Urteil des VG Aachen vom 07.09.2004

VG Aachen: politische verfolgung, amnesty international, europäische union, staatliche verfolgung, bundesamt, anerkennung, wahrscheinlichkeit, asylbewerber, abschiebung, gefahr

Verwaltungsgericht Aachen, 3 K 1655/04.A
Datum:
07.09.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 1655/04.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 13. April 1977 in Bethlehem geborene Kläger ist Palästinenser und katholischer
Christ. Nach seinen Angaben reiste er am 31. Oktober 2003 auf dem Luftweg in das
Bundesgebiet ein. Hier stellte er am 7. November 2003 einen Asylantrag.
2
Am 10. November 2003 wurde der Kläger vor dem Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt), Außenstelle Bielefeld, angehört. Dabei machte
er im Wesentlichen folgende Angaben: Er habe Israel wegen der ständigen Angriffe und
der Besatzung verlassen. Zudem habe es zwei Monate vor seiner Ausreise ein Flugblatt
einer Gruppe namens Saraya Al Quds gegeben. Auf diesem Flugblatt habe gestanden,
dass jeder palästinensische Jugendliche, der sich nicht an solchen Organisationen
beteilige, als Verräter anzusehen sei, und dass man ihn umbringen müsse. Diese
Organisation habe nicht viele Mitglieder. Er sei deswegen zur Polizei gegangen. Diese
habe ihm gesagt, dass die Organisation zur Hamas gehöre, und dass man nichts
dagegen unternehmen könne. Die ständige Bedrohung durch israelische Angriffe und
durch islamistische Gruppierungen habe er nicht mehr ausgehalten.
3
Mit Bescheid vom 2. April 2004 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf
Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des §
51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) und Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG nicht vorliegen würden. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Israel
angedroht.
4
Am 13. April 2004 hat der Kläger Klage erhoben. Er beantragt,
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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2.
April 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten
anzuerkennen, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
vorliegen, hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG
vorliegen.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
7
die Klage abzuweisen.
8
Der beteiligte Bundesbeauftragte hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
9
Mit Beschluss vom 14. Juni 2004 ist das Verfahren auf den Berichterstatter als
Einzelrichter übertragen worden.
10
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung angehört worden. Wegen der von ihm
hierbei gemachten Angaben wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der
Ausländerbehörde verwiesen.
11
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
12
Die Klage ist nicht begründet.
13
Der Bescheid des Bundesamtes vom 2. April 2004 ist rechtmäßig und verletzt den
Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).
14
Politisch Verfolgter im Sinne dieses Grundrechts ist, wer wegen seiner politischen
Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder wegen für ihn unverfügbarer
Merkmale, die sein Anderssein prägen (z. B. Rasse, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer
sozialen Gruppe) gezielter staatlicher Verfolgung ausgesetzt war oder eine solche
begründet befürchten musste, so dass er sich in einer ausweglosen, seine
Menschenwürde verletzenden Lage befand, in der er Zuflucht in der Bundesrepublik
Deutschland sucht und ihm eine Rückkehr in sein Herkunftsland nicht zugemutet
werden kann.
15
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 23. Januar 1991 - 2 BvR
902/85, 515, 1827/89 -, BVerfGE 83, 216, vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -,
BVerfGE 80, 315, sowie vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181 und 182/80 -, BVerfGE 54,
341, 357; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), st. Rspr., Urteile vom 16. April 1985 - 9
C 109.84 -, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1985, 658 = Deutsches
Verwaltungsblatt (DVBl.) 1985, 956, vom 17. Mai 1983 - 9 C 36.83 -, BVerwGE 67, 184,
und - 9 C 874.82 -, BVerwGE 67, 195.
16
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung politischer Verfolgung ist gemäß § 77 Abs. 1
des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung bzw. der gerichtlichen Entscheidung, sofern diese ohne
mündliche Verhandlung ergeht.
17
Das heißt, dass eine Anerkennung in Betracht kommen kann, wenn zu diesem
maßgeblichen Zeitpunkt für den Fall einer Rückkehr des Asylantragstellers in sein
Herkunftsland seine politische Verfolgung befürchtet werden muss.
18
Nach dem durch den Zufluchtgedanken geprägten normativen Leitbild des Grundrechts
auf Asyl gelten für die Beurteilung, ob ein Asylbewerber politisch verfolgt im Sinne des
Art. 16 a Abs. 1 GG ist, unterschiedlich Maßstäbe je nach dem, ob er seinen Heimatstaat
auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung
verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Im
erstgenannten Fall ist Asyl zu gewähren, wenn der Asylbewerber vor erneuter
politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher sein kann, weil objektive Anhaltspunkte
vorliegen, die eine abermals einsetzende Verfolgung als nicht ganz entfernt und damit
als durchaus "reale" Möglichkeit erscheinen lassen (sog. herabgestufter
Wahrscheinlichkeitsmaßstab).
19
Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2. Juli 1980 - BvR 147, 181, 182/80 - a.a.O.; BVerwG,
Urteile vom 10. Juli 1995 - 9 B 18.95 -, Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1996,
29, vom 13. November 1984 - 9 C 34.84 - Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr. 28 sowie
vom 2. August 1983 - 9 C 599.81 -, BVerwGE 67, 314, 316 = Buchholz 402.25, § 1
AsylVfG, Nr. 11.
20
Ist der Asylbewerber dagegen unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist,
so hat sein Anerkennungsbegehren nur dann Erfolg, wenn ihm aufgrund beachtlicher
Nachfluchttatbestände politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht
("normaler" Prognosemaßstab), so dass eine Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht
eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des
Asylsuchenden nicht zumutbar erscheint.
21
Vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Januar 1995 - 9 C 276.94 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG
Nr. 175 = NVwZ 1996, 86, vom 16. April 1985 - 9 C 109/84 -, Buchholz 402.25, § 1
AsylVfG, Nr. 32 sowie vom 25. September 1984 - 9 C 17.84 - Buchholz 402.25, § 1
AsylVfG, Nr. 26.
22
Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht gehalten, von
sich aus umfassend die in seine Sphäre fallenden Ereignisse substantiiert und in sich
schlüssig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren
Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt
geeignet ist, den Asylanspruch lückenlos zu tragen. Bei der Darstellung der allgemeinen
Umstände im Herkunftsland genügt es hingegen, dass die vorgetragenen Tatsachen die
nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben. Dazu gehört
regelmäßig auch die Angabe von Umständen, aus denen sich zumindest Anhaltspunkte
dafür ergeben, dass den vom Asylsuchenden befürchteten Verfolgungsmaßnahmen
politische Beweggründe zugrunde liegen können.
23
Vgl. BVerwG, Urteile vom 12. November 1985 - 9 C 27.85 -, InfAuslR 1986, 79 und vom
23. November 1982 - 9 C 74.81 -, BVerwGE 66, 237.
24
Die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden,
wenn sich das Gericht im vollen Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des vom
dem Asylbewerber behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei
der sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat bei der
Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrages und der Beweise
angemessen zu berücksichtigen ist.
25
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 - 9 C 27.85 -, a.a.O.
26
Auf Grund der eigenen Angaben des Klägers, des Inhalts der beigezogenen Akten und
der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel kann nicht davon ausgegangen
werden, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus dem Westjordanland von politischen
Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren oder ihm solche unmittelbar drohten und er bei
einer Rückkehr dorthin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischen
Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.
27
Der Kläger hat selbst nicht geltend gemacht, dass er von individuellen, asylerheblichen
Übergriffen palästinensischer oder israelischer Behörden betroffen war oder ihm solche
unmittelbar drohten. Er beruft sich alleine auf die Bedrohung durch die islamistische
Gruppe "Saraya Al Quds". Hierbei handelt es sich aber erkennbar nicht um eines
staatliche Verfolgung, so dass bereits deshalb eine Asylgewährung ausscheidet. Im
Übrigen kann auch insoweit eine Gefährdung des Klägers nicht angenommen werden.
In der mündlichen Verhandlung berief sich der Kläger auf einen Vorfall am 9. April 2002.
An diesem Tag soll er nach der Kirche von einer Gruppe von Al Quds - Angehörigen mit
Steinen beworfen und als Verräter beschimpft worden sein. Selbst wenn dies tatsächlich
so geschehen sein sollte, ist für das Gericht eine Gefährdung von asylerheblicher
Intensität nicht erkennbar. Denn nach diesem Vorfall hat der Kläger noch etwa 1 ½
Jahre - bis zum 21. September 2003 - in Bethlehem gelebt, ohne dass es zu weiteren
Problemen mit den Islamisten gekommen ist. Zwar berief sich der Kläger bei der
Anhörung vor dem Bundesamt darauf, dass die Al Quds zwei Monate vor seiner
Ausreise ein Flugblatt, auf dem gestanden habe, dass man alle palästinensischen
Jugendlichen, die sich nicht solchen Organisationen anschließen würden, umbringen
müsse, herausgegeben habe. Da er diesen Vorfall jedoch in der mündlichen
Verhandlung nicht erwähnt hat, bestehen zum einen durchgreifende Zweifel an der
Glaubhaftigkeit des Vorbringens insoweit. Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass diese
Drohung tatsächlich ernst gemeint war. Schließlich hat der Kläger danach noch zwei
Monate in Bethlehem gewohnt, ohne dass ihm irgend etwas passiert wäre.
28
Nach der Erkenntnislage, wie sie sich dem Gericht darstellt, kann auch nicht davon
ausgegangen werden, dass die palästinensischen Christen als Gruppe verfolgt werden.
Der Kläger selbst beruft sich insoweit lediglich pauschal auf eine einzelne
Stellungnahme im Internet, die für sich genommen aber nicht aussagekräftig ist. Es kann
zwar davon ausgegangen werden, dass die christliche Minderheit in den besetzten
Gebieten noch mehr unter der schlechten wirtschaftlichen Lage und der
Bürgerkriegssituation zu leiden hat als die moslemische Mehrheit. Dafür, dass für jeden
Christen jederzeit die Gefahr besteht, Opfer eines gezielten, staatlichen Übergriffs zu
werden, liegen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte vor.
29
Sofern der Kläger befürchtet, Opfer der zuweilen bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee und den verschiedenen
palästinensischen Gruppen zu werden, scheidet eine Asylgewährung ebenfalls aus.
Würde der Kläger als an den Auseinandersetzungen nicht (aktiv) beteiligter
Palästinenser Opfer von Kampfhandlungen werden, so wäre Ursache jedenfalls kein
gezieltes Vorgehen des israelischen Staates oder der palästinensischen Seite gerade
ihm gegenüber, so dass eine zielgerichtete politische Verfolgung nicht vorliegt.
30
Dem Kläger steht auch kein Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu. Da ihm -
wie oben dargelegt - politische Verfolgung in seiner Heimat nicht droht, liegen die
tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift nicht vor.
31
Vgl. zur Deckungsgleichheit hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter, der
Verfolgungshandlung und -intensität sowie des politischen Charakters der Verfolgung
bei Artikel 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. = Artikel 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG:
BVerwG, Urteile vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, NVwZ 1992, 892 und 18. Januar
1994 - 9 C 48.92 -, NVwZ 1994, 497.
32
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses
nach § 53 AuslG. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen zur
Verfolgungsprognose ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger im
Falle einer Rückkehr in das Westjordanland eine menschenrechtswidrige Behandlung
im Sinne des § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 3 der Europäischen
Menschenrechtskonvention droht, also gerade für den Kläger eine einzelfallbezogene,
individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation besteht.
33
Vgl. zum Maßstab: BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1996 - 9 C 134.95 -, InfAuslR 1996, 289 -
290, juris Rechtsprechung Nr.: WBRE 410002312.
34
Die Gefahren, die sich für den Kläger - wie für alle Palästinenser im Westjordanland -
aus der zeitweise eskalierenden, bürgerkriegsähnlichen Situation ergeben, gehören zu
den allgemeinen Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, bei denen
Abschiebungsschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten
Landesbehörde nach § 54 AuslG vorgesehen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen dürfen das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte im Einzelfall Ausländern,
die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG angehören,
für welche aber ein Abschiebungsstopp nach § 54 AuslG nicht besteht, ausnahmsweise
Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung
des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer
extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist nur der
Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder
schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus
Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer trotz Fehlens einer
Ermessensentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG Abschiebungsschutz
nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren.
35
Vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, NVwZ 2002, 101, vom 18. April
1996 - 9 C 77.95 -, NVwZ-Beilage 8/1996, 58, vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, NVwZ-
Beilage 8/1996, 57 sowie vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 = Die
Öffentliche Verwaltung (DÖV) 1996, 251 = DVBl. 1996, 203; OVG NRW, Beschluss vom
23. Mai 2003 - 4 A 3414/01.A -.
36
Ob eine aus einer allgemeinen Gefahr erwachsende extreme Gefahrenlage vorliegt, ist
stets mit Blick auf sämtliche einem Ausländer drohenden Gefahren zu beurteilen. Dabei
geht es allerdings nicht um eine "mathematische" oder "statistische" Summierung von
Einzelgefahren; vielmehr ist jeweils eine einzelfallbezogene umfassende Bewertung der
aus der allgemeinen Gefahren für den Ausländer folgenden Gesamtgefährdungslage
vorzunehmen, um auf dieser Grundlage über das Vorliegen einer extremen
Gefahrenlage entscheiden zu können.
37
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. April 2002 - 1 B 71.02 - und vom 23. März 1999 - 9 B
38
866.98 -, Buchholz 402.240, § 53 AuslG Nrn. 17 und 59; Urteil vom 19. November 1996 -
1 C 6.95 -, NVwZ 1997, 685.
Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen
Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die
begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen
allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der erforderlichen Wahrscheinlichkeit
des Eintritts der drohenden Gefahren ist gegenüber dem im Asylrecht entwickelten
Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer
extremen Gefahrenlage allerdings ein strengerer Maßstab anzulegen; die allgemeine
Gefahr muss sich für den jeweiligen Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit
verwirklichen. Nur dann rechtfertigt sich die Annahme eines aus den Grundrechten
folgenden zwingenden Abschiebungshindernisses, dass die gesetzliche Sperrwirkung
des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG überwinden kann.
39
Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. November 1996, a.a.O., und vom 12. Juli 2001, a.a.O.;
OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2003 - 4 A 3414/01.A -.
40
Ausgehend von diesem Maßstab hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines
Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG.
41
Die aktuelle Situation in den palästinensischen Autonomiegebieten bzw. im
Westjordanland insgesamt bewertet das Gericht noch nicht als so gravierend, dass der
Kläger bei einer Rückkehr in dieses Gebiet derzeit gleichsam zwangsläufig zu Tode
kommen oder schwerste Verletzungen erleiden würden. Allerdings haben die
israelischen Besatzungstruppen im Jahr 2003 in den besetzten Gebieten etwa 600
Palästinenser, davon etwa 100 Kinder, getötet.
42
Vgl. amnesty international, Jahresbericht 2004, "Israel und besetzte Gebiete" und
"Palästinensische Autonomiegebiete".
43
Berücksichtigt man demgegenüber allerdings, dass in der Westbank 1,663 Millionen
Menschen (davon 83 % palästinensische Araber) und in Gaza 1,022 Millionen
Palästinenser leben,
44
vgl. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl.),
Informationszentrum Asyl und Migration, "Palästinensische Autonomiegebiete" (Online-
Loseblattwerk), 2. Allgemeines, Landesprofil (Mai 2003); S. 18,
45
so verdeutlicht dies, dass zwar ein Risiko besteht, Opfer der bürgerkriegsähnlichen
Situation zu werden. Die von der obergerichtlichen Rechtsprechung geforderte hohe
Schwelle eines "sicheren Todes" wird jedoch nicht überschritten.
46
Opfer des militärischen Eingreifens der israelischen Sicherheitskräfte werden zudem
vorwiegend solche Personen, die den palästinensischen Gruppierungen angehören,
aus deren Reihen Selbstmordanschläge in den von den Israelis bewohnten Gebieten
begangen werden. Auch das familiäre Umfeld dieser Personen ist betroffen. Der Kläger
hat von solchen Aktivitäten innerhalb seiner Familie aber nichts berichtet.
47
Die Risiken für Leib und Leben, die sich aus der angespannten Versorgungslage und
der willkürlichen Zerstörung von Wohnhäusern und palästinensischen
48
Versorgungseinrichtungen durch die israelische Armee ergeben, sind sicherlich nicht zu
unterschätzen.
Vgl. amnesty international, Jahresbericht 2004, "Israel und besetzte Gebiete"; zur
wirtschaftlichen Situation: BAFl., a.a.O., S. 23 f.
49
Auch dies kann aber ein generelles Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1
AuslG nicht begründen. Dem Gericht liegen nämlich keine hinreichenden Anhaltspunkte
dafür vor, dass die Situation zu Hungersnöten oder zu Seuchen mit der Folgen von
massenhaften Todesfällen oder schwersten Erkrankungen unter den Palästinensern
geführt hat. Solche Vorfälle würden aber angesichts der Tatsache, dass in den Medien
täglich über die Situation in Israel und den besetzten Gebieten berichtet wird, sofort
international bekannt werden und angesichts der nicht unerheblichen Unterstützung der
palästinensischen Seite durch internationale Organisationen - insbesondere auch die
Europäische Union - auch unverzüglich zu entsprechenden Hilfsmaßnahmen führen.
50
Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung liegt daher im Falle eines - nicht an
den Auseinandersetzungen mit den israelischen Sicherheitskräften aktiv beteiligten -
Palästinensers aus dem Westjordanland ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG nicht vor.
51
Vgl. VG Aachen, Urteil vom 16. April 2003 - 3 K 2561/00.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom
7. Februar 2003 - 21 K 3794/00.A -; VG Würzburg, Urteil vom 2. Oktober 2002 - W 2 K
02.30657 -.
52
Die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides erlassene Abschiebungsandrohung findet
ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 50 AuslG.
53
Ob die Bezeichnung "Israel" als Zielstaat einer Abschiebung den Anforderungen des §
50 Abs. 2 AuslG entspricht, kann im Ergebnis dahingestellt bleiben.
54
Vgl. zur Zielstaatsbezeichnung "Israel" bzw. "Palästina" bei Palästinensern aus dem
Westjordanland: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (Nds. OVG), Beschluss
vom 21. April 2004 - 11 LA 61/04 -; Hessischer Verwaltungsgerichtshof (Hess. VGH),
Beschluss vom 14. November 2003 - 9 TG 2727/03 -, Schnelldienst Ausländer- und
Asylrecht (AuAS) 2004, 64.
55
Durch eine fehlerhafte Zielstaatsbezeichnung wird der Kläger nämlich jedenfalls nicht in
seinen Rechten im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Bei der Sollvorschrift
des § 50 Abs. 2 AuslG handelt es sich lediglich um eine Vorgabe für das
Handlungsprogramm der Behörde im Sinne einer Ordnungsvorschrift. Vor allem die
Regelung in § 50 Abs. 3 Satz 3 AuslG zeigt, dass die Abschiebungsandrohung als
solche selbst dann bestehen bleibt, wenn in ihr rechtswidrigerweise ein Zielstaat
benannt worden ist, in Bezug auf den zwingende Abschiebungshindernisse vorliegen.
Mit dieser gesetzlichen Wertung stünde es nicht in Einklang, aus dem Fehlen bzw. der
Rechtswidrigkeit einer Zielstaatsbezeichnung auf die Rechtswidrigkeit der
Abschiebungsandrohung insgesamt zu schließen.
56
Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21. April 2004; Hess. VGH, Beschluss vom 14.
November 2003, jeweils a.a.O. und m.w.N.
57
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
58