Urteil des VG Aachen vom 18.09.2008

VG Aachen: psychisch kranker, ärztliche behandlung, abschiebung, psychiatrische behandlung, stationäre behandlung, karte, bundesamt für migration, klinik, gefahr, schizophrenie

Verwaltungsgericht Aachen, 6 K 913/07.A
Datum:
18.09.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 913/07.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 10. November 1957 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger
moslemischen Glaubens und nach eigenen Angaben kurdischer Volkszugehörigkeit.
Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 21. Juni 1980 mit seiner Ehefrau und einem
Kind erstmals nach Deutschland ein und stellte - ebenso wie die Ehefrau und das Kind -
einen Asylantrag. Der Kläger lebte damals bei seinem Onkel N. L. in Hamburg.
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Zur Begründung des ersten Asylantrags gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe die
Türkei verlassen, weil er wegen seiner kurdischen Nationalität und seiner Zugehörigkeit
zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam in seiner Heimat einer doppelten
Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Auch seien nach Verhängung des
Ausnahmezustandes in den Jahren von 1978 bis 1980 rechtsradikale Anhänger der
MHP unter dem Schutz des Militärs gegen ihn und andere Angehörige der kurdischen
Nationalität vorgegangen. Als er 1980 nach Kayseri gegangen sei, wo er seine Ehefrau
kennen gelernt habe, habe er keine Arbeit bekommen, weil er Kurde war. Als er mit der
Ehefrau nach Kahramanmaras zurückgegangen sei, hätten sich die Angriffe wiederholt
und jetzt auch gegen seine Ehefrau gerichtet. Weil er sich wegen seines leicht
erkennbaren kurdischen Dialekts nirgendwo in der Türkei mehr sichergefühlt habe,
habe er sich zur Ausreise nach Deutschland entschlossen. Das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers, seiner
Ehefrau und des Kindes J. mit Bescheid vom 1. Februar 1982 ab. Mit Bescheid vom 14.
Mai 1982 forderte die Freie und Hansestadt Hamburg den Kläger zur Ausreise auf und
drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an.
3
Am 10. Februar 1984 kehrte der Kläger auf dem Luftweg freiwillig mit Ehefrau und Kind
in die Türkei zurück. Die Freie und Hansestadt Hamburg bezahlte den Rückflug.
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Am 27. Februar 1996 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag, zu dessen Begründung er
bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge am 4. März 1996 im Wesentlichen angab: Er sei im Jahre 1984 freiwillig in
die Türkei zurückgekehrt. Am 14. oder 15. November 1995 sei er auf dem Luftweg nach
Deutschland zurückgekehrt, weil er in der Türkei unterdrückt und gefoltert worden sei.
Seit dem Jahre 1994 sei er geschieden. Seine drei Kinder lebten bei der Mutter. In
Deutschland lebten sein Onkel mütterlicherseits, eine Schwester in Bielefeld und sein
Bruder N. in Frankfurt. Außerdem lebe in Deutschland eine Tante. Er stamme aus dem
Kreis H. in der Provinz Kahramanmaras. Er sei verfolgt worden, weil er einer
kommunistischen Partei angehört habe.
5
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Antrag auf
Durchführung eines Asylfolgeverfahrens mit Bescheid vom 7. März 1996 ab und forderte
den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Frist von einer Woche
nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht freiwilligen
Ausreise drohte es dem Kläger die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung
führte es im Wesentlichen aus, der Folgeantrag sei unzulässig, weil die Angaben des
Klägers insgesamt unglaubhaft und unsubstanziiert seien. Schließlich führte es aus,
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor. Den daraufhin gestellten
Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht
Hamburg mit Beschluss vom 3. April 1996 - Az.: 7 VG A 1634/96 - ab. Die Klage gegen
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 7.
März 1996 wies es durch Gerichtsbescheid vom 17. Juni 1996 ab - Az.: 7 VG A 1633/96
-, rechtskräftig seit dem 22. Juli 1996, ab. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht
Hamburg unter anderem aus, Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Ein weiteres
Asylverfahren sei nicht durchzuführen, weil der Kläger die Dreimonatsfrist des § 51 Abs.
3 VwVfG nicht eingehalten habe. Eine Gruppenverfolgung der Kurden finde in der
Türkei nicht statt. Am 30. Mai 1996 wurde der Kläger auf dem Luftweg in die Türkei
abgeschoben.
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Am 2. Oktober 1996 beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung
in der Form des Visums, nachdem er am 20. September 1996 die Deutsche Rita Kruse
geheiratet hatte.
7
Mit Verfügung vom 17. Juli 1997 befristete die Freie und Hansestadt Hamburg die
Wirkungen der Abschiebung vom 30. Mai 1996 nachträglich auf den 18. Juli 1997. Mit
Schreiben vom 28. August 1997 stimmte die Oberbürgermeisterin der Stadt Bielefeld der
Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für den Kläger für zunächst drei Monate zu. Am
8. Oktober 1997 erteilte die Deutsche Botschaft in Ankara dem Kläger das beantragte
Visum für die Zeit vom 10. Oktober 1997 bis zum 9. Januar 1998. Am 11. Oktober 1997
reiste der Kläger zum Zweck der Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft auf
dem Luftweg nach Deutschland ein.
8
Mit Bescheid vom 13. Oktober 1997 erteilte die Oberbürgermeisterin der Stadt Bielefeld
dem Kläger eine bis zum 12. Oktober 1999 gültige Aufenthaltserlaubnis. Am 17. Oktober
1997 meldete er sich in Bielefeld an. Am 8. Dezember 1997 verzog er von Bielefeld
nach Aachen.
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Am 4. August 1998 erhielt der Oberbürgermeister der Stadt Aachen Kenntnis davon,
dass der Kläger letztmalig am 11. Oktober 1997 im Rahmen der
Familienzusammenführung zu seiner deutschen Ehefrau in das Bundesgebiet
eingereist war, dass die Eheleute jedoch bereits seit Februar 1998 getrennt lebten und
ein Scheidungsverfahren bereits angestrebt wurde. Auf eine Anzeige vom 29. Mai 1999
ermittelte das Polizeipräsidium Aachen gegen den Kläger wegen Bedrohung.
Geschädigter und Anzeigenerstatter war ein Vetter des Klägers. Diesem hatte der
Kläger nach Angaben des Geschädigten telefonisch mitgeteilt: "Hier spricht I. B. . Ich
werde Deinen Sohn umbringen. Ich musste gestern die Nacht bei der Polizei
verbringen. Warum?" Weiter teilte der Geschädigte bei der Anzeigenerstattung mit, er
nehme die Drohung des Klägers sehr ernst, da dieser sich im Jahre 1983 schon einmal
in einer geschlossenen Anstalt bzw. Nervenklinik in Hamburg befunden habe. Der
Kläger erscheine aus Sicht des Geschädigten als absolut unzurechnungsfähig. Der
Zeuge S. T. bestätigte die Angaben des Geschädigten. Auch ein Bruder des
Geschädigten bestätigte dessen Angabe.
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Die im Jahre 1996 geschlossene Ehe des Klägers wurde am 4. Januar 2000
geschieden.
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Mit Ordnungsverfügung vom 10. Juli 2000 lehnte der Oberbürgermeister der Stadt
Aachen den Antrag des Klägers vom 11. Oktober 1999, die ihm im Jahre 1997 erteilte
Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, ab. Zugleich forderte er den Kläger zur Ausreise aus
der Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer näher bezeichneten Frist auf und
drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an.
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Der Kläger legte dagegen mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14. August 2000
Widerspruch ein.
13
Mit Schreiben vom 25. Juli 2001 teilte die jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers
dem Oberbürgermeister der Stadt Aachen mit, der Kläger sei bereits in der
Vergangenheit wegen akuter Eigen- und Fremdgefährdungsaspekte auch nach dem
Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten - PsychKG
NRW - eingewiesen worden; derzeit sei wieder eine krisenhafte Verschlechterung
hervorgetreten. Sie bitte darum, seine Reisefähigkeit unverzüglich durch das
Gesundheitsamt abklären zu lassen und ihm zwischenzeitlich zumindest eine kurze
Duldung zu geben.
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Dem Schreiben vom 25. Juli 2001 beigefügt war ein ärztliches Attest der Frau Dr. med.
C. N.-C. vom 4. Mai 2001, die darin beim Kläger eine paranoid- halluzinatorische
Schizophrenie diagnostizierte und ihm einen dringenden psychiatrisch-neurologischen
Behandlungsbedarf bescheinigte. Schließlich teilte sie mit, dass aus den vom Kläger
vorgelegten Krankenberichten hervorgehe, dass er in der Vergangenheit wegen akuten
Eigen- und Fremdgefährdungsaspekten auf der Rechtsgrundlage des PsychKG NRW
psychiatrisch habe behandelt werden müssen.
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Durch Beschluss vom 23. August 2001 - Az.: 8 L 744/01 - lehnte die 8. Kammer des
erkennenden Gerichts einen Antrag des Klägers,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung des OB
Aachen vom 10. Juli 2000 anzuordnen,
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ab. Zur Begründung führte sie aus, ein Anspruch auf Verlängerung der
Aufenthaltsgenehmigung ergebe sich nicht aus § 23 AuslG in Verbindung mit § 17
AuslG, da die Ehe des Klägers mit einer deutschen Staatsangehörigen geschieden sei.
Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht habe der Kläger nicht erworben. Die eheliche
Lebensgemeinschaft habe nicht mindestens zwei Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet
bestanden. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer besonderen Härte im Sinne des § 19
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG seien ebenso wenig ersichtlich. Eine Härtesituation bestehe
nicht etwa, weil die Krankheit des Klägers im Aufnahmestaat nicht oder nur schwer
behandelt werden könnte. Denn die attestierten Erkrankungen - paranoid-
halluzinatorische Schizophrenie und vermutliche frühkindliche Hirnschädigung mit
zerebralem Residualsyndrom - sei bislang in der Bundesrepublik ausschließlich
medikamentös behandelt worden und könne in der Türkei adäquat behandelt werden.
Da ein erwachsener Sohn des Klägers in der Türkei lebe, sei nicht ersichtlich, dass
dieser seinen Vater nicht finanziell bei der Inanspruchnahme privatärztlicher
Einrichtungen unterstützen könnte. Auch der hilfsweise gestellte Antrag auf Erteilung
einer Duldung im Wege der einstweiligen Anordnung sei nicht begründet. Aus den
vorgelegten beiden Attesten der Fachärztin Dr. N.-C. und der Fachärztin M.-M. vom 3.
August 2001 ergebe sich nicht glaubhaft, dass der Kläger wegen seiner psychischen
Erkrankung reiseunfähig bzw. suizidgefährdet sei. Die Anwältin des Klägers legte dem
Oberbürgermeister der Stadt Aachen Ende September 2001 ein weiteres Attest der Frau
Dr. N.-C. vom 12. September 2001 vor, in dem die Fachärztin ihrer Sorge Ausdruck gab,
der Kläger, der wegen einer bekannten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie und
Verdacht auf frühkindliche Hirnschädigung mit zerebralem Residualsyndrom behandelt
werde und der sich nach der Ablehnung seines Asylantrags depressiv und verzweifelt
zurückgezogen habe, könne nach Angaben der Partnerin nachts nicht mehr schlafen
und äußere Suizidgedanken. Da es unter der vorliegenden Stresssituation zu einer
akuten Exazerbation der bekannten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie
kommen könne, sei eine stationäre Krisenintervention in einer psychiatrischen Klinik
geplant. Ab dem 21. September 2001 befand der Kläger sich zur stationären
Behandlung im B.-Krankenhaus in Aachen. Mit ärztlichem Attest vom 22. November
2001 bescheinigte das B.-Krankenhaus Aachen dem Kläger eine seit vielen Jahren
bestehende und jetzt akut neu exazerbierte paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie
auf dem Boden einer frühkindlichen, vermutlich traumatisch bedingten Hirnschädigung
mit zerebralem Residualsyndrom, die weiterhin akut psychiatrisch- neurologisch
stationär behandlungsbedürftig sei. Weiter wird in dem Attest ausgeführt, während der
jetzigen stationären Behandlung habe der Patient kurzzeitig aufgrund akuter Eigen- und
Fremdgefährdung nach dem PsychKG auf einer geschlossenen psychiatrischen Station
untergebracht werden müssen. Psychiatrischerseits werde zur Genehmigung einer
längeren Aufenthaltsdauer geraten, da die ständig drohende Abschiebung den
Patienten so hochgradig verunsichere, dass eine Besserung und Stabilisierung des
Gesundheitszustandes nur schwer zu erreichen sei. Am 17. Dezember 2001
bescheinigte das Gesundheitsamt des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen dem
Kläger, er leide an einer chronifizierten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis,
derzeit überwiege eine depressive Symptomatik mit Antriebsstörungen. Infolge der
gesundheitlichen Störungen sei der Kläger nicht reisefähig. Wegen der Chronifizierung
der Erkrankung sei eine Nachuntersuchung nach Ablauf von zwei Jahren sinnvoll.
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Der von der Anwältin des Klägers gestellte Antrag auf Zulassung der Beschwerde
gegen den Beschluss vom 23. August 2001 erledigte sich, weil mit Blick auf das
Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung der weitere Aufenthalt des Klägers in
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Deutschland geduldet wurde.
Mit Bescheid vom 26. Juni 2003 wies die Bezirksregierung Köln den Widerspruch des
Klägers gegen die Ordnungsverfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen vom
10. Juli 2000 zurück. Zur Begründung nahm sie im Wesentlichen Bezug auf den
Beschluss der 8. Kammer des erkennenden Gerichts vom 23. August 2001.
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Am 12. März 2004 bewertete das Gesundheitsamt des OB Aachen die Frage der
Reisefähigkeit des Klägers dahin gehend, dass - sofern eine weitere regelmäßige
qualifizierte psychiatrische Behandlung in seinem Heimatland möglich sei - aus
psychiatrischer Sicht keine Bedenken gegen eine Ausreise bestünden. Allerdings sei
eine Rückführung nur unter ärztlicher und pflegerischer Begleitung möglich.
21
Mit Bescheid vom 23. März 2004 widerrief der OB Aachen die dem Kläger zuletzt erteilte
Duldung und kündigte dessen Abschiebung ab dem 24. April 2004 an.
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Unter Vorlage eines Attestes der Frau Dr. N.-C. vom 12. Juli 2004 beantragte die
Anwältin des Klägers,
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dem Kläger aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen.
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Einen Antrag des Klägers,
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den OB Aachen im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig von
Abschiebemaßnahmen abzusehen,
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lehnte die 8. Kammer des erkennenden Gerichts durch Beschluss vom 10. August 2004
ab - Az.: 8 L 618/04 -. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, eine akute
Reiseunfähigkeit des Klägers sei derzeit nicht glaubhaft gemacht.
27
Die Anwältin des Klägers überreichte weitere Atteste der RWTH Aachen vom 15.
September 2004 und der Frau Dr. N.-C. vom 23. Mai 2005, aus denen sich ergibt, dass
der Kläger von Januar bis Mai 2005 wegen seiner Alkoholabhängigkeit stationär in einer
Klinik behandelt worden ist. Er gebe zwar an, keinen Alkohol mehr zu trinken.
Krankheitsbedingt sei er jedoch weiterhin den Belastungen einer Abschiebung und
Rückkehr in seine Heimat nicht gewachsen.
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Der OB Aachen bereitete die Abschiebung des Klägers in die Türkei für den 28. Juni
2005 vor. Mit Schreiben vom 14. Juni 2005 teilte der OB Aachen dem Türkischen
Konsulat in Hürth die Abschiebung mit und bat um weitere Veranlassung bezüglich der
weiteren Betreuung des Klägers im Heimatland. Dabei wies es auf die familiären
Bindungen des Klägers in der Türkei hin. Dort leben seine beiden Töchter und der Sohn
mit ihrer Mutter, der geschiedenen Frau des Klägers, im Haus der Mutter des Klägers.
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Die Abschiebung fand nicht statt, weil der Kläger sich bereit erklärte, freiwillig
auszureisen.
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Mit Schriftsatz vom 7. Juli 2005 beantragte die Anwältin des Klägers beim erkennenden
Gericht,
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dem OB Aachen zu gebieten, von Abschiebungsmaßnahmen gegen den Kläger vorerst
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abzusehen.
Zur Begründung trug sie vor, der Kläger werde frühverrentet; dadurch sei sein
Gesundheitsschutz in der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet, in der Türkei aber
nicht. Er sei außerdem so sehr nicht in der Lage, seine eigenen Angelegenheiten zu
regeln, dass er die Bestellung eines Betreuers beantragt habe.
33
Das Amtsgericht Aachen bestellte dem Kläger am 12. August 2005 einen Betreuer für
die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge,
Vertretung gegenüber Behörden und Leistungsträgern und einschließlich Ausländeramt
- Az.: 70 XVII A 371 -, nachdem die S.-I.-Klinik in Bad Dürkheim/Pfalz, in der die
Entziehungskur von Januar bis Mai 2005 durchgeführt worden war, unter Beifügung
einer "Bescheinigung zur Vorlage beim Amtsgericht" vom 27. April 2005 gegenüber
dem Amtsgericht eine solche Betreuung angeregt hatte.
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Mit Schriftsatz vom 17. August 2005 führte die Anwältin des Klägers aus, seine Frau sei
nicht bereit und seine Kinder seien nicht in der Lage, den Kläger im Fall der Rückkehr in
die Türkei zu unterstützen. Außerdem legte sie ein Attest der Frau Dr. N.-C. vom 24. Juni
2005 vor, wonach der Kläger ohne eine sichere Lebenssituation und Fortführung der
nervenärztlichen Behandlung einschließlich medikamentöser Therapie und ohne die
Hilfe der geplanten Betreuung weder seinen Alltag noch die dringend erforderlichen
Behandlungen in der Türkei gewährleisten könne. Im Falle einer Abschiebung in die
Heimat sei mit einer akuten Verschlechterung des psychischen Befindens mit akuten
Eigen- und Fremdgefährdungsaspekten zu rechnen.
35
Am 30. Dezember 2005 erteilte das erkennende Gericht im Verfahren 8 L 444/05 dem
Kläger und dem Antragsgegner des Verfahrens - dem OB Aachen - den rechtlichen
Hinweis, selbst eine ärztlich begleitete Abschiebung würde aller Voraussicht nach
rechtlichen Bedenken begegnen, da für den Antragsteller eine gerichtlich angeordnete
Betreuung bestehe und weil nicht gesichert sei, dass er bei Ankunft in der Türkei seine
Angelegenheiten regeln, das heißt, seinen weiteren Aufenthalt dort eigenverantwortlich
in die Hand nehmen könnte. Aufgrund der Betreuung dürfte eine Unmöglichkeit der
Abschiebung im Sinne des § 60a AufenthG gegeben sein. Von einer familiären
Betreuung in der Türkei sei eher nicht auszugehen.
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Der OB Aachen war daraufhin bereit, den Aufenthalt des Klägers weiter zu dulden.
Beide Beteiligten erklärten daraufhin das Verfahren in der Hauptsache für erledigt,
nachdem dem Kläger eine Duldung bis zum 25. Januar 2007 erteilt worden war. Mit
Beschluss vom 1. Februar 2006 legte die 8. Kammer des erkennenden Gerichts die
Kosten des Verfahrens dem OB Aachen auf, und zwar aus den Gründen des zuvor
gegebenen rechtlichen Hinweises.
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Seine Anwältin legte ein weiteres Attest der Frau Dr. N.-C. vom 26. September 2006 vor,
wonach der Kläger weiterhin einer regelmäßigen nervenärztlichen Behandlung bedürfe.
38
Mit Schreiben vom 19. Oktober 2006 wies der OB Aachen das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) darauf hin, dass auf rechtlichen Hinweis
des Verwaltungsgerichts und mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Klägers
eine Duldung zugesichert worden sei, bis unter Beteiligung des Bundesamtes eine
Prüfung erfolgt sei, ob dem Kläger ein Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 60
Abs. 7 AufenthG zustehe.
39
Das Bundesamt teilte daraufhin dem OB Aachen mit, eine Entscheidung nach § 72 Abs.
2 AufenthG sei nicht einschlägig. Nach § 31 Abs. 3 AsylVfG sei das Bundesamt für die
Prüfung und Entscheidung, ob ein Abschiebungshindernis in der Person des Klägers
nach § 60 Abs. 7 vorliege, zuständig, weil es am 7. März 1996
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (alt) verneint habe. Auch im
Gerichtsbescheid des VG Hamburg vom 7. Juni 1996 sei geprüft worden, ob
Abschiebungshindernisse vorlägen. Deshalb müsse der Kläger einen
Wiederaufnahmeantrag auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7
AufenthG stellen.
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Am 28. November 2006 stellte der damalige Betreuer des Klägers beim Bundesamt
einen Wiederaufnahmeantrag auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7
AufenthG für den Kläger. Zur Begründung des Antrags übersandte der Betreuer dem
Bundesamt ein weiteres Attest der Frau Dr. N.-C. vom 5. Juni 2007. Nach einem
Vermerk in der Bundesamtsakte vom 4. Juli 2007 teilte eine Bekannte des Klägers am 3.
Juli 2007 telefonisch mit, der Kläger stehe in regelmäßigem Kontakt mit seinen
Angehörigen in der Türkei, wobei ihn die räumliche Trennung stark belaste. Mit
Medikamenten sei es ihm möglich, ein eigenständiges Leben zu führen.
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Über die Bekannte forderte das Bundesamt den Kläger auf, schriftliche Angaben über
seine Angehörigen und deren wirtschaftliche Situation in der Türkei zu übersenden.
42
Mit Bescheid vom 20. August 2007 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Abänderung
des nach altem Recht ergangenen Bescheids vom 7. März 1996 bezüglich der
Feststellungen zu § 53 Abs. 1 bis 6 des Ausländergesetzes ab. Zur Begründung führte
es aus: Die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des
Aufenthaltsgesetzes komme nicht in Betracht, weil die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3
des Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht eingehalten worden sei; der Kläger wisse seit
dem Jahr 2001 von den damals bereits festgestellten Erkrankungen. Auch in Ausübung
pflichtgemäßen Ermessens gemäß §§ 51 Abs. 5, 48 oder 49 VwVfG könne dem Kläger
der begehrte Abschiebungsschutz nicht zuerkannt werden. Gründe, die unabhängig von
den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen
Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gemäß § 49 VwVfG rechtfertigen würden,
lägen nicht vor. Die konkrete Gefahr einer Verschlechterung seines
Gesundheitszustands bei Rückkehr in die Türkei könne nicht festgestellt werden. Aus
dem von ihm vorgelegten ärztlichen Attest vom 12. Dezember 2006 ergebe sich, dass er
lediglich aufgrund einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis medikamentös im Bundesgebiet behandelt werde, offenbar nicht jedoch
wegen der weiteren bei ihm diagnostizierten Erkrankungen. Die medizinische
Behandlung seiner paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis sei aufgrund der vorhandenen Einrichtungen in der Türkei gewährleistet.
Die ergebe sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar
2007. Die Behandlung sei auch finanzierbar. Der Kläger könne sich eine "grüne Karte"
ausstellen lassen, wenn er mittellos sei. In der Übergangszeit zwischen Beantragung
und Ausstellung der grünen Karte würden bei einer Notfallerkrankung sämtliche
stationären Behandlungskosten und alle weiteren damit zusammenhängenden
Ausgaben übernommen. Stationäre Behandlungen von Inhabern der grünen Karte
umfassten sowohl Behandlungskosten als auch die Medikamentenkosten in Höhe von
80 %. Auf die Betreuung in Deutschland und eine fehlende Einsichtsfähigkeit könne
sich der Kläger nicht berufen, weil es möglich wäre, dass einer seiner Angehörigen
43
(Kinder, Bruder und Schwester in der Türkei) ihn betreuen könnte. Auch könne er mit
finanzieller Unterstützung durch seine drei in Deutschland lebenden Geschwister (zwei
Schwestern und ein Bruder) rechnen. Aus den anderen aufgeführten Erkrankungen
könne er Abschiebungsschutz nicht herleiten, weil er hierzu keine Atteste vorgelegt
habe, wonach diese Krankheiten medikamentös oder anderweitig behandelt worden
sind. Im Übrigen werde in Bezug auf eine Thalassämie lediglich ein Verdacht geäußert.
Dass dieser Verdacht sich bestätigt hätte, sei nicht belegt worden. Hinsichtlich der
weiter aufgeführten Hepatopathie und einer alkoholindizierten chronischen Pankreatitis
handele es sich lediglich um Nebenwirkungen seiner chronischen Alkoholabhängigkeit,
die er durch eine Entziehungskur - auch in der Türkei - reduzieren könne. Soweit ihm
eine Polyneuropathie bescheinigt werde, sei auf den Botschaftsbericht der Deutschen
Botschaft Türkei vom 16. September 2002 zu verweisen, wonach die Behandlung einer
Polyneuropathie in der Türkei in allen größeren Universitätskrankenhäusern mit
Abteilungen für Neurologie und Physiotherapie möglich sei.
Der Kläger hat fristgerecht Klage erhoben. Er beantragt,
44
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 20. August 2007
zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG
in der Person des Klägers bezüglich der Türkei vorliegt.
45
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
46
die Klage abzuweisen.
47
In der mündlichen Verhandlung vom 18. September 2008 hat das Gericht den Kläger
und seinen Betreuer zum Umfang der Betreuungsleistungen, die der Kläger benötigt,
angehört. Wegen des Ergebnisses seiner Anhörung wird auf die hierüber gefertigte
Niederschrift Bezug genommen.
48
Durch Beschluss vom 31. Juli 2008 hat die Kammer das Verfahren auf den
Vorsitzenden als Einzelrichter übertragen.
49
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitwertes wird auf den Inhalt der
Streitakte, der Gerichtsakten 8 L 744/01.A, 8 L 618/04 und 8 L 444/05, die
Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes (zwei Hefte) und der Ausländerbehörde (sechs
Hefte) sowie die Betreuungsakte des Amtsgerichts Aachen mit dem Aktenzeichen 70
XVII A 371Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
51
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
52
Der Bescheid des Bundesamtes vom 20. August 2007 ist rechtmäßig und verletzt den
Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung -
VwGO - ).
53
Nach dem maßgeblichen Sachstand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. §
77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) hat das Bundesamt zutreffend
entschieden, dass der Kläger bereits keinen Anspruch darauf hat, im Hinblick auf die
negative Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG (alt) im Bescheid des Bundesamtes
54
vom 7. März 1996 das Verfahren mit dem Ziel wieder aufzugreifen, dem Kläger doch
noch Abschiebungsschutz zuzuerkennen.
Schon die Voraussetzungen für das Wiederaufgreifen des Erstverfahrens sind nicht
erfüllt.
55
Beantragt der Ausländer nach bestandskräftiger negative Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis
6 AuslG (alt) oder zu § 60 Abs. 7 AufenthG in einem Folgeverfahren erneut die
Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG in seiner Person
vorliegen, so ist in einem ersten - der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 7 AufenthG in der Person des Antragstellers zwingend vorgeschalteten -
Schritt zu prüfen, ob das Verfahren nach § 51 Abs. 1 bis 3 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) wieder aufzugreifen ist.
56
Nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die
Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden,
wenn - sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage
nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat, neue Beweismittel vorliegen, die
eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, oder
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) gegeben
sind (Abs. 1 des § 51 VwVfG), - der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande
war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen
(Abs. 2 des § 51 VwVfG) und - der Antrag innerhalb von drei Monaten gestellt wird,
nachdem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt (Abs.
3 des § 51 VwVfG). Dabei genügt es, dass der Asylbewerber eine Änderung der
Verhältnisse glaubhaft und substantiiert vorträgt. Nicht von Bedeutung ist, ob der neue
Vortrag tatsächlich die Annahme eines Abschiebungsverbots rechtfertigt. Die
Behauptung einer geänderten Sachlage ist nur dann unbeachtlich, wenn von vornherein
nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist, dass der Kläger einen Anspruch auf
die Feststellung eines Abschiebungsverbots hat.
57
Vgl. zum vergleichbaren Maßstab für das Wiederaufgreifen eines Asylverfahrens
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 13. März 1993 - 2 BvR 1988/92 -,
Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1993, 300; Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG), Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, Amtliche Entscheidungssammlung
des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 106, 171 ff.
58
Davon ausgehend ist der Abschiebungsschutzantrag des Klägers bereits unzulässig,
weil er jedenfalls nicht fristgerecht gestellt worden ist. Das Krankheitsbild, aus dem sich
derzeit ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis für den Kläger ergeben könnte,
war schon im Jahre 2001 ihm und seiner bereits damals für ihn tätigen
Prozessbevollmächtigten bekannt, die unter Vorlage ärztlicher Atteste der Fachärztin Dr.
N.-C. vom 4. Mai 2001 und 12. September 2001 sowie des B.- Krankenhaus in Aachen
22. November 2001 und mit Hinweis auf die attestierten psychischen Erkrankungen des
Klägers (insbesondere paranoid-halluzinatorische Schizophrenie auf dem Boden einer
frühkindlichen, vermutlich traumatisch bedingten Hirnschädigung mit zerebralem
Residualsyndrom) gegenüber der Ausländerbehörde geltend machte, der Kläger sei
nicht reisefähig, woraufhin das Gesundheitsamt der Ausländerbehörde am 17.
Dezember 2001 entschied, der Kläger sei für zunächst zwei Jahre tatsächlich nicht
reisefähig. Der erst im November 2008 gestellte und im Kern auf das gleiche
Krankheitsbild gestützte Antrag auf Abänderung der negativen Feststellung zu § 53 Abs.
59
1 bis 6 AuslG (alt) im Bescheid des Bundesamtes vom 7. März 1996 hält damit die 3-
Monats-Frist des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ersichtlich nicht ein.
Der Kläger hat im Hinblick auf die negative Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG (alt)
im Bescheid des Bundesamtes vom 23. November 2004 auch keinen Anspruch auf ein
Wiederaufgreifen des Verfahrens (im weiteren Sinne) gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG in
Verbindung mit §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 49 Abs. 1 VwVfG.
60
Liegen die Voraussetzungen von § 51 VwVfG - wie im Fall des Klägers wegen der
dargelegten Versäumung der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG - n i c h t vor,
so hat das Bundesamt nach den §§ 48, 49 und 51 Abs. 5 VwVfG nach pflichtgemäßem
Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zu § 53 AuslG
(alt) zurückgenommen oder widerrufen wird. Hierbei besteht ein Anspruch des
Antragstellers auf fehlerfreie Ermessenausübung.
61
Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. März 2000, Az. 9 C 41/99, BVerwGE 111, 77-83; Beschluss
vom 15. Januar 2001, Az. 9 B 475/00, juris.
62
Davon ausgehend scheitert ein Anspruch des Klägers auf Rücknahme bzw. Widerruf
der bestandskräftigen früheren Entscheidung zu § 53 AuslG (alt) - unabhängig davon,
ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme gemäß § 48 Abs. 1 Satz
1 VwVfG oder diejenigen für einen Widerruf nach § 49 Abs. 1 VwVfG überhaupt
vorliegen und das Ermessen des Bundesamtes zugunsten des Klägers auf Null
reduziert ist - jedenfalls daran, dass die Ermessensentscheidung des Bundesamtes, die
bestandskräftige Entscheidung zu § 53 AuslG (alt) aus dem Jahre 1996 nicht
abzuändern, rechtlich nicht zu beanstanden ist. Das Bundesamt musste dem Begehren
des Klägers nicht entsprechen, weil es dem Kläger nicht gelungen ist glaubhaft zu
machen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG)
für seine Person ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
besteht.
63
Nach dieser Vorschrift soll von einer Abschiebung abgesehen werden, wenn für den
Ausländer im Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
besteht. Maßgebend ist allein das Bestehen einer konkreten individuellen Gefahr für die
genannten Rechtsgüter ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm
zuzurechnen ist.
64
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
18. Januar 2005 -8 A 1242/03.A-, juris Rdnrn. 29-36; vgl. zu der früheren -weitgehend
wortgleichen- Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zudem: BVerwG, Urteile vom 25.
November 1997 -9 C 58.96-, BVerwGE 105, 383 ff., und vom 17. Oktober 1995 -9 C
9.95-, BVerwGE 99, 324 ff.
65
Für das Vorliegen einer konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
genügt nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu
werden. Vielmehr ist der Begriff der Gefahr im Ansatz mit dem im asylrechtlichen
Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegten Gefahrenbegriff
identisch, wobei allerdings aufgrund der Tatbestandsmerkmale der "konkreten" Gefahr
für "diesen" Ausländer als zusätzliches Erfordernis eine einzelfallbezogene, individuell
bestimmte und erhebliche Gefahrensituation hinzutreten muss,
66
vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 -8 A 1242/03.A- , a.a.O., Rdnr. 37; BVerwG,
Beschluss vom 18. Juli 2001 -1 B 71.01-, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46; Urteil
vom 9. März 1996 -9 C 116.95-, NVwZ 1996, Beilage Nr. 8, S. 57 m.w.N.,
67
die überdies landesweit droht,
68
vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 -9 C 9.95-, a.a.O.
69
Eine drohende Gesundheitsgefahr ist "erheblich", wenn eine
Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist, namentlich sich
der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde,
70
vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, a.a.O.,
71
etwa infolge einer schweren psychischen Erkrankung.
72
Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 1999 - 9 C 7.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG
Nr. 24; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2002 - A 12 S 907/00 -, juris
Rdnr. 58, m.w.N.
73
"Konkret" ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung "alsbald" nach der Rückkehr des
Betreffenden in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten
der Behandlung seiner Leiden trifft und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch
nehmen könnte.
74
Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, a.a.O.
75
Schließlich erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur solche Gefahren, die in den
spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind. Gefahren, die sich allein als
Folge oder im Zusammenhang mit der Abschiebung ergeben, fallen nicht in den
Zuständigkeitsbereich des Bundesamtes, sondern sind von der Ausländerbehörde im
Rahmen des Vollstreckungsverfahrens zu berücksichtigen.
76
Vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463; Urteil
vom 21. September 1999 - 9 C 8.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 21 = NVwZ
2000, 206; Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, a.a.O.; Urteil vom 11. November
1997 - 9 C 13.96 -, BVerwGE 105, 322 (324 ff.).
77
Dabei kann ein "zielstaatsbezogenes" Abschiebungshindernis auch in einer Krankheit
begründet sein, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik leidet, und weil
der Begriff der "Gefahr" hinsichtlich des Entstehungsgrundes nicht einschränkend
auszulegen ist, steht es der Feststellung des Abschiebungshindernisses auch nicht
entgegen, wenn die zu besorgende Gefahr durch die individuelle Konstitution des
Ausländers (mit-)bedingt wird.
78
Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, a.a.O.
79
Gemessen an diesen (strengen) Anforderungen steht dem Kläger kein
zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Denn
es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich sein
Gesundheitszustand nach einer Abschiebung in die Türkei wesentlich oder gar
80
lebensbedrohlich verschlimmern wird.
In der Türkei ist die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung durch das
öffentliche Gesundheitssystem und den sich ausweitenden Sektor der
Privatgesundheitseinrichtungen grundsätzlich gewährleistet. Auch die für den Kläger
notwendige ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln ist generell
verfügbar. Garantiert wird die medizinische Grundversorgung durch das staatliche
Gesundheitssystem und die mehr und mehr leistungsfähigen privaten
Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standard entsprechen. Das
türkische Gesundheitssystem verbessert sich laufend. Während die Versorgung in den
modernen privaten Einrichtungen westlichen Standards entspricht, gilt dies - vor allem
auf dem Land - nicht immer für öffentliche Krankenhäuser. Jedoch besteht in Fällen, in
denen die erforderliche Behandlung auf dem Land nicht erfolgen kann, die Möglichkeit,
die Patienten in Behandlungszentren der nächstgelegenen größeren Städte zu
überweisen. Auch eine medizinische Versorgung sowie die Behandlungsmöglichkeit
psychischer Erkrankungen ist grundsätzlich türkeiweit gegeben. Das
Gesundheitswesen der Türkei garantiert psychisch kranken Menschen umfassenden
Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen, und auch bei der Behandlung
psychischer Erkrankungen ist ein ständig steigender Standard festzustellen. Die
Behandlung psychischer Erkrankungen ist in allen Krankenhäusern der Türkei möglich,
die über eine Abteilung für Psychiatrie verfügen. Allerdings gibt es Dauereinrichtungen
für psychisch kranke Erwachsene - die von der türkischen Ärzteschaft oft unter Hinweis
auf eine bessere Pflege in den Familien abgelehnt werden - nur in Form von
geschlossenen Einrichtungen, die chronisch erkrankte Patienten aufnehmen, die keine
familiäre Unterstützung haben oder eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. Die im
September 2007 in der Türkei bestehenden Dauereinrichtungen verfügten über eine
Gesamtkapazität von ca. 7.100 Betten. Außerdem gab es zu diesem Zeitpunkt 444 unter
der Aufsicht des türkischen Staatsministeriums für Frauen, Familie und Soziales
verwaltete private Pflege- und Rehabilitationszentren. Als Defizit ist schließlich
festzustellen, dass die Situation psychisch Kranker in der Türkei durch eine Dominanz
krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter
(Tageskliniken und/oder -stätten) und komplementärer Versorgungsangebote (z.B.
Beratungsstellen, Kontaktbüros, betreutes Wohnen etc.) gekennzeichnet ist. Die
zahlenmäßig unzureichenden Beratungsstellen der sozialen Dienste (Generaldirektion
für Soziale Dienste und Kinderschutz und der Gesundheitsdienst) sind nicht in der Lage,
Angehörige zu begleiten und sie auf Krankheitsverläufe eines psychisch kranken
Menschen vorzubereiten; dabei liegt die rechtliche Verpflichtung für die
Dienstleistungen bei Dauerpflege bei der Generaldirektion für Soziale Dienste und
Kinderschutz. Möglich ist jedoch auch eine Beratung oder Behandlung als Privatpatient
bei einem der vielen niedergelassenen Fachärzte oder der - zumeist im Ausland (USA) -
umfassend ausgebildeten Psychologen, Psychiater, psychotherapeutisch tätigen Ärzten
oder Neurologen, deren Wirkungskreis sich aber fast ausschließlich auf die Großstädte
bezieht.
81
Vgl. zur medizinischen Grundversorgung: OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 2002 -8 A
4782/99.A-, juris Rdnrn. 344- 348, und vom 18. Januar 2005 -8 A 1242/03.A-, a.a.O.,
Rdnrn. 78-97; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 46 f., und vom 9.
Oktober 2002, Seite 49 f., vom 19. Mai 2004, S. 46 ff. und - zuletzt - vom 27. Oktober
2007, S. 36/37 und Anlage zum Lagebericht.
82
Trotz der aufgezeigten Defizite (schlechtere Versorgung in ländlichen Gegenden,
83
Fehlen differenzierter ambulanter und komplementärer Versorgungsangebote) ist damit
durch die dargestellte medizinische Grundversorgung in der Türkei die für den Kläger
notwendige ärztliche Behandlung, die Versorgung mit Arzneimitteln und die nach dem
konkreten Krankheitsbild über die medizinische Versorgung hinaus erforderliche
Betreuung gewährleistet. Dabei sind die zahlreichen fachärztlich attestierten
Erkrankungen des Klägers differenziert zu bewerten.
Die dem Kläger in den seit dem Jahr 2001 der Ausländerbehörde, dem Bundesamt und
dem Amtsgericht Aachen vorgelegten Attesten der Frau Dr. C. N.-C. aus Aachen vom 4.
Mai 2001 (Verwaltungsvorgang VI Bl. 442), 12. September 2001 (Verwaltungsvorgang
VI Bl. 487), 29. April 2004 (Verwaltungsvorgang VI Bl. 527), 23. Mai 2005
(Verwaltungsvorgang VII Bl. 584), 24. Juni 2005 (Verwaltungsvorgang VII Bl. 640), 12.
Juli 2004 (Verwaltungsvorgang VI Bl. 564), 12. Dezember 2006 (Verwaltungsvorgang I
Bl. 12) und 5. Juni 2007 (Verwaltungsvorgang I Bl. 18), des B. Krankenhaus Aachen 22.
November 2001 (Verwaltungsvorgang VI Bl. 508), des Amtsarztes Dr. Badura der
Stadtverwaltung Aachen vom 17. Dezember 2001 (Verwaltungsvorgang VI Bl. 510) und
12. März 2004 (Verwaltungsvorgang VII Bl. 544), der RWTH Aachen vom 15. September
2004 (Verwaltungsvorgang VII Bl. 576) und der S.-I.-Klinik in Bad Dürkheim/Pfalz vom
27. April 2005 (Verwaltungsvorgang IX Bl. 10-11) bescheinigte alkoholtoxische
Hepatopathie (Leberzirrhose, ICD-10: F 20), alkoholinduzierte chronische Pankreatitis
(alkoholinduzierte chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse), Schwerhörigkeit
und Polyneuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems unterschiedlichster
Ursache, die mit Muskelschwäche und Gefühlsstörungen einhergeht, ICD-10: G 62.9)
sowie die außerdem attestierten frontobasalen Contusionsblutungen nach einem Sturz
in einem Krankenhaus (ICD-10: S 062) und der außerdem beschriebene Verdacht auf
Thalassaemia minor (Erkrankungen der roten Blutkörperchen, bei denen durch einen
Gendefekt das Hämoglobin nicht ausreichend gebildet bzw. gesteigert abgebaut wird)
sind aus mehreren Gründen nicht geeignet, ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs.
7 Satz 1 AufenthG zu begründen.
84
So ergibt sich aus keinem der vorgelegten Atteste, dass eine dieser Krankheiten derzeit
oder in absehbarer Zukunft behandlungsbedürftig ist. Der Kläger wird auch nicht wegen
einer dieser Erkrankungen behandelt. In der mündlichen Verhandlung im Einzelnen zu
den Krankheiten befragt haben der Kläger und sein Betreuer auch nicht angegeben, der
Kläger sei wegen einer der in Rede stehenden Krankheiten behandlungsbedürftig. Sie
haben lediglich darauf hingewiesen, dass der Kläger als Folge der frontobasalen
Konfusionsblutungen etwa ein Mal wöchentlich unter starken Kopfschmerzen leidet und
wegen der attestierten Polyneuropathie in seiner Bewegungsfähigkeit sehr
eingeschränkt ist. Darüber hinaus besteht in Bezug auf eine Thalassaemia minor
bislang lediglich der Verdacht einer Erkrankung. Schließlich hat sich der Kläger derzeit
nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung offenbar so sehr vom
Alkohol gelöst, dass eine Suchtbehandlung nicht mehr erforderlich ist. Lediglich "in
schwierigen Situationen, bei besonderen Problemen" trinkt er noch problematische
Mengen Alkohol, offenbar aber ohne deswegen fremd- oder eigengefährdend zu
entgleisen. Vor diesem Hintergrund lässt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) nicht feststellen, dass dem Kläger wegen einer
der in Rede stehenden Krankheiten bei Rückkehr in die Türkei eine "erhebliche"
Gesundheitsbeeinträchtigung, d.h. eine von besonderer Intensität (namentlich eine
wesentliche oder sogar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands)
"konkret", d.h. "alsbald" nach einer Rückkehr in die Türkei droht.
85
Unabhängig davon begründen die in Rede stehenden Krankheiten kein
Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, weil weder dargelegt noch
sonst ersichtlich ist, dass der Kläger - sollte sich nach einer Rückkehr in die Türkei sein
Gesundheitszustand trotz derzeit fehlender Anzeichen wegen einer oder mehrerer
dieser Krankheiten wesentlich verschlechtern - die dann adäquate Behandlung nicht
erlangen kann. Dies hat bereits das Bundesamt im angefochtenen Bescheid vom 20.
August 2008 zutreffend festgestellt und begründet (S. 5 des Bescheidabdrucks); mit
Rücksicht darauf sieht das Gericht insoweit gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG von einer
vertieften eigenen Begründung ab.
86
Eine erhebliche Gefahr für - zumindest - die Gesundheit und das Leben des Klägers
droht im Falle seiner Rückkehr in die Türkei auch nicht, weil er - wovon das Gericht
aufgrund der vorliegenden Atteste und der daraus ersichtlichen Krankheitsverläufe im
Wesentlichen in den Jahren 2001 bis 2005 überzeugt ist - an einer paranoid-
halluzinatorischen Psychose (ICD-10: F 20) und einer frühkindlichen Hirnschädigung
mit Residualsyndrom (ICD-10: D 93.8) leidet und jahrelang chronisch alkoholabhängig
war.
87
Die für die paranoid-halluzinatorische Psychose - eine Dauererkrankung - im Falle
aktueller Exazerbationen erforderliche stationäre und im Übrigen dauerhaft notwendige
medikamentöse Behandlung des Klägers ist in der Türkei gesichert.
88
Wie bereits ausgeführt ist die für die Versorgung psychisch kranker Menschen
erforderliche Infrastruktur mit den dort bestehenden psychiatrischen Stationen in den
staatlichen Krankenhäusern - die auch ambulant tätig werden -, mit mehr als 60
Dauereinrichtungen und mit mehr als 400 privaten Pflege- und Rehabilitationszentren
so weit entwickelt, dass eine sich in Krisensituationen als erforderlich erweisende
stationäre Behandlung wie auch die regelmäßige ambulante Weiterbehandlung des
Klägers als gewährleistet angesehen werden kann. Die erforderlichen Medikamente
sind ohne Schwierigkeiten erhältlich. Schließlich ist es auch möglich, im Fall einer
Abschiebung des Klägers in die Türkei eine gegebenenfalls notwendige sofortige
Übernahme der Behandlung z.B. durch Absprachen mit der Flughafenpolizei und dem
medizinischen Dienst am Flughafen Istanbul sicherzustellen.
89
Vgl. zu Letzterem OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A-, a.a.O.,
Rdnrn. 111-112 m.w.N.
90
Die Durchführung der notwendigen Behandlung insbesondere mit Medikamenten würde
auch nicht an einer eventuellen Mittellosigkeit des Klägers scheitern.
91
Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte"
(Yesil Kart) ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im
staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Inhaber der "Grünen Karte" haben
grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung. Mittlerweile
können Yesil-Kart-Empfänger Medikamente in allen Apotheken beziehen. In der
Übergangszeit zwischen Beantragung und Ausstellung der "Grünen Karte" werden bei
einer Notfallerkrankung sämtliche stationären Behandlungskosten und alle weiteren
damit zusammenhängenden Ausgaben übernommen. Die stationäre Behandlung von
Inhabern der "Grünen Karte" umfasst die Behandlungskosten sowie
Medikamentenkosten in Höhe von 80%. Für Leistungen, die nicht über die "Grüne
Karte" abgedeckt sind, stehen ergänzend Mittel aus dem jeweils örtlichen
92
Solidaritätsfonds zur Verfügung (Sosyal Yardim ve Dayanisma Fonu). In Bezug auf
Mittellose psychisch Kranke ist zusätzlich zu beachten, dass sie auf die
Zentraleinrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens oder der
Sozialversicherungssysteme angewiesen sind. Dort haben Inhaber der "Grünen Karte"
grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung psychisch
Kranker. Im akuten Krankheitsfall - wozu psychische Erkrankungen nur dann gehören,
wenn unerwartet ärztliche Behandlung erforderlich wird - sind die Behandlungskosten
von der "Grünen Karte" gedeckt, ohne dass diese vorliegen muss. Im nicht akuten Fall
kann die Behandlung erst nach Erhalt der "Grünen Karte" fortgeführt werden. Es besteht
jedoch die Möglichkeit einer Kostenübernahmeerklärung durch deutsche Stellen bis zur
Kostenabdeckung durch die "Grüne Karte". Zusätzlich gibt es die Möglichkeit,
finanzielle Unterstützung von einem Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität, von der
Stiftung für Sozialhilfe und Solidarität, von religiösen Stiftungen, von Verwandten und -
für eine Übergangszeit - auch von der Ausländerbehörde zu erbitten.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 -8 A 1242/03.A-, a.a.O., Rdnrn. 130-139
m.w.N.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. Oktober 2007, S. 36/37 und Anlage zum
Lagebericht.
93
Dies zugrundegelegt ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass
dem Kläger die erforderliche medizinische Behandlung einschließlich der laufenden
Arzneimittelversorgung in der Türkei aus finanziellen Gründen versagt bleiben wird.
Konkrete Anhaltspunkte für eine derartige Annahme macht der Kläger nicht geltend; sie
sind auch nicht ersichtlich. Vielmehr ist zu erwarten, dass vor dem Hintergrund der auf
die islamische Tradition zurückzuführenden starken familiären Bande in der türkischen
Bevölkerung die fünf Geschwister des Klägers - von denen 3 in Deutschland leben -
helfen werden, wenn der Kläger kleinere Zuzahlungen etwa für Medikamente - die in der
Türkei weit billiger als in Deutschland sind - sich nicht leisten kann und hierfür keine
Unterstützung aus den genannten Hilfsfonds erhält.
94
Die notwendige Behandlung und Medikation des Klägers wird in der Türkei auch nicht
daran scheitern, dass er die gebotene Beaufsichtigung und Betreuung mit dem Ziel, die
in Deutschland erfolgreich durchgeführte nervenärztliche Behandlung einschließlich der
medikamentöser Therapie im Heimatland kontinuierlich fortzuführen, nicht erlangen
könnte.
95
Ob bei Vorliegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose der Betroffene die
gebotene Beaufsichtigung und Betreuung nach der Rückkehr in sein Heimatland
erhalten wird, ist in Bezug auf die Türkei wegen der dargelegten Defizite in der
ambulanten Betreuung psychisch Kranker in der Türkei nicht generell, sondern
individuell in jedem Einzelfall nach Würdigung der Besonderheiten des Einzelfalls zu
entscheiden. Ist zu erwarten, dass die Defizite des Gesundheitswesens in der Türkei
nicht durch Dritte - bei denen es sich in der Regel um Verwandte des Betroffenen
handeln wird - ausgeglichen werden, ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG zu gewähren; ist jedoch davon auszugehen, dass der Betroffene die
notwendige Beaufsichtigung und Betreuung mit Hilfe Dritter erhalten wird, steht ihm kein
Abschiebungsschutz zu.
96
Im Einzelfall Abschiebungsschutz bejahend: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom
4. Juli 2003, Az. 4 LB 183/02, juris; OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2004, Az. 15
A 671/04, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 1. März 2004, Az. 4 K 9251/03.A, juris. Im
97
Einzelfall Abschiebungsschutz verneinend: OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 -8 A
1242/03.A-, a.a.O.; VG Aachen, Urteil vom 9. April 2003, Az. 6 K 1923/00.A, juris.
Der Kläger wird im Fall der Rückkehr in die Türkei die erforderliche Unterstützung von
seiner Familie erhalten. Dieser Wertung legt das Gericht im Wesentlichen die
"Bescheinigung zur Vorlage beim Amtsgericht" der S.-I.-Klinik in Bad Dürkheim/Pfalz
vom 27. April 2005, die zu der Bestellung eines Betreuers für den Kläger für die
Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge,
Vertretung gegenüber Behörden und Leistungsträgern und einschließlich Ausländeramt
durch Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 12. August 2005 geführt hat, und die
bereits erwähnten Atteste der den Kläger behandelnden Fachärztin Dr. N.-C. seit dem
Jahre 2001 zugrunde. Der in diesen Bescheinigungen beschriebene Betreuungsbedarf
entspricht dem aktuellen Betreuungsbedarf bei einem Aufenthalt in Deutschland.
98
Die S.-I.-Klinik hat dem Kläger im Wesentlichen bescheinigt, er sei aufgrund seines
Krankheitsbildes - langjährige Alkoholabhängigkeit und chronische Schizophrenie mit
ausgeprägter Residualsymptomatik (kognitive Defizite, verminderte Handlungsplanung,
deutliche Einschränkungen in der Kritikfähigkeit, Konzentrations- und
Aufmerksamkeitsdefizit, Antriebsstörung) - nicht fähig, ohne Hilfe von außen ein
eigenständiges Leben zu führen. Zur Pflege sozialer Kontakte außerhalb des
Klinikpersonals sei er nicht fähig, eine ausgeprägte Verbesserung seiner
Sozialkompetenzen sei auch für die Zukunft nicht zu erwarten. An seinem Wohnort sei
er in engem Kontakt zu seiner deutschen Freundin, ebenfalls Alkoholikerin, die ihn zwar
bemuttere, jedoch keine Einsicht in seine oder ihre eigene Erkrankung habe und ihm
folglich keine stützende Hilfe sein werde. Außer ihr habe der Kläger keine weiteren
Sozialkontakte. Sein Bruder lebe zu weit entfernt, um ihm die benötigte regelmäßige
Betreuung, die die Bereiche Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung,
Vermögensangelegenheiten, Vertretung bei Ämtern und Behörden umfasse, zukommen
zu lassen. Da der Kläger nur über geringe Deutschkenntnisse verfüge, wäre ein
türkischsprachiger Betreuer wünschenswert.
99
Den Attesten der den Kläger behandelnden Fachärztin Dr. N.-C. ist im Wesentlichen zu
entnehmen, dass es für den Kläger wegen seiner schwergradigen psychischen
Erkrankung lebensnotwendig ist, die seit dem Jahr 2001 erfolgende nervenärztliche
Behandlung einschließlich medikamentöser Therapie fortzuführen, und dass der Kläger
außerdem der Hilfe der geplanten Betreuung bedürfe, weil er ohne eine sichere
Lebenssituation weder seinen Alltag noch die dringend erforderlichen Behandlungen
gewährleisten können.
100
Die 8. Kammer des erkennenden Gerichts hat in einem Einstellungs- und
Kostenbeschluss vom 1. Februar 2006, mit dem ein ausländerrechtliches Eilverfahren
des Klägers mit dem Aktenzeichen 8 L 444/05 abgeschlossen worden ist, den
Standpunkt eingenommen, unter Berücksichtigung der besonderen gesundheitlichen
und persönlichen Situation des Antragstellers, namentlich mit Blick auf die wiederholt
ärztlich bescheinigte Behandlungsbedürftigkeit der psychiatrischen, neurologischen und
internistischen Erkrankungen, der erheblich reduzierten Kritikfähigkeit insbesondere im
Hinblick auf die Planung von erforderlichen Therapien sowie die durch die Bestellung
eines Betreuers belegte Betreuungsbedürftigkeit des Antragstellers bestünden
hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines - zielstaatsbezogenen -
Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
101
Mit Attest vom 24. Juni 2005 hatte auch die den Kläger behandelnde Fachärztin Dr. N.-
C. den Standpunkt eingenommen, der Kläger werde die wegen seiner schwergradigen
Erkrankung weiterhin erforderliche nervenärztliche Behandlung in seiner Heimat nicht in
Anspruch nehmen können, da er weder über die finanziellen Mittel noch über die
Kritikfähigkeit zur Planung seiner Therapien verfüge.
102
Das erkennende Gericht hält es demgegenüber nicht für wahrscheinlich, sondern für
unwahrscheinlich, dass dem Kläger in der Türkei die notwendige Hilfe nicht zuteil
werden wird. Dabei folgt das Gericht den in der Diagnose und Therapie der Erkrankung
des Klägers übereinstimmenden und überzeugenden Bescheinigungen der S.-I.-Klinik
und der Frau Dr. N.-C. insbesondere auch, soweit beide eine Betreuung des Klägers für
erforderlich halten, um seine fortlaufende Behandlung sicherzustellen.
103
Das Gericht folgt jedoch nicht der von der den Kläger behandelnde Fachärztin Dr. N.-C.
im Attest vom 24. Juni 2005 vertretenen Auffassung, der Kläger werde er die wegen
seiner schwergradigen Erkrankung weiterhin erforderliche nervenärztliche Behandlung
in seiner Heimat nicht in Anspruch nehmen können, da e weder über die finanziellen
Mittel noch über die Kritikfähigkeit zur Planung seiner Therapien verfüge. Diese
Einschätzung der Frau Dr. N.-C., die im Übrigen weder in diesem noch in späteren
Attesten näher begründet wird, kann nicht überzeugen, weil sie - wie dargelegte wurde -
zu Unrecht davon ausgeht, dass der Kläger in der Türkei schon wegen fehlender
finanzieller Mittel die notwendige Behandlung nicht werde erlangen können, und weil
sie ohne Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Kläger die nötige Hilfe von seinen
engsten Verwandten erhalten wird, erfolgt ist.
104
Aufgrund der Angaben des derzeit bestellten Betreuers und des Klägers in der
mündlichen Verhandlung ergibt sich folgendes Bild vom notwendigen Umfang der
Betreuung des Klägers in der Türkei:
105
Ebenso wie in Deutschland bedarf der Kläger vordringlich der Beaufsichtigung bzw.
Überwachung durch eine Betreuungsperson, um sicherzustellen, dass er auch in der
Türkei in der Regel einmal monatlich einen Psychiater aufsucht, der seinen Zustand
beurteilt und die danach notwendigen Medikamente für den Folgemonat verschreibt,
und um sicherzustellen, dass er täglich die verordneten Medikamente einnimmt.
106
Nicht anders als in Deutschland braucht er eine Betreuungsperson, die ihm hilft und zur
Seite steht, wenn es zu einer akuten Exazerbation der bekannten paranoid-
halluzinatorischen Schizophrenie kommt, denn die dann erforderliche Einweisung in ein
Krankenhaus und die anschließende Nachsorge kann er nicht alleine bewältigen.
107
Schließlich benötigt er zur Führung eines eigenständigen Lebens wegen der von der S.-
I.-Klinik attestierten kognitiven Defizite, verminderten Handlungsplanung, deutlichen
Einschränkungen in der Kritikfähigkeit, der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite
und der Antriebsstörung auch in der Türkei immer wieder der Hilfe durch eine
Betreuungsperson, die ihm geduldig hilft, wenn Termine einzuhalten und wichtige
Termine zu organisieren sind und ihre Einhaltung zu überwachen ist, wenn er wegen
seiner Probleme mit der räumlichen Orientierung zu besonderen Orten wie z.B. zu der
mündlichen Verhandlung im Verwaltungsgericht in Aachen begleitet werden muss,
wenn ihm wegen seiner Vergesslichkeit die gleichen Dinge ständig erneut erklärt
werden müssen, und wenn er einen Rat oder Anstoß benötigt, um seine
Alltagsaufgaben zu erledigen und eine strukturierte Tagesplanung einzuhalten.
108
Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger die vorstehend im Umfang beschriebene
notwendige Betreuung im Hause seiner Mutter in Kahramanmaras durch seine engsten
Verwandten - die Mutter und seine drei Kinder - erhalten wird, die sich ihrer familiären
Verpflichtung, dem Sohn bzw. Vater in der Not zu helfen, nicht entziehen werden, weil
die zu leistende Hilfe, die arbeitsteilig von ihnen erbracht werden kann, sie nicht
überfordert und ihnen deshalb vor dem Hintergrund des bereits dargelegten starken
Zusammenhalts türkischer Familien zuzumuten ist. Im Einzelnen ist zu den -
überschaubaren - erforderlichen Betreuungsleistungen auszuführen:
109
Der regelmäßige Besuch eines Psychiaters erfordert ersichtlich keinen
außerordentlichen Aufwand, weil anzunehmen ist, dass der Kläger in der Türkei nach-
wo nach seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt (VV I Bl. 21) die Verwandten
unter der Anschrift Magrali mahelesi, 27 sokak No. 11, Kahramanmaras, leben -
zurückkehren und dort - wie seine Kinder und seine geschiedene erste Frau - bei seiner
Mutter leben wird. Kahramanmaras, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im
Südosten der Türkei, hat mehr als 320.000 Einwohner und ist Standort einer Universität.
Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger das Stadtgebiet nicht verlassen
muss, um die notwendige psychiatrische Behandlung und alle verordneten
Medikamente zu erhalten. Damit wird sich auch der zeitliche Aufwand der
Betreuungsperson, die den Kläger - wie derzeit der Betreuer in Deutschland -
gelegentlich einmal im Monat zur Behandlung begleitet, in Grenzen halten.
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Auch ist zu erwarten, dass die Kontrolle, ob der Kläger täglich die verordneten
Medikamente einnimmt, die Betreuungsperson weder zeitlich noch psychisch
übermäßig beanspruchen wird. Denn es ist weder dargetan worden noch aus den in das
Verfahren eingeführten ärztlichen Attesten oder mit Blick auf das Ergebnis der Anhörung
des Klägers in der mündlichen Verhandlung ersichtlich, dass der Kläger bezüglich der
täglichen Medikamenteneinnahme derzeit in Deutschland einer engmaschigen
Beaufsichtigung bedarf. Der Betreuer des Klägers hat nicht angegeben, dass er die
Tabletteneinnahme des Klägers täglich überwacht. Die einzige Person, die diese
Aufgabe ansonsten erfüllen könnte, ist die deutsche Freundin des Klägers, die aber
nach der "Bescheinigung zur Vorlage beim Amtsgericht" der S.-I.-Klinik in Bad
Dürkheim/Pfalz vom 27. April 2005 dem Kläger keine stützende Hilfe sein kann, weil sie
Alkoholikerin ist und den Kläger zwar "bemuttert", jedoch keine Einsicht in seine oder
ihre eigene Erkrankung hat. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger
bezüglich der täglichen Medikamenteneinnahme derzeit in Deutschland nur
"weitmaschig" beaufsichtigt werden muss, weil eine gewisse Einsicht in die
Notwendigkeit der Medikation bei ihm vorhanden ist. In dieser Einschätzung sieht sich
das Gericht dadurch bestätigt, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf den
Vorhalt, seine deutsche Freundin habe dem Bundesamt erklärt, er benötige keine Hilfe,
wenn er seine Medikamente habe, erwidert hat:
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"Es ist nicht richtig, dass ich keine Hilfe benötige, wenn ich meine Medikamente habe.
Ich benötige Hilfe. Immer wenn es komplizierter ist, kann ich mich nicht selbst
verständigen. Ich brauche dann einen Dolmetscher und gehe dann auch oft zu
beeidigten Dolmetschern."
112
In dieser Antwort zeigt sich, dass der Kläger durchaus den Willen hat, bei einfachen
Problemstellungen seine Angelegenheiten selbst zu regeln, wobei seine
Sprachprobleme in Deutschland für ihn das größte Hindernis bilden, weil er - wie sein
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Betreuer dargelegt hat - nur ein bisschen Deutsch spricht, das aber ausreicht, um ganz
einfache Dinge mit ihm zu besprechen. Nur bei komplizierten Sachverhalten - und dazu
zählt die tägliche Medikamenteneinnahme nach seiner Antwort nicht - benötigt er
regelmäßig Hilfe. Außerdem ist festzustellen, dass weder dargetan worden noch sonst
ersichtlich ist, dass der Kläger sich in den Jahren seit seiner Entlassung aus der S.-I. -
Klinik der notwendigen Behandlung und Medikation widersetzt oder sie gar abgelehnt
hat. Der einzige dokumentierte Wutausbruch des Klägers seit dem Jahre 2005, der dazu
geführt hat, dass auf Verlangen des Klägers das Amtsgericht Aachen den ersten
gerichtlich bestellten Betreuer abgelöst und durch den derzeitigen Betreuer ersetzt hat,
beruhte nach den Angaben der Anwältin des Klägers in der mündlichen Verhandlung
darauf, dass der Kläger zutiefst darüber verärgert war und noch ist, dass sein erster
Betreuer pflichtgemäß die deutsche Sozialbehörde von einer Rente unterrichtet hat, die
der Kläger in der Türkei bezieht, woraufhin seine Asylbewerberleistungen um den
Betrag der türkischen Rente gekürzt wurden; dies hat den Kläger so sehr erregt, dass er
- ohne jede Einsicht in die Verpflichtung des Betreuers zur Abgabe wahrheitsgemäßer
Angaben gegenüber deutschen Behörden - dem Betreuer die Tür eingetreten hat. Auch
zu der Bedrohung eines Vetters in Aachen im Jahre 1999 ist es nur gekommen, weil der
Kläger ihn für eine aus seiner Sicht unberechtigte kurzfristige Inhaftierung verantwortlich
gemacht hat. Dass der Kläger mit seiner Mutter oder seinen Kindern Streit beginnen
wird, wenn sie ihn bei Bedarf daran erinnern, seine Medikamente einzunehmen, einen
Tagesplan einzuhalten und einmal im Monat einen Arzt aufzusuchen, ist demgegenüber
nicht anzunehmen. Vielmehr ist zu erwarten, dass er in der Türkei eine wohlmeinende
Beaufsichtigung durch seine engsten Verwandten nicht ablehnen, sondern annehmen
wird.
Dafür, dass die den Kläger betreuenden Verwandten auch nicht durch die Erledigung
von Alltagsaufgaben für den Kläger wie Kochen, Waschen, Essen zubereiten und
Einkaufen überfordert werden, spricht, dass der Kläger insoweit in Deutschland eine
gewisse Eigenständigkeit gezeigt hat, sodass nicht anzunehmen ist, dass er in seiner
Familie unzumutbar mit Alltagsaufgaben belasten wird. Dass er sich bemühen wird,
jedenfalls arbeitsteilig zu seiner Versorgung in der Türkei beizutragen, leitet das Gericht
auch daraus ab, dass der Kläger in Deutschland stets bereit war, seinen
Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Obwohl seine Arbeitsunfähigkeit amtlich
anerkannt ist, hat er - wie die Ausländerbehörde mitgeteilt hat - noch kurz vor der
mündlichen Verhandlung wiederholt einem Pizzabäcker in Aachen bei Küchenarbeiten
- wie er sagt - unentgeltlich geholfen. Dass er sich auch in der Türkei wieder um eine für
ihn zu bewältigende Arbeit bemühen wird, ist deshalb zu erwarten, zumal er in der
Heimat nicht mit Sprachproblemen zu kämpfen und nicht mit Arbeitsverboten wie in
Deutschland zu rechnen hat. Zu dieser Einschätzung trägt auch bei, dass der Kläger in
der mündlichen Verhandlung erklärt hat, er habe in der Türkei früher jede Arbeit
angenommen, die er gefunden habe, und dass er eine gewisse Eigenständigkeit und
Eigenverantwortung seit der Einrichtung einer Betreuung in Deutschland dadurch
gezeigt hat, dass er - abgesehen von Mietzahlungen und eventuellen Nachzahlungen
für Miete, Heizung und Strom - die der Betreuer für ihn regelt, ansonsten sein Geld
selbst verwaltet.
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Die den Kläger betreuenden Verwandten werden schließlich auch nicht dadurch
überfordert werden, dass er jedenfalls in Deutschland Schriftverkehr nicht abwickeln
kann, weil er - wie sein Betreuer erklärt hat - nicht lesen kann. Ob er auch Schriftstücke
in türkischer Sprache nicht lesen oder jedenfalls nicht erstellen kann, obwohl er
angegeben hat, sich gelegentlich auf Gespräche mit Frau Dr. N.-C. mit einem
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Wörterbuch vorzubereiten, bedarf keiner Klärung. Denn es ist nicht damit zu rechnen,
dass ein nennenswerter Schriftverkehr des Klägers in der Türkei anfallen wird, weil der
in Deutschland vom Betreuer erledigte Schriftverkehr in der Türkei nicht mehr anfällt.
Durch die zu erwartende Wohnungnahme im Haus der Mutter wird kein Schriftverkehr
mit der Mutter ausgelöst werden, und auch der Schriftverkehr mit türkischen Behörden
wird nur einen Bruchteil des Schriftverkehrs ausmachen, den der Betreuer mit
deutschen Behörden und Gerichten für ihn erledigen musste. Dass seine Kinder
gelegentlich anfallenden Schriftverkehr in der Türkei abwickeln werden, ist vor diesem
Hintergrund anzunehmen.
Daneben trägt zu der Einschätzung des Gerichts, dass die notwendige Betreuung des
Klägers seine engere Familie nicht überfordern wird, wesentlich bei, dass der Kläger
sich derzeit nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung offenbar
so sehr vom Alkohol gelöst hat, dass eine Suchtbehandlung nicht mehr erforderlich ist.
Lediglich "in schwierigen Situationen, bei besonderen Problemen" trinkt er noch
problematische Mengen Alkohol, offenbar aber ohne deswegen fremd- oder
eigengefährdend zu entgleisen. Würde er wieder in der Türkei leben, wäre auch der
Hauptgrund für die Entgleisungen entfallen, die ganz wesentlich die - offenbar
erfolgreiche - Entziehungskur in der S.-I. -Klinik notwendig gemacht haben. Der Kläger
müsste nämlich nicht mehr mit der ständigen Ungewissheit leben, ob er in die Türkei
abgeschoben wird.
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Bei abschließender Wertung überwiegen die Gründe, die für eine Unterstützung des
Klägers durch seine Familie in Kahramanmaras sprechen, auch deswegen, weil er die
Bande zu ihr nicht endgültig zerschnitten hat. In der mündlichen Verhandlung hat der
Kläger hierzu erklärt, er halte Kontakt nach Zuhause, er telefoniere im Grunde aber nur
mit seiner Mutter und mit seinen Kindern. Weiter hat er erklärt:
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"Natürlich möchte ich endlich wieder einmal in die Türkei und dort Besuche machen. Ich
möchte dort Urlaub machen. Ganz besonders sehne ich mich danach, meine Kinder
wiederzusehen. Ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen."
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Weshalb seine Mutter und seine Kinder ihn trotz der erkennbar noch vorhandenen
emotionalen Bindung nicht aufnehmen und wie beschrieben unterstützen sollten, ist
nicht ersichtlich, zumal auch die Anwesenheit seiner ersten geschiedenen Frau im
Haushalt nicht unbedingt für eine Ablehnung des Klägers durch die Familie spricht;
denn immerhin lässt der Kläger seiner geschiedenen Frau, der Mutter seiner Kinder, die
kleine türkische Rente auszahlen, deretwegen er sich mit seinem ersten Betreuer
überworfen hat.
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Da - wie bereits dargelegt wurde - im vorliegenden Verfahren nur solche Gefahren ein
Abschiebungshindernis begründen können, die in den spezifischen Verhältnissen im
Zielstaat begründet sind, wird durch die Entscheidung in diesem Klageverfahren nicht
vorgezeichnet, ob im Zusammenhang mit einer Abschiebung so erhebliche Gefahren für
Leib und Leben des Klägers drohen, dass eine Abschiebung unmöglich ist. Im
vorliegenden Verfahren ist das Gericht zu der Einschätzung gelangt, dass der Kläger in
der Türkei auf ein Umfeld treffen wird, in dem er - einmal wieder zurück im Heimatland -
nicht gefährdeter als derzeit in Deutschland wird leben können. Ob er eine Abschiebung
ohne schweren gesundheitlichen Schaden wird überstehen können, ist demgegenüber
von der Ausländerbehörde gesondert vor dem Hintergrund zu entscheiden, dass der
Kläger - wie aus seinen mehrfachen Einreisen nach Deutschland zu ersehen ist und
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was er in der mündlichen Verhandlung auch klar ausgesprochen hat - einfach nicht in
die Türkei zurückkehren will und genau dann in schwere gesundheitliche Krisen
geraten ist, als er ab dem Jahr 2001 in die Türkei abgeschoben werden sollte. Diesen -
nach Einschätzung dieses Gerichts ojektiv nicht begründbaren - Widerstand gegen eine
Abschiebung in sein Heimatland wird der Kläger trotz der mit seiner Weigerungshaltung
verbundenen Gefahren voraussichtlich auch in Zukunft nicht aufgeben; dies wird dann
aber ein Problem des Vollstreckungsverfahrens sein.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 83 b
AsylVfG; diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO
in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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