Urteil des VG Aachen vom 21.06.2006

VG Aachen: aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, stadt, öffentliches recht, unbestimmter rechtsbegriff, allgemeinverfügung, ausnahmebewilligung, vollziehung, bedürfnis, verbraucher

Verwaltungsgericht Aachen, 3 L 358/06
Datum:
21.06.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 L 358/06
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (3 K
1050/06) gegen die am 9. Juni 2006 mit sofortiger Vollziehung
versehene Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 3. Februar
2006 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen hat.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
1
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Inhalt, die
aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (3 K 1050/06) gegen die
Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 3. Februar 2006 wiederherzustellen, hat
Erfolg.
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Der Antrag ist zulässig.
3
Mit ihm wendet sich der antragstellende Arbeitnehmer, der heute und morgen (21. und
22. Juni 2006) außerhalb der allgemeinen Ladenschlusszeiten in der Buchhandlung der
Beigeladenen eingesetzt werden soll, gegen die vom Antragsgegner getroffene
Verfügung, wonach Verkaufsstellen für die Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2006 vom
9. Juni bis 9. Juli 2006 abweichend von den üblichen Ladenschlusszeiten an Werktagen
von 0.00 Uhr bis 24.00 Uhr sowie mit Ausnahme des 2. Juli 2006 an allen Sonntagen
und am Fronleichnamstag von 14.00 Uhr bis 20.00 Uhr für den geschäftlichen Verkehr
offen gehalten werden dürfen.
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Der Antragsteller ist in entsprechender Anwendung von § 42 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) antragsbefugt. Er kann als Arbeitnehmer eine
verwaltungsgerichtliche Kontrolle verlangen, ob der Antragsgegner bei Erlass seiner
Allgemeinverfügung die (engen) gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der
Ladenschlusszeiten eingehalten hat. Das Ladenschlussgesetz (LSchlG) soll nämlich
auch nach Erlass des Arbeitszeitgesetzes vom 6. Juni 1994, BGBl. I Seite 1170, die
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Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen durch kontrollfähige Regelungen sichern, das
Verkaufspersonal insbesondere vor überlangen Arbeitszeiten schützen und ihm unter
anderem ein weitgehend zusammenhängendes Wochenende gewährleisten. Dem
Antragsteller kann somit aus §§ 3 und 23 LSchlG ein subjektiv-öffentliches Recht
zustehen, von Ladenöffnungszeiten außerhalb der in § 3 LSchlG festgesetzten Zeiten
und von Ausnahmeregelungen über die Maßgaben in § 23 LSchlG hinaus verschont zu
bleiben. Beide Normen haben für die betroffenen Arbeitnehmer drittschützenden
Charakter, da das Ladenschlussgesetz in erster Linie eine arbeitsschutzrechtliche
Zielrichtung hat, vgl.: Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 17. Dezember
1998 - 1 CN 1.98 -, Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwGE) 108, 182 = Gewerbearchiv (GewArch) 1999, 168 = Deutsches
Verwaltungsblatt (DVBl) 1999, 1038 und Urteil vom 23. März 1982 - 1 C 157.79 -,
BVerwGE 65, 167 = GewArch 1982 = DVBl 1982, 692. A.A.: VG Hannover, Beschluss
vom 15. März 2000 - 7 B 666/00 - Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht -
Rechtsprechungs- Report (NVwZ-RR) 2001, 307 = GewArch 2000, 211.
Schließlich fehlt es nicht am allgemeinen Rechtsschutzinteresse. Die Möglichkeit des
Antragstellers, gegen eine arbeitszeiterweiternde Weisung der beigeladenen
Arbeitgeberin Rechtsschutz vor dem Arbeitsgericht zu suchen, ändert daran nichts.
Kann ein Arbeitnehmer nämlich in dem dargelegten Sinne subjektiv-öffentliche Rechte
aus einer Norm des öffentlichen Rechts herleiten, so kann er grundsätzlich nicht darauf
verwiesen werden, wegen etwaiger privater Rechte um Rechtsschutz nachzusuchen,
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vgl.: BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1998 - 1 CN 1.98 - ,a.a.O..
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Der Antrag ist auch begründet.
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Im Falle der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes nach § 80 Abs. 2 VwGO
kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs wiederherstellen bzw. anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers
an der Aussetzung der Vollziehung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der
sofortigen Vollziehung vorrangig ist. Das Vollziehungsinteresse setzt sich durch, wenn
die angefochtene Verfügung als offensichtlich rechtmäßig anzusehen ist und darüber
hinaus ein - von der Behörde nach § 80 Abs. 3 VwGO schriftlich darzulegendes -
besonderes öffentliches Interesse an ihrer Umsetzung vor Abschluss des
Rechtsschutzverfahrens in der Hauptsache besteht. Hingegen ist ein überwiegendes
Aussetzungsinteresse gegeben, wenn der Rechtsbehelf mit erheblicher
Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird, das heißt, wenn die angefochtene Verfügung
nach der gebotenen summarischen Prüfung rechtswidrig erscheint.
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So liegt der Fall hier. Es spricht nach dem derzeitigen Erkenntnisstand Überwiegendes
für die Rechtswidrigkeit der Verfügung der Antragsgegnerin vom 3. Februar 2006, weil
sie von der in Betracht kommenden Rechtsgrundlage nicht gedeckt sein dürfte.
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Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 LSchlG kann die oberste Landesbehörde oder die von ihr
ermächtigte Behörde,
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vgl.: zur Zuständigkeit der Antragsgegnerin als Bezirksregierung Nr. 4.5 der Anlage III
der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Arbeits- und
technischen Gefahrenschutzes vom 25. Januar 2000 (SGV NRW Nr. 271),
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in Einzelfällen nur dann befristete Ausnahmen von den Vorschriften der §§ 3-16 und §§
18-21 LSchlG bewilligen,
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vgl.: zur Verfassungsmäßigkeit dieses Regelungsregimes Bundesverfassungsgericht
(BVerfG), Urteil vom 9. Juni 2004 - 1 BvR 636/02 -, BVerfGE 111, 10 = GewArch 2004,
289 = DVBl 2004, 889,
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wenn die Ausnahmen im öffentlichen Interesse dringend nötig werden.
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An dieser tatbestandsmäßigen Voraussetzung für die Aufhebung der
Ladenschlusszeiten fehlt es hier. Nach gegenwärtigem Sachstand ist zumindest für den
Bereich der Stadt Aachen, in dem sich die Arbeitsstelle des Antragstellers befindet, nicht
ersichtlich, dass ein öffentliches Interesse für eine verlängerte Ladenöffnungszeit im
Sinne der vorgenannten Vorschrift dringend nötig ist. Der Begriff des öffentlichen
Interesses unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen gerichtlichen
Überprüfung,
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vgl.: BVerwG, Urteil vom 5. Februar 1980 - 1 C 43.77 -, GewArch 1980, 237 = DVBl
1980, 647; Urteil vom 15. Mai 1974 - 1 C 44.72 -, GewArch 1974, 277 = Buchholz 451.25
LSchlG Nr. 14.
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Nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts,
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vgl.: Urteil vom 15. Mai 1974 - 1 C 44.72 -, a. a. O.,
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ist die Ausnahme nach § 23 Abs. 1 LSchlG ein Dispens (Befreiung). Sie setzt durch
Verwaltungsakt ein allgemeines Verbot des Gesetzes für den Einzelfall außer Kraft. Die
Ermächtigung des Gesetzes an die Verwaltung zu einer vom Gesetz abweichenden
Festsetzung der Ladenschlusszeiten in Einzelfällen ist eng begrenzt. Der Gesetzgeber
hat eine solche Gesetzesdurchbrechung nicht nur mit den Worten "Ausnahme" und
"können" zugelassen, sondern den Ausnahmetatbestand genauer gefasst. Eine
Ausnahmebewilligung kommt nicht schon in Betracht, wenn die Durchführung des
gesetzlichen Verbots zu einer vom Gesetz unbeabsichtigten Härte für den Inhaber einer
Verkaufsstelle führt oder sonst nach Lage des einzelnen Falles unbillig ist. Die
Bewilligung einer Ausnahme ist nicht einmal für den Fall vorgesehen, dass im Einzelfall
der beantragten Abweichung von der Regelvorschrift keine öffentlichen Belange
entgegenstehen. Es müssen vielmehr Gründe des Allgemeinwohls vorliegen, die von
der gesetzlichen Regel vorübergehend abweichende Ladenschlusszeiten erfordern. Die
damit weitgehend eingeschränkte Dispensationsermächtigung, über deren
Zweckmäßigkeit die Gerichte nicht zu befinden haben, wird noch dadurch betont, dass
die Ausnahme im öffentlichen Interesse dringend nötig sein muss. Damit sollte es den
Verwaltungsbehörden unmöglich gemacht werden, "durch uferlose Bewilligung von
Ausnahmen das Gesetz um seine Wirkung zu bringen" (BR-Drucks. Nr. 310/54,
Begründung Seite 39). Bedeutsam für die Auslegung und Anwendung der genannten
Tatbestandvoraussetzungen ist außerdem die "Zusammenschau" der Vorschriften über
die Ladenschlusszeiten. Bei der Entscheidung über eine Ausnahmebewilligung muss
berücksichtigt werden, dass das Gesetz in § 3 nicht nur "allgemeine
Ladenschlusszeiten" (mit einem Befreiungsvorbehalt) bestimmt, sondern mit Rücksicht
auf die Bedürfnisse der Bevölkerung selbst abweichende Regelungen für einzelne
Gewerbezweige und die Verkaufsstellen auf Personenbahnhöfen und Flughäfen trifft
und außerdem zahlreiche Ermächtigungen enthält, durch Rechtsverordnung für
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bestimmte Orte, Gebiete, Waren und Anlässe andere Öffnungszeiten festzusetzen. Sind
somit zahlreiche Sachverhalte, bei denen nach den Vorstellungen des Gesetzgebers
eine Abweichung von der Regelvorschrift gerechtfertigt erscheint, schon im Gesetz
selbst berücksichtigt, können diesen Tatbeständen gewichtige Anhaltspunkte für die
Auslegung und Anwendung des § 23 LSchlG entnommen werden. Schließlich müssen
bei der Anwendung des § 23 Abs. 1 LSchlG auch die Zwecke des
Ladenschlussgesetzes beachtet werden, dass nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen für die
Ladenangestellten sicherstellen, zumindest ihre Kontrolle wirksamer machen, die
zulässige Arbeitszeit auf die Tageszeiten der Werkzeiten verteilen und - soweit es die
Verkaufsstelle ohne Angestellten einbezieht - gleiche Chancen im Wettbewerb
herbeiführen soll,
vgl.: BVerfG, Urteil vom 29. November 1961 - 1 BvR 148/57 -, BVerfGE 13, 230 (235).
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Ein öffentliches Interesse im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 LSchlG ist nur zu bejahen,
wenn allgemeine Bedürfnis-, Versorgungs- und Verwertungsgesichtspunkte der
Verbraucher allgemein oder bestimmter Gruppen eine Ausnahme von den allgemeinen
Ladenschlusszeiten erfordern. Es bezieht sich auf das Versorgungsinteresse, das zu
einem zunächst nicht vorhersehbaren Versorgungsbedarf von Betroffenen führt, wobei
dieser Bedarf bei Einhaltung der allgemeinen Ladenschlusszeiten nicht hinreichend
befriedigt werden könnte. Dabei wird durch das in § 23 Abs. 1 LSchlG angesprochene
zusätzliche Merkmal der dringenden Notwendigkeit deutlich, dass nicht jedes zu einem
unvorhergesehenen Versorgungsbedarf führende Versorgungsinteresse eine
Ausnahmebewilligung rechtfertigen kann. Vielmehr muss wegen des Erfordernisses der
dringenden Notwendigkeit ein Sachverhalt vorliegen, der es wegen seines
Ausnahmecharakters und zum Schutz der Betroffenen erforderlich macht, deren
Interessen gegenüber dem vom Ladenschutzgesetz bezweckten Arbeitnehmerschutz
den Vorrang einzuräumen. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die dem
Ladenschlussgesetz zugrunde liegenden Erwägungen, wonach dem Einzelnen im
Interesse des Arbeitnehmerschutzes zugemutet wird, sein generell bestehendes
Versorgungsinteresse nicht zu jeder von ihm gewünschten Zeit befriedigen zu können,
ausnahmsweise wegen der durch eine Ausnahmesituation entstandenen berechtigten
Interessen von Betroffenen keine Geltung beanspruchen kann, vgl.: BVerwG, Urteil vom
23. März 1982 - 1 C 157.79 -, BVerwGE 65, 167 = DVBl 1982, 692 = GewArch 1982,
341; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. Oktober 2002 - 3 BS
408/02 -, in: juris.
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Dass in Aachen, einer ca. 250.000 Einwohner zählenden Großstadt, in der während der
Weltmeisterschaftsveranstaltung keine Fußballspiele stattfinden, ein solches
Versorgungsproblem auftreten könnte, ist nicht erkennbar. Das gilt auch, wenn man
berücksichtigt, dass in Aachen an ein oder zwei Stellen Großleinwände aufgestellt
werden, an denen Fußballspiele live verfolgt werden können, wie z.B. im Q1. oder in der
Q.---straße . An beiden Stellen ist aus Raumgründen nur eine sehr begrenzte Anzahl
von Zuschauern zu erwarten. Auf dem L. ist eine biergartenähnliche Bestuhlung
eingerichtet. Dort sind mehrere Plasmabildschirme aufgestellt, auf denen, wie in
Gaststätten mit Verzehrszwang, die Fußballspiele auf dem Bildschirm verfolgt werden
können. Ähnliche Veranstaltungen mit vergleichbar großen Menschenansammlungen
finden in Großstädten häufig statt und begründen nicht das von der Rechtsprechung
geforderte dringende öffentliche Interesse. Das Ereignis der Fußballweltmeisterschaft ist
seit langem angekündigt, sodass sich Verbraucher und Ladeninhaber innerhalb der
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schon großzügig bemessenen Ladenschlusszeiten bis werktags 20.00 Uhr darauf
einstellen konnten und können. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, weshalb
Besucher, die wegen der Weltmeisterschaft nach Aachen kommen, und Einwohner der
Stadt Aachen ihre Versorgungsbedürfnisse nicht zu den gewöhnlichen Öffnungszeiten
befriedigen könnten und insoweit auf die Nachtstunden und auf Sonn- und Feiertage
angewiesen wären.
Dass im vorliegenden Fall nicht ein dringendes Versorgungsbedürfnis Anlass für die
Verlängerung der Ladenschlusszeiten war, ergibt sich bereits aus der Mitteilung des
Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein- Westfalen
vom 31. Januar 2006, worin es heißt: "Wir wollen uns den Besuchern aus aller Welt als
weltoffenes und gastfreundliches Land präsentieren. An vielen Orten in Nordrhein-
Westfalen werden vor und während der Spiele Fußball-Feste mit Großbildleinwänden
oder Ähnlichem für alle Sportfans vorbereitet, die keine Karten bekommen haben,
deshalb sollen die Händler, wenn sie es wollen, landesweit ihre Ladenlokale öffnen
können." Diese Ziele stellen jedoch kein dringendes öffentliches Bedürfnis im Sinne des
§ 23 Abs. 1 Satz 1 LSchlG dar und schon gar nicht für einen flächendeckenden Bereich
im gesamten Regierungsbezirk Köln mit zahlreichen großen und kleinen Städten, in
denen keine Fußballweltmeisterschaftsspiele stattfinden.
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Dabei verkennt die Kammer nicht, wie auch die Antragsgegnerin im
Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2006 vorgetragen hat, dass der Begriff des
öffentlichen Interesses im Licht der Zielsetzung des Ladenschlussgesetzes auszulegen
ist und dass sich die Motive der Verbraucher für die Nachfrage von
Einkaufsmöglichkeiten seit In-Kraft-Treten des Ladenschlussgesetzes im Jahre 1956
geändert haben. Während damals überwiegend die Bedarfsdeckung im Vorgrund stand,
liegt heute die Betonung stärker auf dem Dienstleistungs- und Erlebnisaspekt, so auch
die amtliche Begründung vom 3. Januar 2003 zum Gesetz zur Verlängerung der
Ladenöffnungen an Samstagen, das der heutigen Fassung der Vorschrift zugrunde liegt,
(vgl.: BR-Drucks. 4/03, Seite 6 f.). Damit bedarf die bisherige, ältere Rechtsprechung
zum Inhalt des öffentlichen Interesses der Ergänzung. Ein solches Interesse liegt nicht
nur in der Sicherung der Volksernährung, dem Schutz größerer Mengen von
Lebensmitteln vor dem Verderb oder der Versorgung großer Massen von Arbeitern. Die
Verschaffung eines Einkaufserlebnisses mag demnach grundsätzlich ebenfalls ein
öffentliches Interesse begründen können. Aber auch unter Berücksichtigung dieser
neuen Gesichtspunkte ist weiterhin Voraussetzung für die Erteilung einer Ausnahme,
dass ein dringender Bedarf an einer Einkaufsmöglichkeit außerhalb der allgemeinen
Öffnungszeiten tatsächlich entsteht. Dies ist nur dann der Fall, wenn größere
Menschenmengen aus Gründen, die nicht in der verlängerten Öffnungszeit selbst liegen,
außerhalb der allgemeinen Öffnungszeiten unterwegs sind und zu erwarten ist, dass sie
eine Einkaufsmöglichkeit nachfragen, vgl.: Verwaltungsgericht Weimar, Beschluss vom
8. Juni 2006 - 8 E 759/06 We -.
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Ein typisches Beispiel sind öffentliche Großereignisse wie umfangreiche
Wirtschaftsausstellungen, vgl.: den Fall des Verwaltungsgerichts Hannover, Beschluss
vom 15. März 2000 - 7 B 666/00 -, a.a.O..
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Auch besondere Fußballspiele können evtl. für eine Stadt, in der sie stattfinden, Anlass
für eine Verlängerung der Ladenschlusszeiten sein. Ein Bedürfnis infolge einer
Mobilisierung größerer Menschenmengen muss aber hinreichend konkret sein, da sonst
die Voraussetzungen für ein dringendes öffentliches Interesse nicht vorliegen. Eine
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solch umfangreiche Mobilisierung größerer Menschenmengen ist in Aachen, wo keine
Weltmeisterschaftsspiele ausgetragen werden, auch mit Blick auf die Aufstellung einiger
Großleinwände und zusätzlicher Fernsehgeräte nicht erkennbar.
Das gilt auch unter Berücksichtigung der inzwischen über einwöchigen Erfahrungen
während der Dauer der Fußballweltmeisterschaft seit dem 9. Juni 2006. In Aachen wird
von der Möglichkeit der Verlängerung der Ladenschlusszeiten kaum Gebrauch
gemacht. In der örtlichen Lokalpresse, in den Werbezeitschriften und ihren
Werbeeinlagen war für das Wochenende vor dem 16. Juni 2006 und danach keine
nennenswerte Werbung von Geschäften der Stadt Aachen im Hinblick auf eine
Verlängerung der Ladenschlusszeiten erkennbar. Die Kammer hat lediglich einen
Hinweis des Verkaufsgeschäfts D. in der Tagespresse auf WM-Öffnungszeiten
gefunden, die im Internet aufzusuchen seien. Nach der Bekanntgabe im Internet hat die
Filiale des Geschäfts in Aachen die Öffnungszeiten an Werktagen bis 22.00 Uhr und an
Sonntagen von 14.00 bis 20.00 Uhr verlängert. Außerdem hat nach Internetangaben
lediglich das Verkaufsgeschäft "L1. " an Werktagen bis 22:00 Uhr und an Sonntagen
von 14:00 bis 20:00 Uhr von der Möglichkeit der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten
Gebrauch gemacht. Aus alledem ergibt sich, dass in Aachen kein großes Interesse an
verlängerten Öffnungszeiten besteht.
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Die Kammer kann daher nicht erkennen, dass im Bereich der Stadt Aachen aus Anlass
der Spiele der Fußballweltmeisterschaft von auswärts größere Menschenmengen
anreisen oder von Einheimischen so große Menschenmengen mobilisiert werden, dass
eine dringende Nachfrage nach Einkaufsmöglichkeiten entsteht. Mit dem
Verwaltungsgericht Weimar drängt sich auch der hier entscheidenden Kammer der
Eindruck auf, dass es Ziel der Behörden ist, durch die Verlängerung der
Ladenöffnungszeiten zur Durchführung von Begleitveranstaltungen zur
Fußballweltmeisterschaft anzuregen und so das regionale Wirtschaftsleben zu fördern.
Dieses Interesse kann mit Blick auf die schützenswerten Interessen der Arbeitnehmer,
die sonntags und nachts arbeiten müssten, nicht zu einer Genehmigung nach § 23 Abs.
1 LSchlG führen. Ob dies auch für Großstädte gilt, in denen Weltmeisterschaftsspiele
ausgetragen werden, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung.
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Soweit geltend gemacht wird, dass in weiten Teilen der Bevölkerung ein nachhaltiger
Wandel im Einkaufsverhalten und ein immer stärker werdendes Bedürfnis für ein
Einkaufen auch zur Nachtzeit sowie an Sonn- und Feiertagen zu erkennen ist, führt dies
zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung der Ausnahmesituation nach der jetzigen
Rechtslage des § 23 LSchlG. Eine mögliche Änderung der gesellschaftlichen
Auffassung über Inhalt und Reichweite der Ladenschlusszeiten könnte nur von dem
Gesetzgeber zum Anlass genommen werden, eine entsprechende Neuregelung
vorzunehmen, z.B. durch eine Lockerung der Ausnahmebestimmungen. Ein solcher
Vorgang kann jedoch nicht durch von der Gesetzeslage abweichende Entscheidungen
einzelner Behörden oder Gerichte eingeleitet werden.
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Liegen somit schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine
Ausnahmebewilligung nach § 23 Abs. 1 Satz 1 LSchlG nicht vor, war die die
aufschiebende Wirkung der Klage des antragstellenden Arbeitnehmers schon
deswegen herzustellen.
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Entscheidungsunerheblich ist damit, dass im Übrigen auch ernstliche Zweifel daran
bestehen, ob die Antragsgegnerin im Bescheid vom 3. Februar 2006 in der Gestalt des
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Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 2006 das in der Vorschrift eingeräumte Ermessen
(Die obersten Landesbehörden "können" in Einzelfällen ...) mit Blick auf die
Gewährleistung des Sonn- und Feiertagsschutzes rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.
Abschließend ist zur Klarstellung darauf hinzuweisen, dass die hier angeordnete
aufschiebende Wirkung der Klage aus prozessualen Gründen nur zu Gunsten des
Antragstellers wirkt und lediglich seinen Arbeitsort (Stadt Aachen) betrifft. Die
aufschiebende Wirkung gilt nämlich grundsätzlich immer nur zu Gunsten desjenigen,
der den Rechtsbehelf eingelegt hat, und kann in zeitlicher wie inhaltlicher Hinsicht für
mehrere Betroffene unterschiedliche Wege gehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich
die Allgemeinverfügung - wie hier - als Bündelung von Verwaltungsakten darstellt, von
denen jeder für sich Bestand haben kann. Eine Teilbarkeit der Allgemeinverfügung ist
hier ohne Weiteres auch insoweit gegeben, als die Allgemeinverfügung
unterschiedliche Städte und Gemeinden betrifft, vgl. dazu OVG Greifswald, Beschluss
vom 22. Dezember 1999 - 2 M 99/99 - , NVwZ 2000, 948,
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von denen beispielsweise die Stadt Köln im Gegensatz zur Stadt Aachen
Austragungsort von Spielen der Fußball-WM 2006 ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 und 154 Abs. 3 VwGO.
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2. Der festgesetzte Streitwert folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 des
Gerichtskostengesetzes.
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