Urteil des VG Aachen vom 22.06.2004

VG Aachen: körperliche unversehrtheit, aufschiebende wirkung, verfügung, wohnung, polizei, gefahr, strafanzeige, leib, vollziehung, wahrscheinlichkeit

Verwaltungsgericht Aachen, 6 L 555/04
Datum:
22.06.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 L 555/04
Tenor:
1. Frau J. E. , I.-straße 20 in M., wird zum Verfahren beigeladen.
2. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche
Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,-- EUR festgesetzt.
G r ü n d e:
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1. Die Lebensgefährtin des Antragstellers, Frau J. E. , wird gemäß § 65 Abs. 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) beigeladen, weil sie als Person, zu deren Schutz
die polizeiliche Anordnung über die Wohnungsverweisung und das Rückkehrverbot
vom 18. Juni 2004 ergangen ist, durch die Entscheidung im vorliegenden Verfahren in
ihren rechtlichen Interessen berührt wird. Der Sach- und Streitstand ist der
Beigeladenen bekannt. Ihr wurde durch den Berichterstatter der Kammer Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben.
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2. Der -sinngemäß gestellte- Antrag,
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die aufschiebende Wirkung des -noch zu erhebenden- Widerspruchs des Antragstellers
gegen die polizeiliche Anordnung über die Wohnungsverweisung und das
Rückkehrverbot vom 18. Juni 2004 anzuordnen,
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hat keinen Erfolg.
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Bei der im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen
Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung
des angefochtenen Verwaltungsakts einerseits und dem Individualinteresse des
betroffenen Antragstellers, vorläufig von den Auswirkungen der sofortigen Vollziehung
der Verfügung verschont zu bleiben, überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse.
Denn die angefochtene Verfügung des Antragsgegners, die gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1
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Nr. 2 VwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, erweist sich bei summarischer
Betrachtung als rechtmäßig.
Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 a des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-
Westfalen (PolG NRW). Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW kann die Polizei eine
Person zur Abwehr einer von ihr ausgehenden gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit einer anderen Person aus einer Wohnung, in der die gefährdete Person
wohnt, sowie aus deren unmittelbaren Umgebung verweisen und ihr die Rückkehr in
diesen Bereich untersagen. Gemäß § 34 a Abs. 5 Satz 1 PolG NRW enden
Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot regelmäßig mit Ablauf des zehnten Tages
nach ihrer Anordnung, soweit nicht die Polizei im Einzelfall ausnahmsweise eine
kürzere Geltungsdauer festlegt.
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Diesen Anforderungen genügt die vom Antragsgegner am 18. Juni 2004 zunächst
mündlich erlassene und später schriftlich bestätigte Verfügung, mit der dem
Antragsteller die Rückkehr in die Wohnung bis zum 28. Juni 2004 untersagt wurde.
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Ausweislich der Begründung der angefochtenen Verfügung, des Inhalts der
Strafanzeige sowie der "Dokumentation über den polizeilichen Einsatz bei häuslicher
Gewalt" ist es in der Nacht vom 17./18. Juni 2004 in der vom Antragsteller gemeinsam
mit seiner Lebensgefährtin, der Beigeladenen, und deren beiden minderjährigen
Kindern bewohnten Wohnung zu einem Polizeieinsatz gekommen. Anlass für den
Polizeieinsatz war der Hilferuf der Beigeladenen, die der Polizei mitteilte, der
Antragsteller habe sie im Verlauf eines Streitgespräches an beiden Schultern gepackt
und sie gegen den Bettpfosten geschleudert. In Anspielung auf ihre russische Herkunft
habe er ihr mit den Worten "Dich kill ich, du russische Sau" gedroht, dann beide Hände
von vorne um ihren Hals gelegt und mit voller Kraft zugedrückt. Als ihr bereits schwarz
vor Augen und das Atmen nicht mehr möglich gewesen sei, habe der Antragsteller,
vermutlich wegen der heftigen Gegenwehr der Beigeladenen, von dieser abgelassen.
Nach den Feststellungen der am Einsatz beteiligten Polizeibeamten wies der Hals der
Beigeladenen deutliche Rötungen auf. Auch habe sie über erhebliche Schmerzen im
Nackenbereich geklagt. Ein bei dem Antragsteller freiwillig durchgeführter
Atemalkoholtest ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,83 mg/L. Nach den Angaben
der Beigeladenen sei der Antragsteller, den sie bei der Aufnahme der Strafanzeige als
"alkoholkrank" bezeichnet hat, in der Vergangenheit bereits mehrfach gewalttätig
geworden. Im Juni 2003 habe sie eine gegen den Antragsteller zunächst erstattete
Strafanzeige wegen "Gefährlicher Körperverletzung" auf dessen Drängen hin wieder
zurückgezogen.
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Der Antragsteller und die Beigeladene räumen diesen Sachverhalt im Wesentlichen als
unstreitig ein. Der Antragsteller führt sinngemäß aus, er habe kein Alkoholproblem, bei
dem Vorfall habe es sich vielmehr um einen einmaligen "Ausrutscher" gehandelt.
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Vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhaltes ist die im Zeitpunkt des
Einschreitens der Polizeibeamten getroffene Einschätzung, es bestehe eine
hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass es bei einem Verbleib des Antragstellers in
der gemeinsamen Wohnung bzw. bei einer kurzfristigen Rückkehr zu Gewalttätigkeiten
kommen werde, nicht zu beanstanden. Die Polizeibeamten sind angesichts dessen,
dass durch den Vorfall, der sich nach dem Inhalt der Akten gerade nicht als Einzelfall
darstellt, entgegen der Einschätzung des Antragstellers ein bei diesem aktuell
bestehendes und nicht bewältigtes Alkohol- und Gewaltproblem belegt worden ist, zu
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Recht von einer gegenwärtigen Gefährdungssituation für die Beigeladene
ausgegangen. Die zur Abwehr dieser Gefahr getroffene Entscheidung bleibt auch im
Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung. Ermessensfehler sind nicht zu erkennen.
Auch der Umstand, dass die Beigeladene nunmehr vorträgt, sie habe sich mit dem
Antragsteller wieder versöhnt und sei ausdrücklich, gerade auch wegen ihrer Kinder, die
den Antragsteller vermissten, mit dessen Rückkehr in die gemeinsame Wohnung
einverstanden, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Denn entscheidend für die
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung ist nicht die eigene -nachträgliche-
Einschätzung der Gefahrenlage durch das Opfer, sondern vielmehr die durch die Polizei
vorgenommene Gefährdungsprognose im Zeitpunkt ihres Einschreitens,
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vgl. hierzu auch: VG Aachen, u.a. Beschlüsse vom 20. August 2003 -6 L 979/03-, vom
26. Mai 2003 -6 L 589/03- und vom 4. März 2003 -6 L 237/03-; kritisch hierzu: Collin, Das
polizeiliche Betretungsverbot bei häuslicher Gewalt - Anwendungsprobleme einer
neuen Standardermächtigung, DVBl. 2003, 1499 ff.
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Diese ist aber -gerade unter Berücksichtigung der Einlassung der Beigeladenen
anlässlich ihrer Strafanzeige vom 18. Juni 2004- nicht zu beanstanden. Von Bedeutung
ist in diesem Zusammenhang zudem, dass es bereits zum wiederholten Mal zu
Gewalttätigkeiten gegenüber der Beigeladenen gekommen ist und der fragliche Vorfall
zudem beim Antragsteller ein Gewaltpotenzial offenbart hat, das das bei gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen Lebenspartnern nach der Erfahrung der Kammer im
"Regelfall" zu konstatierende Gewaltpotenzial deutlich übersteigt. Nach dem jetzigen
Sach- und Streitstand spricht einiges dafür, dass infolge übermäßigen Alkoholkonsums
die Steuerungsfähigkeit des Antragstellers erheblich eingeschränkt sowie dessen
Hemmschwelle herabgesetzt wird, so dass die hinreichende Wahrscheinlichkeit
besteht, dass sich dessen bereits gezeigte Aggressivität und Gewaltbereitschaft in
einem ähnlichen Zustand jederzeit wiederholen und gerade auch gegen die
Beigeladene selbst richten kann. Das Entstehen einer solchen Gefährdungssituation
kann angesichts der betroffenen Rechtsgüter von Leib und Leben der Beigeladenen
nicht erst abgewartet werden.
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Eine derart erhebliche Gefährdungssituation ist von der Rechtsordnung regelmäßig
auch nicht hinzunehmen. Insbesondere steht es nicht zur Disposition des Opfers, ob der
Staat in einem solchen Fall seinem aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) folgenden
Schutzauftrag (für Leben und körperliche Unversehrtheit) nachkommt. Vorliegend ist die
Beigeladene zwar ihrerseits Inhaberin des aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Grundrechts
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das grundsätzlich auch beinhaltet, dass der
Einzelne sich -in gewissem Rahmen- selbst gefährden darf. Drohen dem Einzelnen -wie
hier der Beigeladenen- aber erhebliche Gefahren für Leib und Leben, so wird dem
staatlichen Schutzauftrag für diese Rechtsgüter in aller Regel der Vorrang einzuräumen
sein,
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vgl. VG Aachen, Beschluss vom 17. Februar 2004 -6 L 145/04, NJW 2004, 1888 (noch
offengelassen); VG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Oktober 2002 -18 L 4163/02-, (juris);
VG Köln, Beschluss vom 12. März 2002 -20 L 571/02-, (juris); vgl. hierzu weiter: Collin,
a.a.O., S. 1503 f., mit weiteren Nachweisen.
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Eine unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der angefochtenen
Polizeiverfügung vorzunehmende Abwägung der Folgen, die sich im Falle der Stattgabe
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oder der Ablehnung des Antrages ergäben, fällt vorliegend ebenfalls zu Lasten des
Antragstellers aus. In diese Abwägung sind auf der einen Seite die Folgen einzustellen,
die sich für den Antragsteller aus einer Ablehnung des Antrages ergäben. Er wäre
vorübergehend daran gehindert, die Wohnung, die seinen Lebensmittelpunkt bildet und
in der sich seine persönliche Habe befindet, als Unterkunft zu nutzen. Hierbei handelt es
sich um erhebliche Beeinträchtigungen seiner persönlichen Sphäre. Die zehntägige
Frist ist jedoch so bemessen, dass kaum von einer erheblichen Gefahr ausgegangen
werden muss, der Antragsteller werde nachhaltig und dauerhaft aus seinem sozialen
Umfeld gerissen. Insoweit ist zudem zu berücksichtigen, dass gemäß § 34 a Abs. 2
PolG NRW der Person, die die Gefahr verursacht hat und gegen die sich die
polizeilichen Maßnahmen nach § 34 a Abs. 1 PolG NRW richten, Gelegenheit zu geben
ist, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfes mitzunehmen bzw. in
Begleitung eines Polizeibeamten aus der Wohnung zu holen. Hierauf ist der
Antragsteller in der angefochtenen Verfügung ausdrücklich hingewiesen worden. Im
Falle der Stattgabe des Antrages und einer Realisierung der von der Polizei
angenommenen Gefahr ergäben sich für die Beigeladene unter Umständen erhebliche
Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit. Diese Folgen wiegen gegenüber
den sich für den Antragsteller aus einer Ablehnung seines Antrages ergebenden
Konsequenzen weitaus schwerer. Angesichts dessen ist das öffentliche Interesse an
einer sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung höher zu bewerten. Das
Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs muss
daher zurücktreten,
vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2002 -1 BvR 300/02-, NJW 2002, 2225
ff., vgl. zur Folgenabwägung weiter: OVG NRW, Beschluss vom 15. Februar 2002 -5 B
278/02-.
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Die gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 8 Satz 1 des Ausführungsgesetzes zur
VwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung ist schließlich
ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden. Sie steht im Einklang mit den gesetzlichen
Bestimmungen der §§ 50, 51, 53 und 56 PolG NRW.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Da die
Beigeladene sich selbst mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat,
entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre eigenen außergerichtlichen Kosten, sollten
solche entstanden sein, selbst trägt.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 des
Gerichtskostengesetzes (GKG). Sie berücksichtigt zum einen, dass vorliegend wegen
der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache der ungekürzte Auffangstreitwert des § 13
Abs. 1 Satz 2 GKG anzusetzen ist,
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vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Februar 2002 -5 B 278/02- ,
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und zum anderen, dass die mit der Grundverfügung verbundene Zwangsgeldandrohung
den Streitwert nicht erhöht.
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