Urteil des VG Aachen vom 09.12.2003

VG Aachen: familienpflege, versorgung, geburt, krankenkasse, verfügung, jugendamt, jugendhilfe, gespräch, hauterkrankung, tagespflege

Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 2608/00
Datum:
09.12.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 2608/00
Tenor:
Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 14. Juni 2000
und 9. Oktober 2000 verpflichtet, den Klägern für die Zeit vom 16. März
2000 bis zum 18. Juni 2000 im Umfang von 20 Wochenstunden über die
bereits bewilligte Hilfe von 25,00 DM pro Stunde hinaus weitere 12,15
EUR (= 23,77 DM) pro Stunde zu bewilligen. Im Übrigen wird die Klage
abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben
werden, werden den Beteiligten jeweils zur Hälfte auferlegt.
T a t b e s t a n d :
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Die Kläger sind verheiratet; die aus der Ehe hervorgegangen Kinder sind 1993 und
1999 geboren. Der Kläger zu 2. führt einen Garten- und Landschaftsbaubetrieb. Der
Klägerin zu 1. obliegt die Haushaltsführung und die Betreuung der Kinder. Der
Gesundheitszustand der Klägerin zu 1.), die bereits seit einigen Jahren an Multipler
Sklerose - MS - leidet, verschlechterte sich nach der Geburt des 1999 geborenen
Sohnes. Bereits während der letzten Phase der Schwangerschaft bewilligte die Barmer
Ersatzkasse - BEK - als gesetzliche Krankenkasse der Klägerin zur Versorgung des
Haushaltes und der sechsjährigen Tochter eine Haushaltshilfe zur Weiterführung des
Haushaltes nach § 38 SGB V im Umfang von fünf Stunden an fünf Wochentagen. Die
Leistungen wurden von der Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I.
erbracht. Nach der Entbindung bewilligte die BEK diese Leistung weiter, zuletzt im März
2000 im Umfang von 4 Stunden an 5 Wochentagen; sie erstattete der Familienpflege
des Caritasverbandes zuletzt einen Betrag von 48,77 DM pro erbrachter Stunde. Mit
Schreiben vom 1. März 2000 teilte die Barmer Ersatzkasse der Klägerin zu 1. mit, dass
letztmalig für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 15. März die Kosten der
Haushaltshilfe übernommen würden. Es handele sich bei der Haushaltshilfe um eine
satzungsgemäße Mehrleistung, die nach dem Gesetz für maximal ein Jahr gewährt
werden könne. Entscheidend für die Gewährung der Leistung sei, dass die Erkrankung
der haushaltsführenden Person ihrem Charakter nach nur vorübergehender Natur sei.
Dies lasse der Verlauf der Erkrankung der Klägerin zu 1. nicht zu. Nach den ärztlichen
Stellungnahme sei kein abgrenzbarer Schub erkennbar. Die ausgeprägte Ataxie mit
Gang- und Standstörungen bestehe nunmehr seit Mai kontinuierlich fort, ohne dass eine
Besserungstendenz erkennbar wäre. Insofern müsse nunmehr von einem chronischen
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Krankheitsbild ausgegangen werden.
Die Kläger beantragten daraufhin mit Schreiben vom 9. März 2000 beim Beklagten eine
Fortführung der Hilfe ab dem 16. März 2000 im Rahmen der Betreuung und Versorgung
des Kindes in Notsituationen nach § 20 Sozialgesetzbuch VIII - SGB VIII -. Durch die
Erkrankung der Klägerin zu 1.) sei sie nur beschränkt in der Lage, für das Wohl ihrer
Kinder selbst zu sorgen. Starke Bewegungseinschränkungen, Gleichgewichtsstörungen
und Schwäche machten sie bei der Versorgung der Kinder des Haushalts von fremder
Hilfe abhängig. Der Kläger zu 2. könne sie kaum unterstützen, da er durch den Aufbau
des Gartenbaubetriebes lange außer Haus sei und am Abend noch den anfallenden
geschäftlichen Schriftverkehr abwickeln müsse. Die Familie sei auch gerade erst nach I.
gezogen und habe keine Kontakte zu Nachbarn oder Freunden, was auch Folge der
Erkrankung der Klägerin zu 1.) sei. Der Caritasverband für die Region I. unterstützte das
Anliegen der Kläger, da die Kräfte der Klägerin zu 1. nicht ausreichten, die Kinder den
ganzen Tag zu betreuen, für Mittagessen zu sorgen, den Haushalt und die
Wäschepflege zu erledigen. Ihre Erkrankung sei soweit fortgeschritten, dass sie Sorge
habe, zum Beispiel mit dem kleinen Sohn auf dem Arm zu stürzen oder ihn beim Baden
oder Versorgen fallen zu lassen.
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Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 15. März 2000 den Klägern mit, dass bislang bei
den Arbeiten der Caritas die Fortführung des Haushaltes im Vordergrund gestanden
habe. Bei der Hilfe nach § 20 SGB VIII, stehe nicht die Fortführung des Haushaltes im
Vordergrund, sondern die Betreuung und Versorgung der Kinder. Die Leistung des § 20
SGB VIII erfasse daher nur teilweise die hauswirtschaftlichen Tätigkeit. Darüber hinaus
komme eine Hilfegewährung hier voraussichtlich deshalb nicht in Betracht, da der
Gesetzestext ausdrücklich von "Notsituationen" spreche. Notsituationen seien immer
nur vorübergehender Natur. Die Ausführungen der Krankenkasse anlässlich der
Einstellung der Hilfe sprächen jedoch dafür, dass hier ein chronisches Krankheitsbild
vorliege. Das Jugendamt des Beklagten empfahl deshalb einen Antrag auf Fortführung
des Haushalts nach § 70 BSGH beim Sozialamt zu stellen. Weiter gab der Beklagte den
Klägern vor einer Entscheidung Gelegenheit, zu seiner Auffassung Stellung zu nehmen.
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Die Kläger stellten daraufhin einen entsprechenden Antrag auf Hilfe zur Fortführung des
Haushalts nach § 70 BSHG beim zuständigen Sozialamt des Beklagten. Im Übrigen
verwiesen sie darauf, dass vordringliches Ziel ihres Begehrens sei, die Erziehung der
Kinder in der Familie zu gewährleisten und nicht nur eine vorübergehende
Unterstützung zu gewähren. Die Betreuung und das Wohl der Kinder stehe somit im
Vordergrund der erstrebten Hilfe. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Kinder
durch die Erkrankung der Mutter psychisch sehr stark in Mitleidenschaft gezogen
worden seien. Mit Bescheid vom 5. Juni 2000 lehnte das Sozialamt des Beklagten die
Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes gemäß § 70 BSHG deshalb ab, weil die Kläger
hinsichtlich Ihres Einkommens nicht hilfebedürftig im Sinne des Sozialhilferechts seien.
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Mit Bescheid vom 14. Juni 2000 bewilligte der Beklagte entsprechend dem Antrag vom
9. März 2000 eine Hilfe zur Betreuung und Versorgung der Kinder der Kläger in
Notsituationen ab dem 15. März 2000, vorerst befristet bis zum 31. Dezember 2000. Den
Betreuungsumfang setzte er auf vier Stunden täglich an fünf Tagen der Woche zu einem
Stundensatz von 25,00 DM fest. Die monatliche Abrechnung der Betreuungskosten
erfolge mit den Klägern unter Vorlage der entsprechenden Stundennachweise. Eine
darüber hinausgehende Kostenübernahme komme nicht in Betracht. Die bewilligte Hilfe
sei geeignet und ausreichend die Defizite, die durch den Ausfall der bisher betreuenden
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Mutter entstanden seien, auszugleichen. Sollte den Klägern keine geeignete
Betreuungsperson zur Verfügung stehen, sei er nach vorheriger Terminabsprache bei
der Suche nach einer entsprechenden Fachkraft behilflich.
Die Kläger erhoben Widerspruch und machten geltend, dass zu dem festgesetzten
Stundensatz von 25,00 DM eine geschulte Fachkraft nicht zu erhalten sei. In der Folge
suchten die Kläger weder das Gespräch mit dem Beklagten mit der Ziel einer
Vermittlung einer solchen Fachkraft zu den Bedingungen des Beklagten, noch suchten
sie intensiv selbst eine entsprechende Fachkraft sondern hielten an der Erbringung der
Hilfeleistung durch die Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I. fest. Erst
Ende September 2000 kam es zu einem entsprechenden Gespräch mit dem Jugendamt
des Beklagten, mit dem Erfolg, dass ab dem 9. Oktober 2000 eine entsprechende
Betreuung durch die Familienhilfe I. und Partner vermittelt wurde, die zu dem vom
Beklagten angegebenen Tarif die Aufgaben der Hilfe in Notsituationen für die Familie
erbrachte.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 2000 wies der Beklagte den Widerspruch der
Kläger gegen den Bescheid vom 14. Juni 2000 als unbegründet zurück. Er verwies
darauf, dass er - wie im Ausgangsbescheid bereits angekündigt - beim Hausbesuch am
21. September 2000 erklärt habe, eine geschulte Fachkraft zum bewilligten Stundensatz
zur Verfügung zu stellen. Dies sei die Familienpflege I. und Partner, die umgehend die
Betreuung der Familie übernommen hätte. Daraus ergebe sich, dass die ursprünglich
gewährte Hilfe zum genannten Betreuungsumfang und bewilligen Stundensatz von
Anfang an ausreichend war. Eine Übernahme der Hilfe für den Zeitraum vom 15. März
bis zum 6. Oktober 2000 in Höhe des Stundensatzes des Caritasverbandes komme
deshalb nicht in Betracht.
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Die Kläger haben am 13. November 2000 Klage erhoben. Sie stellen klar, dass
Gegenstand der Klage allein der Differenzbetrag zwischen der vom Beklagten
bewilligten Hilfe in Notsituationen zu einem Stundensatz von 25,00 DM und dem ihnen
in der Zeit vom 16. März 2000 bis zum 6. Oktober 2000 von der Familienpflege des
Caritasverbandes für die Region I. tatsächlich in Rechnung gestellten Stundensatz von
48,77 DM sei. Sie hielten daran fest, dass sie damals vor allem eine Hilfe zur Betreuung
für die Kinder benötigten. Der 1999 geborene Sohn leide an einer schweren
Hauterkrankung (Neurodermitis). Er müsse seit seiner Geburt täglich mehrfach gebadet
und eingecremt werden. Dem fühlte sich die Klägerin zu 1. nicht gewachsen. Ihr
Gesundheitszustand habe sich seit der Geburt des Sohnes ständig verschlechtert.
Direkt nach der Geburt des Sohnes, im Jahre 1999, habe sie einen schweren Schub
erlitten. Danach erfolgten die Verschlechterungen mehr allmählich. Ihre Tochter N. sei
schon sehr früh in den Kindergarten gegangen und besuche seit 1999 die Grundschule.
Nach dem Schulbesuch sei sie nach Hause gekommen, die Aufgabenbetreuung habe
die Klägerin zu 1. erledigen können. Die Reinigung des Haushalts sei durch eine
Putzfrau erfolgt, die die Kläger separat bezahlt haben. Die Forderung der Caritas, die
gegenüber den Klägern auf einer Begleichung der im streitbefangenen Zeitraum
aufgelaufenen Verbindlichkeiten bestehe, sei bis heute noch nicht ganz erfüllt.
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Die Kläger beantragen,
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den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 14. Juni 2000 und 9. Oktober 2000
zu verpflichten, über die bewilligte Hilfe in Notsituationen in Höhe von 25,00 DM pro
Stunde im Umfang der von der Caritas der Region I. erbrachten Leistungen weitere
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23,77 DM pro Stunde für die Zeit vom 16. März 2000 bis zum 6. Oktober 2000 zu
bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte tritt der Klage unter Bezugnahme auf die Erwägungen des
Widerspruchsbescheides entgegen.
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Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die im Verfahren gewechselten Schriftsätze
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
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Der Bescheid des Beklagten vom 14. Juni 2000 und der Widerspruchsbescheid vom 9.
Oktober 2000 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten, soweit sie für
die Kläger für die Zeit vom 16. März 2000 bis zum 18. Juni 2000 im Rahmen der Hilfe in
Notsituationen lediglich einen Stundensatz von 25,00 DM festsetzen, vgl. § 113 Abs. 5
Satz 1 VwGO. Die Kläger haben für die Zeit vom 16. März 2000 bis zum 18. Juni 2000
über die bewilligten Hilfe für 20 Stunden wöchentlich zu einem Stundensatz von 25,00
DM hinaus einen Rechtsanspruch auf einen um 12,15 EUR (= 23,77 DM) erhöhten
Stundensatz entsprechend der den Klägern von der Familienpflege des
Caritasverbandes für die Region I. in Rechnung gestellten Betrages. Im Übrigen war die
Klage abzuweisen.
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Fällt ein Elternteil, der die überwiegende Betreuung des(r) Kindes(r) übernommen hat,
für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden
Gründen aus, so soll nach § 20 des Sozialgesetzbuches (Achtes Buch) - Kinder- und
Jugendhilfe - SGB-VIII - der andere Elternteil bei der Betreuung und Versorgung des(r)
im Haushalt lebenden Kindes(r) "unterstützt" werden, wenn 1. er wegen berufsbedingter
Abwesenheit nicht in der Lage ist, die Aufgabe wahrzunehmen, 2. die Hilfe erforderlich
ist, um das Wohl des(r) Kindes(r) zu gewährleisten und 3. Angebote der Förderung
des(r) Kindes(r) in Tageseinrichtungen oder in Tagespflege nicht ausreichen.
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Die Voraussetzungen für eine Hilfegewährung nach dieser Vorschrift sind hier - wie sich
bereits aus den angefochtenen Entscheidungen des Beklagten ergibt - unstreitig
gegeben. Die Klägerin zu 1.) war im hier streitbefangenen Jahr auf Grund ihrer
schweren Erkrankung an Multipler Sklerose nicht in der Lage, ihre beiden Kinder ohne
die Unterstützung einer entsprechenden Fachkraft zu betreuen und versorgen. Dabei
war zu berücksichtigen, dass der 1999 geborene Sohn an einer schweren
Hauterkrankung (Neurodermitis) leidet und gerade im hier streitbefangenen Zeitraum
täglich mehrfach gebadet und eingecremt werden musste. Der Kläger zu 2.), der als
Selbstständiger einen Garten- und Landschaftsbaubetrieb im Jahr 2000 in einer
Aufbauphase führte, war wegen seiner berufsbedingten Abwesenheit nicht in der Lage,
seine erkrankte Ehefrau adäquat bei der angesichts des Lebensalters seiner beiden
Kinder anstehenden Betreuungsaufgabe in dem hier fraglichen Zeitraum zu
unterstützen. Die Betreuung durch die Familienpflege des Caritasverbandes für die
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Region I. war auch erforderlich, um das Wohl der Kinder zu gewährleisten.
Insbesondere konnte die Betreuung des 1999 geborenen Sohnes nicht durch Angebote
der Förderung des Kindes in Tageseinrichtungen oder in Tagespflege wahrgenommen
werden.
Da die Kläger immer wieder betont haben, erst kurz vor der Geburt des zweiten Kindes
aus den Niederlanden nach I. verzogen zu sein und dort weder Verwandte noch
Freunde haben, die sie bei der Betreuung ihrer Kinder unterstützen könnten, dürfte hier
auch insoweit dem Tatbestandsmerkmal "erforderlich" in § 20 SGB VIII Genüge getan
sein, das hier für der Nachrang der öffentlichen Jugendhilfe gegenüber jedweder
anderen Hilfemöglichkeit steht,
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vgl. Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2.
Aufl., 2000, § 20 Rdnr. 13.
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Auch der Umfang der Hilfe mit 20 Stunden wöchentlich steht außer Streit. Umstritten ist
hier allein die Höhe des Stundensatzes; ob die nach den Richtlinien des Beklagten
vorgesehenen 25,00 DM zur Beseitigung der vorgetragenen Notlage ausreichten oder
ob bei der Hilfegewährung der von der Familienpflege des Caritasverbandes für die
Region I. in Rechnung gestellte um 12,15 EUR (=23,77 DM) erhöhte Betrag (also
insgesamt 48,77 DM pro Stunde) in Ansatz zu bringen ist.
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Dabei geht das erkennende Gericht davon aus, dass diese Frage nicht für den
gesamten hier streitigen Zeitraum vom 16. März bis 6. Oktober 2000 einheitlich
beantwortet werden kann.
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Für den Zeitraum vom 16. März 2000 bis 18. Juni 2000 war dem Begehren der Kläger zu
entsprechen. Dabei ist zu Gunsten der Kläger davon auszugehen, dass ihnen zum
Zeitpunkt der Antragstellung im März 2000 bereits seit über 10 Monaten die
entsprechende Hilfe durch die Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I. zu
deren Bedingungen von der gesetzlichen Krankenkasse BEK im Rahmen einer Hilfe
nach § 38 SGB V zur Verfügung gestellt worden war. Es kann deshalb den Klägern
nicht vorgehalten werden, hier eigenmächtig selbst und ohne Abstimmung mit dem
Beklagten die Betreuung ihrer zwei Kinder durch die Familienpflege der Caritas
veranlasst zu haben. Auch wenn die Einstellung der Hilfe durch die Krankenkasse
relativ kurzfristig erfolgte, so haben die Kläger ihre Notsituation und die Notwendigkeit
der Fortführung der Hilfe noch vor dem Hilfebeginn dem Beklagten angezeigt. Aus den
Darlegungen der Kläger hätte der Beklagte erkennen müssen, dass es in diesem
Übergangszeitraum nach Art, zeitlichem Umfang und entstehendem Kostenvolumen für
die Kläger damals - zunächst - keine Alternative zur Betreuung durch die Familienpflege
der Caritas gegeben haben dürfte. Bei dieser Sachlage hätten - vergleichbar einem
Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII - aktenkundig umfassend alle Aspekte einer
möglichen Hilfegewährung zwischen den Beteiligten erörtert werden müssen. Denn die
Entscheidung über die Art, den Umfang und die zeitliche Dauer der Hilfe hängt hier - wie
sonst bei Hilfeplanverfahren im Rahmen der Hilfe zur Erziehung - maßgeblich von der
Beurteilung der Notwendigkeit der Hilfe aufgrund der konkreten Situation der Familie ab
und wird davon noch inhaltlich geprägt. Insoweit steht dem Jugendamt hier - wie bei
anderen Hilfen nach dem SGB VIII auch - kein Beurteilungsspielraum zu,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24.98 -, Amtliche Sammlung der
Entscheidungen des BVerwG (BVerwGE) 109, 169 ff..
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Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit
und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen
Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung der Eltern und Kinder in Notsituationen und
mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt,
jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten
Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die
verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich vor diesem Hintergrund darauf zu
beschränken, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, ob keine
sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in
umfassender Weise beteiligt wurden.
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Eine diesen Anforderung in etwa genügende Besprechung der Beteiligten ist nach
Aktenlage hier nicht erfolgt. Bei dieser gegebenen Sachlage mussten die Kläger weder
wissen, dass der Stundensatz von 48,77 DM die Richtgröße des Beklagten um fast 100
% überstieg, noch hat der Beklagte dies in dem der Bescheiderteilung am 14. Juni 2000
vorausgehenden Schriftverkehr dargelegt noch gar seinen Nachdruck darauf verlegt. Er
hat dort vielmehr mit allerlei Rechtserwägungen die Voraussetzungen und die
Geeignetheit einer Hilfe nach § 20 SGB VIII - wie er später selbst erkennen musste zu
Unrecht - in Frage gestellt und die Kläger trotz des § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit ihrem
Begehren zunächst an den Sozialhilfeträger verwiesen. Die Kläger, die auch solchen
Aufforderungen des Beklagten nachkamen und daneben auch ihre zutreffende Ansicht
zum Vorliegen der Voraussetzungen der Hilfe in Notsituationen nach § 20 SGB VIII
weiter verfolgten, hatten deshalb bis zur Wirksamkeit des Bescheides vom 14. Juni 2000
keine Veranlassung, die Betreuung durch die Familienpflege des Caritasverbandes für
die Region I. wegen der Kostenhöhe zu kündigen und sich umgehend um eine
anderweitige Hilfe zu den Bedingungen des Beklagten zu bemühen. Da Voraussetzung
für die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes die Bekanntgabe an den Adressaten ist
(vgl. § 39 Abs. 1 SGB X) und der Bescheid vom 14. Juni 2000 laut Abvermerk am 15.
Juni 2000 zur Post gegeben wurde, gilt er nach § 37. Abs. 2 SGB X als am dritten Tag
nach der Absendung - das war hier der 18. Juni 2000 - als bekannt gegeben. Bis zu
diesem Tag war deshalb der Beklagte verpflichtet, die Kosten in der von der
Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I. in Rechnung gestellten Höhe zu
übernehmen.
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Für den Zeitraum ab dem 19. Juni 2000 bis zum 6. Oktober 2000 können die Kläger kein
entsprechendes Vertrauen auf Fortführung der Hilfe durch die Familienpflege des
Caritasverbandes für die Region I. mehr geltend machen und sich insoweit auch nicht
auf ihr Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII berufen. Denn nach dem Bescheid
vom 14. Juni 2000 wussten die Kläger, dass nur Betreuungskosten bis zu einem
Stundensatz in Höhe von 25,00 DM vom Beklagten übernommen wurden. Zugleich
sicherte der Beklagte im Falle des nicht Vorhandenseins einer geeigneten
Betreuungsperson (zu seinen Bedingungen) seine Bereitschaft zu, bei der Suche
behilflich zu sein. Dennoch haben die Kläger sich zunächst nicht mit dem Beklagten in
Verbindung gesetzt, sondern sein diesbezügliches Angebot letztlich erst im September
2000 wahrgenommen, was dann auch umgehend zum entsprechenden
Vermittlungserfolg führte.
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Dem Anspruch der Kläger, die bewilligte Hilfe gemäß § 20 SGB VIII zu einem
Stundensatz von 25,00 DM auch für den Zeitraum vom 19. Juni 2000 bis 6. Oktober
2000 um 23,77 DM pro Stunde zu erhöhen, steht letztlich entgegen, dass die Erbringung
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der Hilfe durch die Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I. Förderung mit
unverhältnismäßigen Mehrkosten im Sinne von § 5 Abs. 2 SGB VIII verbunden ist.
Nach § 5 Abs. 1 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten das Recht, zwischen
Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich
der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Nach Absatz 2 der Vorschrift soll der Wahl und den
Wünschen entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten
verbunden ist.
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Vorliegend scheitert das ausgeübte Wahlrecht des Klägers nicht bereits daran, dass die
Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I. kein geeigneter Träger ist. Auch
die vom Beklagten bevorzugte Familiepflege I. und Partner scheidet nicht deshalb als
geeigneter Träger aus, weil sie den Klägern ab dem 18. Juni 2000 tatsächlich keine
Hilfe hätte leisten können. Es ist deshalb davon auszugehen, dass beide Dienste für
den streitbefangenen Zeitraum gleich geeignet sind. Dementsprechend kommt es auf
den Kostenvergleich zwischen den beiden Trägern an, der hier im Ergebnis dem
geltend gemachten Anspruch entgegen steht.
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Die Feststellung, ob und gegebenenfalls welche Mehrkosten entstehen, ist aufgrund
eines Vergleichs zwischen den Kosten, die die erforderliche Maßnahme unter
Berücksichtigung des Wunsches des Leistungsberechtigten erfordert, und den Kosten,
die bei Durchführung der Maßnahme entstehen würden, ohne dass ein solcher Wunsch
in Frage stünde, zu treffen. Dieser Mehrkostenvorbehalt erschöpft sich jedoch nicht in
einem rein rechnerischen Kostenvergleich, sondern verlangt (auch) eine wertende
Betrachtungsweise, bei der das Gewicht der vom Leistungsberechtigten gewünschten
Gestaltung der Leistung im Hinblick auf seine individuelle Notsituation zu
berücksichtigen ist.
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Vgl. zu der entsprechenden Norm des § 3 Abs. 2 Satz 3 des Bundessozialhilfegesetzes
(BSHG): BVerwG, Urteil vom 17. November 1994 - 5 C 13.92 -, FEVS 45, 408.
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Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht Mehrkosten von 75 % als "ohne weiteres"
unvertretbar angesehen. Da hier die Mehrkosten für die Leistungserbringung durch die
Familienpflege des Caritasverbandes für die Region I. im Jahr 2000 mit einem
Stundensatz von 48,77 DM fast 100 % über dem Stundensatz des Konkurrenten
Familienpflege I. und Partner liegen und keine Umstände ersichtlich oder vorgetragen
sind, die eine Leistungserbringung gerade durch die Familienpflege der Caritas
erfordern, ist unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung bei den erstrebten weiteren
12,15 EUR (=23,77 DM) pro Stunde der Leistungserbringung insoweit von
unvertretbaren Mehrkosten auszugehen. Immerhin summieren sich diese Mehrkosten
bei 20 Wochenstunden auf einen wöchentlichen Betrag von 243,00 EUR oder bezogen
auf einen Monat auf einen Betrag von 1.053,00 EUR.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die im Tenor
ausgesprochene Kostenquotelung entspricht dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen
der Beteiligten.
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