Urteil des VG Aachen vom 15.12.2009

VG Aachen (umgebung, standort des gebäudes, gebäude, grundstück, wohnhaus, verhältnis zu, errichtung, wirkung, 1995, zeitpunkt)

Verwaltungsgericht Aachen, 3 K 2318/08
Datum:
15.12.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 2318/08
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d :
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Die Klägerin beantragte am 5. Oktober 2007 bei dem Beklagten die Erteilung einer
Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses mit Garage auf dem
Grundstück Gemarkung C. , Flur , Flurstück . Eigentümer des Grundstücks ist Herr X. T. ,
der Onkel der Klägerin.
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Das Grundstück liegt im Geltungsbereich der Klarstellungs- und Abrundungssatzung der
Stadt F. für den Stadtteil C. vom 12. Juli 1995.
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Das Baugrundstück liegt zwischen den in einem Abstand zwischen ca. 90 m und ca.
140 m parallel verlaufenden Straßen "J. C1. " einerseits und der Straße "M. C. " bzw. der
J1. Straße andererseits. Das Grundstück selbst grenzt aber nicht an eine der
vorgenannten öffentlichen Verkehrsflächen an. Östlich des Baugrundstücks liegen die
von der Straße "M. C. " erschlossenen Hausgrundstücke. Die an die Straße "M. C. "
angrenzenden Grundstücke sind im Wesentlichen straßenseitig mit Wohnhäusern (Nrn.
1, 5, 7 und 9) bebaut; im rückwärtigen Bereich schließen sich Nebengebäude an.
Südlich des Baugrundstücks verläuft über die Flurstücke und ein Privatweg bis zur
westlich gelegenen Straße "J. C1. ". Die Erschließung des Baugrundstücks soll über
diesen Privatweg erfolgen. Eine entsprechende Grunddienstbarkeit ist am 7. September
2009 eingetragen worden. Unmittelbar südlich des Privatweges befindet sich -
spiegelbildlich zum beantragten Bauvorhaben - ein Wohnhaus ("J. C1. " 14). Dieses
Gebäude ist ca. 1950 errichtet worden. Westlich des Baugrundstücks schließt sich das
an der Straße "J. C1. " gelegene Flurstück Nr. an; dieses ist mit einem
Einfamilienwohnhaus bebaut. Das Grundstück Flurstück Nr. liegt bereits im
Geltungsbereich des Bebauungsplans "J. C1. " der Gemeinde F. , der hinsichtlich der
Art der baulichen Nutzung ein Dorfgebiet festsetzt. Nördlich des Baugrundstücks
schließen sich gärtnerisch bzw. landwirtschaftlich genutzte Freiflächen an (Flst. und ).
Die Entfernung zum in nördlicher Richtung nächstgelegenen Wohnhaus ("J. C1. " 24)
beträgt ca. 65 m.
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Wegen der örtlichen Gegebenheiten wird im Einzelnen auf die im Ortstermin gefertigten
Lichtbilder sowie auf die folgende - hinsichtlich des Bauvorhabens nicht
maßstabsgetreue - Flurkarte verwiesen:
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(Flurkarte wegen Anonymisierung entnommen)
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Nach Anhörung mit Schreiben vom 23. September 2008 lehnte der Beklagte die
Erteilung der beantragten Baugenehmigung mit Bescheid vom 30. Oktober 2008 ab. Zur
Begründung wird ausgeführt, das Vorhaben füge sich nicht in die nähere Umgebung
ein. Das beantragte Wohnhaus befinde sich im westlichen Grundstücksbereich des
Flurstücks Nr. und damit in dem hinteren Ruhe- und Gartenbereich der bebauten
Grundstücke entlang der Straße "M. C. " und der J2. Straße. Das geplante Gebäude
befinde sich auf einem nachgelagerten Grundstück außerhalb einer durch den
vorhandenen Wohngebäudebestand anzunehmenden Bauflucht. Es handele sich
hierbei um eine sog. Hinterlandbebauung, die sich nicht in die Eigenart der näheren
Umgebung einfüge. Auf dem im Süden an das Baugrundstück angrenzenden Flurstück
stehe zwar das Gebäude "J. C1. " 14, jedoch handele es sich hierbei um einen Altbau,
der als Solitär einzuordnen sei und somit keine Beurteilungsgrundlage oder ein
planungsrechtliches Vorbild darstelle. Es seien keine weiteren wohnbaulich genutzten
Hauptanlagen innerhalb der hinteren Grundstücksbereiche entlang der Straßen "M. C. "
sowie der J2. Straße vorhanden. Durch den Standort des Gebäudes
(Hinterlandbebauung) in Bezug auf den vorhandenen Wohn- und Gebäudebestand des
umliegenden Dorfgebietes und dessen Nutzung würden erhebliche bodenrechtliche
Spannungen erzeugt. Die nicht gewünschte Vorbildwirkung einer fortschreitenden
Hinterlandbebauung wirke sich negativ auf die weitere städtebauliche Entwicklung des
Ortsteils C. aus.
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Die Klägerin hat am 2. Dezember 2008 Klage erhoben. Zur Begründung trägt Sie im
Wesentlichen vor: Das Vorhaben sei planungsrechtlich zulässig. Es füge sich sowohl
nach der Art als auch dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der
Grundstücksfläche, die überbaut werden solle, in die Eigenart der näheren Umgebung
ein. Es handele sich um ein typisches Einfamilienhaus in 1 1/2 - geschossiger
Bauweise, wie es sich unter anderem auch auf den unmittelbar benachbarten
Grundstücken befinde. In die prägende Umgebungsbebauung seien neben dem
Wohnhaus "J. C1. " 14 auch die Wohngebäude "J. C1. " Nrn. 18, 20, 22 und 24
einzubeziehen. Dass sich diese Grundstücke in einem heute überplanten Gebiet
befinden, stehe der Einbeziehung nicht entgegen. Der Ortsteil C. sei auch gerade nicht
durch eine typische Straßenrandbebauung geprägt. Bei den Häusern "J. C1. " 22 und
24 handele es sich um eine Hinterlandbebauung, die ebenso wie das klägerische
Bauvorhaben über eine private Zuwegung erschlossen sei. Dass das Wohnhaus auf
einer bisherigen Freifläche errichtet werden solle, stehe einem Einfügen nicht entgegen.
Das Baugrundstück sei weder gärtnerisch gestaltet noch handele es sich um eine der
umgebenden Bebauung zugeordnete Ruhezone. Das Grundstück liege im Übrigen
innerhalb des Bereichs, für den nach der Klarstellungs- und Abrundungssatzung vom
12. Juli 1995 eine bauliche Nutzung ausdrücklich vorgesehen sei. Eine Bebauung des
Grundstücks entspreche daher den planungsrechtlichen Vorstellungen des
Satzungsgebers. Das Bauvorhaben begründe im Übrigen keine
bewältigungsbedürftigen Spannungen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem
Vorhaben eine negative Vorbildwirkung zukomme, seien nicht ersichtlich. Dies ergebe
sich auch aus der Klarstellungs- und Abrundungssatzung, welche eine
Eigenentwicklung der einbezogenen Grundstücke ausdrücklich habe unterstützen
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wollen. Schließlich lasse es das Vorhaben auch nicht an der gebotenen
Rücksichtnahme auf die in seiner Nähe vorhandene Bebauung fehlen. Von dem
Vorhaben gingen keine wesentlichen Emissionen aus. Der durch das Vorhaben
ausgelöste Zu- und Abgangsverkehr halte sich im Rahmen des räumlich
überschaubaren Bereichs. Gewichtige Nachbarbelange stünden daher der Erteilung der
beantragten Baugenehmigung nicht entgegen. Nachdem mittlerweile ein Wegerecht in
Form einer Grunddienstbarkeit im Grundbuch eingetragen sei, sei auch die
Erschließung des Baugrundstücks gesichert.
Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheides vom 30. Oktober 2008
zu verpflichten, ihr die beantragte Baugenehmigung zur Errichtung eines
Einfamilienwohnhauses mit Garage auf dem Grundstück Gemarkung C. , Flur , Flurstück
, zu erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Vorhaben sei unzulässig. Es füge sich nicht in die Eigenart der näheren Umgebung
ein, da es in dem hinteren Ruhe- und Gartenbereich der bebauten Grundstücke entlang
der Straße "M. C. " und der J1. Straße errichtet werden solle. Das Gebäude "J. C1. " 14
sei bereits um 1950 errichtet worden und habe keine planungsrechtliche
Vorbildfunktion. Alle übrigen Gebäude in diesem Bereich hätten einen direkten Zugang
entweder zur Straße "M. C. ", zur J1. Straße oder zur Straße "J. C1. ". Das von der
Klägerin zur Bebauung benötigte Grundstück liege allerdings genau zwischen zwei
Grundstücken, die an diese Straßen angeschlossen seien. Ein weitläufig vergleichbares
bebautes Grundstück sei nur das Grundstück "J. C1. " 14. Die dort vorhandene
Altbebauung sei aber aus den genannten Gründen nicht gebietsprägend. Auch könne
die Bebauung in dem angrenzenden Plangebiet bei der nach § 34 Abs. 1 BauGB
vorzunehmenden Beurteilung nicht berücksichtigt werden. Durch seinen Standort führe
Bauvorhaben zu erheblichen bodenrechtlichen Spannungen. Die nicht gewünschte
Vorbildfunktion einer fortschreitenden Hinterlandbebauung würde sich auf die weitere
städtebauliche Entwicklung des Ortes C. negativ auswirken.
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Der Berichterstatter hat die Örtlichkeit im Erörterungstermin am 5. August 2009 in
Augenschein genommen. Wegen der hierbei getroffenen Feststellungen wird auf den
Inhalt der hierüber gefertigten Niederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom
30. Oktober 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten
(vgl. § 113 Abs. 1 und 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung für
die Errichtung eines Einfamilienwohnhauses, da diesem Vorhaben öffentlich-rechtliche -
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nämlich bauplanungsrechtliche - Vorschriften entgegenstehen (vgl. § 75 Abs. 1 der
Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen - BauO NRW -).
Die planungsrechtliche Zulässigkeit baulicher Anlagen beurteilt sich nach den §§ 29 ff.
des Baugesetzbuchs (BauGB). J. konkreten Fall findet - wie aus der nach § 34 Abs. 4
BauGB erlassenen Klarstellungs- und Abrundungssatzung der Stadt F. für den Stadtteil
C. vom 12. Juli 1995 ersichtlich - § 34 BauGB Anwendung.
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Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist für die Zulässigkeit eines Vorhabens u. a. erforderlich, dass
es sich nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der
näheren Umgebung einfügt. Das ist hier nicht der Fall.
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Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Klarstellungs- und Abrundungssatzung
für C. vom 12. Juli 1995 für die Frage, ob sich ein Vorhaben in die nähere Umgebung
einfügt, rechtlich unerheblich ist. Die nach § 34 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 3 BauGB
erlassene Satzung betrifft lediglich die Einbeziehung von Grundstücken in den im
Zusammenhang bebauten Ortsteil, nach § 34 Abs. 1 BauGB, nicht aber Regelungen zur
Frage, ob sich ein Vorhaben innerhalb dieses räumlichen Geltungsbereichs der
Satzung in den durch die vorhandene Bebauung vorgegebenen Rahmen einfügt.
21
Die nach § 34 Abs. 1 BauGB maßgebliche nähere Umgebung wird dadurch ermittelt,
dass in zwei Richtungen, nämlich in Richtung vom Vorhaben auf die Umgebung und in
Richtung von der Umgebung auf das Vorhaben geprüft wird, wie weit die jeweiligen
Auswirkungen reichen. Zu berücksichtigen ist die Umgebung einmal soweit, als sich die
Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und zweitens insoweit, als die
Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder
doch beeinflusst.
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Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -,
Baurechtssammlung (BRS) Bd. 33 Nr. 36.
23
Die nähere Umgebung ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB genannten
Merkmale gesondert zu ermitteln, weil diese jeweils eine Prägung mit ganz
unterschiedlicher Reichweite und Gewichtung entfalten können. Insbesondere
bezüglich des Merkmals der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, mit dem die
konkrete Größe der Grundfläche der baulichen Anlage und ihre räumliche Lage
innerhalb der vorhandenen Bebauung gemeint ist,
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vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. September 1988 - 4 B 175.88 -, BRS 48 Nr. 50 und
vom 17. September 1985 - 4 B 167.85 -, Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 107,
25
wird die nähere Umgebung im Regelfall enger als z.B. bei dem Merkmal der Art der
baulichen Nutzung zu bemessen sein. Denn die von den überbauten Grundflächen
ausgehende Prägung bleibt in ihrer Reichweite im Allgemeinen hinter den von der Art
der baulichen Nutzung ausgehenden Wirkungen zurück. Maßgeblich ist, wie weit die
wechselseitigen Auswirkungen im Verhältnis von Vorhaben und Umgebung reichen.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
20. Februar 2006 - 7 A 2473/03 -; Beschlüsse vom 16. November 2001 - 7 A 1143/00 -
und vom 3. März 2000 - 7 A 2262/99 -.
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Bei der Abgrenzung der näheren Umgebung ist zu berücksichtigen, dass die Eigenart
des Gebietes auch durch (schon vorhandene) bauliche Anlagen geprägt werden kann,
die in einem angrenzenden, nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilenden Plangebiet
errichtet worden sind.
28
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Oktober 1975 - IV C 16.73 -, Buchholz 406.11 § 34 BBauG
Nr. 50; Söfker, in: Ernst-Zinkahn-Bielenberg, Baugesetzbuch, Stand: März 2006, Rn. 36
zu § 34 BauGB.
29
Die nähere Umgebung i.S.v. § 34 Abs. 1 BauGB endet daher im vorliegenden Fall -
anders als der Beklagte meint - nicht zwangsläufig an den Grenzen des
Bebauungsplans "J. C1. ". Die wechselseitige Prägung und damit die nähere
Umgebung beschränkt sich im Falle des klägerischen Grundstücks auf die Bebauung
innerhalb des Straßengevierts der Straße "J. C1. " (nördliche, südlich und westliche
Grenze) sowie der die östliche Grenze des Gevierts bildenden Straßen L. Straße, M. C.
und der J2. Straße. Innerhalb dieses Gevierts liegt das Grundstück bzw. das
Bauvorhaben - sowohl was die Nord-Süd als auch die Ost-West - Ausrichtung betrifft -
ungefähr in der Mitte. Insoweit findet daher nach dem Eindruck, den der Berichterstatter
im Ortstermin gewonnen und der Kammer vermittelt hat und der im vorhandenen
Kartenmaterial zum Ausdruck kommt, die erforderliche wechselseitige bodenrechtliche
Prägung zwischen Umgebung und Vorhabengrundstück statt.
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Die Eigenart der so eingegrenzten näheren Umgebung wird hinsichtlich der
überbaubaren Grundstücksfläche im Wesentlichen durch eine straßennahe
Wohnbebauung geprägt. So liegen die Wohnhäuser an den Straßen "J. C1. ", J2.
Straße, "M. C. " und L. Straße entweder unmittelbar an der Straße oder halten zu dieser
einen Abstand von max. 20 m ("M. C. " 17) ein. Aus diesem Rahmen fallen die an zwei
privaten, von der Straße "J. C1. " in östliche Richtung in das hier maßgebliche
Straßengeviert hereinführenden Erschließungswegen (Flst. bzw. und ) liegenden
(Wohn-)Gebäude "J. C1. " 14, 22 und 24 heraus. Das Gebäude "J. C1. " 22 kann mit
einem Abstand zur öffentlichen Straße von nur ca. 30 m allerdings hinsichtlich der
überbaubaren Grundstückfläche kein Vorbild für das klägerische Bauvorhaben haben.
Nur die Gebäude "J. C1. " 14 (ca. 55 m) und "J. C1. " 24 (ca. 80 m) weisen eine
vergleichbare Bebauungstiefe auf wie das ebenfalls an einem der beiden
Erschließungswege geplante klägerische Bauvorhaben (ca. 65 m) und könnten daher
Vorbild für dieses Bauvorhaben sein. Das Gebäude "J. C1. " 24 ist allerdings letztlich im
Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB nicht als prägend zu berücksichtigen. Maßgeblich ist
nämlich grundsätzlich die im Zeitpunkt der baurechtlichen Zulassungsentscheidung
tatsächlich vorhandene Bebauung bzw. ausgeübte Nutzung. Nach Mitteilung des
Beklagten (Auszug aus dem Melderegister) wird das frühere Wohnhaus "J. C1. " 24 aber
schon seit September 2005 nicht mehr bewohnt. Nach Auskunft des neuen
Eigentümers, der RWE Power AG, an den Beklagten vom 14. Oktober 2009 steht das
Gebäude derzeit leer und ist eine Weitervermietung nicht mehr beabsichtigt. Zwar behält
auch eine bereits eingestellte Nutzung ihre prägende Kraft solange, wie nach der
Verkehrsauffassung mit der Aufnahme einer gleichartigen Nutzung gerechnet werden
kann. Innerhalb welcher zeitlicher Grenzen mit der Verkehrsauffassung eine
nachprägende Wirkung anzunehmen ist, hängt aber maßgeblich von den konkreten
Umständen des Einzelfalls ab.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 - 4 C 15.84 -, BRS 46 Nr. 62; OVG NRW,
Urteil vom 21. November 2005 - 10 A 1166/04-, Rechtsprechungsdatenbank NRWE
32
(www.nrwe.de), m.w.N..
Gemessen daran hat das Anwesen "J. C1. " 24 seine prägende Wirkung als
straßenferne Wohnbebauung mit der Nutzungsaufgabe im Jahr 2005 verloren. Dies
ergibt sich vor allem aus der besonderen Situation des im Abbaugebietes des
Braunkohletagebaus "Garzweiler II" gelegenen Ortsteils C. und dem Eigentumserwerb
gerade durch die RWE Power AG als Betreiber des Tagebaus. In dem Braunkohlenplan
Umsiedlung C. (abrufbar unter www.bezreg-koeln.nrw.de) ist als Zeitpunkt für den
Beginn der gemeinsamen Umsiedlung von C. der 1. Juli 2006 festgelegt. Zeitpunkt für
den Abschluss der gemeinsamen Umsiedlung ist der Zeitpunkt der bergbaulichen
Inanspruchnahme des betroffenen Ortes; bei C. ist dies das Jahr 2015. In dieser
Umsiedlungsphase werden von der RWE Power AG Grundstücke erworben, an deren
bisheriger Nutzung insbesondere zu Wohnzwecken erkennbar kein Interesse mehr
besteht. Es liegt vielmehr im Interesse des Bergbautreibenden, dass die Einwohner die
durch den Tagebau in Anspruch genommenen Ortschaften frühzeitig verlassen. Vor
diesem Hintergrund entspricht es der Verkehrsauffassung der Anwohner sowohl der hier
prägenden Umgebung als auch der Ortschaft C. insgesamt, dass die bereits von der
RWE Power AG erworbenen und von den früheren Bewohnern verlassenen
Wohnhäusern ihre prägende Wirkung für eine zukünftige Bebauung verlieren.
Insbesondere kann eine nachprägende Wirkung im Hinblick auf eine evtl.
Wiederaufnahme der Nutzung aufgrund der dargestellten besonderen Umstände nicht
angenommen werden. Vor diesem Hintergrund prägt daher auch das Anwesen "J. C1. "
24 nicht mehr die maßgebliche Umgebung und kann daher hinsichtlich der
Bebauungstiefe nicht mehr als Vorbild für das klägerische Bauvorhaben herangezogen
werden.
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Somit ist als Wohngebäude mit vergleichbarer Bebauungstiefe lediglich das (noch
bewohnte) Anwesen "J. C1. " 14 zu berücksichtigen. Wegen seiner Einzigartigkeit
hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche in dem hier maßgeblichen
Straßengeviert stellt sich dieses Wohngebäude aber als einzelner Fremdkörper dar, so
dass es an einer mitprägenden Wirkung gegenüber der sonst vorherrschenden
Straßenrandbebauung fehlt.
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Hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche fügt sich das klägerische
Bauvorhaben somit nicht in den vorgegebenen "Rahmen" ein. Zwar können sich
Vorhaben, die den aus ihrer Umgebung ableitbaren Rahmen überschreiten, dennoch
dieser Umgebung einfügen. Bei dem "Einfügen" geht es weniger um "Einheitlichkeit" als
um "Harmonie". Daraus, dass ein Vorhaben in seiner Umgebung - überhaupt oder doch
in dieser oder jener Beziehung - ohne ein Vorbild ist, folgt noch nicht, dass es ihm an
dem harmonischen Einfügen fehlt. Das Erfordernis des Einfügens schließt nicht
schlechthin aus, etwas zu verwirklichen, was es in der Umgebung bisher nicht gibt.
35
Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, Buchholz 406.11 § 10 BBauG Nr. 17.
36
Geht jedoch ein Vorhaben über den vorgegebenen Rahmen hinaus, so fügt es sich in
seine Umgebung nur ein, wenn die Überschreitung nicht in einer Weise erfolgt, die -
weil es schon selbst oder sei es infolge der Vorbildwirkung - geeignet ist, bodenrechtlich
beachtliche und erst noch ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen oder die
vorhandenen Spannungen zu erhöhen. Ein Vorhaben, das im Verhältnis zu seiner
Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen begründet und erhöht, das in diesem
Sinne "verschlechtert", "stört", "belastet", bringt die ihm vorgegebene Situation
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gleichsam in Bewegung. Es stiftet Unruhe, die potenziell ein Planungsbedürfnis nach
sich zieht. Soll es zugelassen werden, kann dies sachgerecht nur unter Einsatz der -
jene Unruhe gewissermaßen auffangenden - Mittel der Bauleitplanung geschehen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, a.a.O.; Urteil vom 21. November 1980
- 4 C 30.78 -, BauR 1981, 170; Urteil vom 3. April 1981 - 4 C 61.78 -, BRS 38, Nr. 69.
38
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall führt zu dem Ergebnis,
dass das Vorhaben der Klägerin auch nicht ausnahmsweise zulässig ist, weil es wegen
der von ihm ausgehenden Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtliche Spannungen zu
begründen. Das Vorhaben der Klägerin bringt nämlich wegen der Überschreitung des
Rahmens gleichsam Bewegung in die vorhandene Situation und ruft somit potenziell ein
Planungsbedürfnis hervor. Bei Errichtung einer weiteren Hinterlandbebauung wäre das
Wohnhaus "J. C1. " 14 kein einzelner Fremdkörper mehr. Dieses bereits vorhandene
Wohnhaus und das Bauvorhaben hätte dann vielmehr Vorbildwirkung für die
Nachbarparzellen und , auf denen drei weitere Gebäude im Hintergelände errichtet
werden könnten. Zudem wäre die Errichtung eines zweiten Wohngebäudes auf dem
Baugrundstück (Flst. ) möglich. Wegen dieser weitreichenden, sich aus der konkreten
Situation ergebenden Folgewirkungen ist das Vorhaben der Klägerin unzulässig, weil
ein solcher Vorgang nur aufgrund einer Bauleitplanung mit den Grundsätzen einer
geordneten städtebaulichen Entwicklung vereinbar ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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