fach Deutsch
zeigen, dass die abgegebenen Beurteilungen bereits den spezifischen
Legasthenieproblemen des klagenden Kindes nicht gerecht werden, möglicherweise
weil die Klassenlehrerin sich mit den Problemen dieser Form der Legasthenie oder
einer derart ausgeprägten Lese-/Rechtschreibschwäche nicht (vertieft) befasst hat. Es
erstaunt deshalb auch nicht, dass an keiner Stelle des Schreibens vom 2. Oktober 2002
Feststellungen dazu getroffen werden, inwieweit die im Übrigen festgestellten
schwachen schulischen Leistungen durch die mangelnde Lesefähigkeit verursacht sein
könnten. Dabei ist zumindest dem Beklagten bekannt, dass der von der
Erziehungsberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt des Kreisverbandes I. durchgeführte
Intelligenztest einen IQ von 103, also einen durchschnittlichen Wert, ergab. Zwar
erkennt das Gericht an, dass die frühere Klassenlehrerin versuchte, den von ihr
diagnostizierten Lernschwierigkeiten mit einer intensiven, in die Arbeit in der Klasse
integrierten Förderung Rechnung zu tragen. Allein rechtfertigt dies nicht die
Einschätzung der früheren Grundschule des klagenden Kindes, die erstrebte
außerschulische Förderung der Lese-/Rechtschreibschwäche sei nicht geeignet, K. zu
einer ihren Verhältnissen angemessenen Schullaufbahn zu verhelfen.
42
Auch die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von
Eingliederungshilfe liegen vor. Die aufgrund der Legasthenie drohende Behinderung ist
hinreichend belegt. Die leichte Lese- und ausgeprägte Rechtschreibschwäche hat mit
dem Prozentrang 2,2 einen solchen Schweregrad, dass nach ärztlicher Erkenntnis eine
drohende Behinderung bereits indiziert ist. Nach Fegert,
43
in Wiesner, Kommentar zum SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 35 a Rdnr. 71 ff; derselbe, Was ist
seelische Behinderung?, Münster 1994, Kapitel 5.6.1 Entwicklungsstörungen, S. 175 f.,
44
einem für die medizinische Beurteilung der mit der Gewährung von Eingliederungshilfe
verbundenen Fragestellungen anerkannten Fachmann und Hochschullehrer für
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, liegt die primäre Zuständigkeit für die
Kompensation spezifischer Lernschwierigkeiten wie der Lese- /Rechtschreibschwäche
bei der Schule. Erfolgen die notwendigen Fördermaßnahmen dort nicht oder zu spät
oder reichen die dort ergriffenen Maßnahmen nicht aus, dann sind Kinder mit einer
schweren Legasthenie mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer seelischen Behinderung
bedroht. Da nach ärztlichen Studien Legasthenie nicht selten mit Störungen des
Sozialverhaltens verbunden seien, wobei diese Kinder dann sozial eine sehr schlechte
Prognose haben, seien rechtzeitige Maßnahmen, die das Abgleiten in eine dissoziale
Entwicklung verhindern, als Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII
45
anzusehen, um der drohenden Behinderung vorzubeugen.
Ein solcher Befund wird nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen auch für das
vorliegende Verfahren bestätigt. Die "sekundäre Neurotisierung" ist hier auch schon
eingetreten. Denn das klagende Kind reagiert sowohl nach den Angaben von Frau
Professor Dr. I. als auch den Angaben der Erziehungsberatungsstelle der
Arbeiterwohlfahrt des Kreisverbandes I. vom 1. Februar 2000 auf das schulische
Versagen mit einem negativen Selbstbild; es zweifle an sich und seinen kognitiven
Fähigkeiten, reagiere frustriert, weine häufig und reagiere mit Nägelkauen. Deshalb
erfordert die aufgrund der schweren Legasthenie eingetretene "sekundäre
Neurotisierung" nach der ärztlichen Beurteilung von Frau Professor Dr. I. die unbedingte
Fortsetzung der bereits eingeleiteten Förderung - sogar intensiver als bisher -, um einer
sonst sehr wahrscheinlichen Entwicklung einer seelischen Behinderung vorzubeugen.
Dass in dieser Situation die Nichtbehandlung der schweren Legasthenie mit der
konkreten Gefahr des Scheiterns einer angemessenen schulischen Bildung eines
intellektuell im Normbereich liegenden Kindes verbunden ist und zu einer darauf
beruhenden Beeinträchtigung der Eingliederung in die Gesellschaft führt, bedarf an
dieser Stelle keiner weiteren Vertiefung. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass die
Nichtbehandlung der Legasthenie bereits die frühere Grundschule zu der - aus Sicht
des erkennenden Gerichts - fehlerhaften Beurteilung veranlasst hat, das insgesamt
gezeigte schulische Verhalten und Leistungsbild sei Ausdruck einer offensichtlichen
Minderbegabung.
46
Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dieser Einschätzung der Kammer auch
die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen. Soweit das
Gericht im Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, a.a.O., ausführt, dass eine
seelische Behinderung dann vorliegt, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe
und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft
beeinträchtigt, so beruht das vorliegende Urteil gerade auf diesen Erwägungen. Auch
der Aussage, dass bloße Schulprobleme oder auch Schulängste, wie sie - gerade vor
Leistungstests - von anderen Schülern auch geteilt werden, zur Annahme einer
drohenden Behinderung nicht ausreichen, schließt sich das erkennende Gericht
vorbehaltlos an. Soweit der Beklagte meint, nur die dort angeführte auf
Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Leistungsverweigerung, der
Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder die Vereinzelung in der Schule ließen den
Schluss auf mangelnde Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft zu, verkennt er,
dass das Revisionsgericht lediglich die entsprechenden beispielhaften Ausführungen
des Berufungsgerichts rechtlich nicht beanstandet, nicht aber allein diese Beispiele zur
Voraussetzung einer Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII erhoben
hat. Damit sollte lediglich verdeutlicht werden, es müsse sich um Auswirkungen von
einigem Gewicht handeln, um die normativen Hilfevoraussetzungen des § 35 a SGB VIII
zu bejahen. Letztlich bleibt die Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall eine seelische
Behinderung droht und ob mit hoher Wahrscheinlichkeit eine mangelnde Fähigkeit zur
Eingliederung in die Gesellschaft gegeben ist, von einer nachvollziehbaren ärztlichen
Beurteilung oder einer sonstigen fachlichen Stellungnahme abhängig. Diese führt hier
zu dem oben dargelegten, für das klagende Kind positiven Ergebnis.
47
Schließlich ist im vorliegenden Verfahren unproblematisch, dass vor der Gewährung der
Eingliederungshilfe zunächst die schulische Förderung gemäß dem Runderlass des
Kultusministeriums vom 19. Juli 1991, GABl. I S.174, in Anspruch genommen werden
muss. Dies ist hier nach den Stellungnahmen der GGS Q. geschehen, ohne dass damit
48
Defizite von K. auch nur im Ansatz behoben werden konnten.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
49
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 11, 711 ZPO.
50