Urteil des VerfGH Rheinland-Pfalz vom 19.12.2006

VerfGH Rheinland-Pfalz: anspruch auf rechtliches gehör, wiedereinsetzung in den vorigen stand, verfassungsbeschwerde, rechtssicherheit, rechtsstaatsprinzip, willkürverbot, rüge, wechsel, beratung

VerfGH
Rheinland-Pfalz
19.12.2006
VGH B 7/06
Verfassungsrecht
Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz
Beschluss
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
betreffend die Verfassungsbeschwerde
der Frau …,
Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Wasmuth und Kollegen, Saynstraße 5, 57610 Altenkirchen,
gegen a) das Urteil des Amtsgerichts Altenkirchen vom 17. Oktober 2005 ‑ 70 C 232/05 ‑
b) den Beschluss des Amtsgerichts Altenkirchen vom 1. Februar 2006 ‑ 70 C 232/05 ‑
hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 19. Dezember
2006, an der teilgenommen haben
Präsident des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Meyer
Präsident des Oberlandesgerichts Dury
Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Steppling
Direktorin des Amtsgerichts Terner
Universitätsprofessor Dr. Dr. Merten
Kreisverwaltungsdirektorin Kleinmann
Präsidentin des Verwaltungsgerichts Dr. Freimund-Holler
Landrätin Röhl
Richterin am Sozialgericht Laux
beschlossen:
Der Beschluss des Amtsgerichts Altenkirchen vom 1. Februar 2006 ‑ 70 C 232/05 ‑ verletzt die
Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Der Beschluss wird
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Altenkirchen zurück-
verwiesen.
Die weitergehende Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführerin ist die Hälfte der durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren verursachten
notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Urteil und die Zurückweisung einer
hiergegen erhobenen Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs.
1. Mit Urteil vom 17. Oktober 2005 verurteilte das Amtsgericht die Beschwerdeführerin – die Beklagte des
Ausgangsverfahrens – im schriftlichen Verfahren zur Zahlung des von der Klägerin geforderten Betrages.
Auf die hiergegen gemäß § 321a ZPO erhobene Gehörsrüge führte das Amtsgericht mit Beschluss vom
30. November 2005 das Verfahren fort. Zur Begründung gab das Gericht an, es hätte die Beschwerde-
führerin darauf hinweisen müssen, dass eine von ihr aufgestellte Behauptung nicht hinreichend
substantiiert und verständlich sei. Zugleich bestimmte das Amtsgericht eine Frist zur Einreichung etwaiger
weiterer Schriftsätze sowie den Termin zur Verkündung einer Entscheidung. Daraufhin vertieften sowohl
die Klägerin als auch die Beschwerdeführerin ihre Ausführungen zur Klageforderung.
Mit Schreiben vom 20. Januar 2006 wies das Amtsgericht darauf hin, dass nach Auffassung des nach
einem Wechsel des Dezernats nunmehr zuständigen Richters die von der Beschwerdeführerin erhobene
Gehörsrüge unbegründet sei. Aus dem angegriffenen Urteil gehe hervor, dass das Gericht den
Sachvortrag der Beschwerdeführerin vollständig berücksichtigt habe, wenn auch möglicherweise mit
falscher Würdigung. Letzteres stelle jedoch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, so
dass die Rüge zurückzuweisen sei. Dem stehe auch nicht der Beschluss vom 30. November 2005
entgegen, da dieser keine Bindungswirkung entfalte. Mit ihm sei lediglich die Rechtsansicht des damals
zuständigen Richters dargelegt worden.
Durch Beschluss vom 1. Februar 2006 wies das Amtsgericht die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs
zurück.
2. Mit der gegen diesen Beschluss und das Urteil des Amtsgerichts erhobenen Verfassungsbeschwerde
rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 2 der
Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –. Zur Begründung führt sie aus: Es verletze ihren Anspruch auf
rechtliches Gehör, dass das Amtsgericht einen Teil ihres Vortrags als unsubstantiiert eingestuft habe,
ohne einen entsprechenden Hinweis zu geben. Ferner sei das Gericht auch an seinen auf die Gehörsrüge
nach § 321a ZPO ergangenen Beschluss über die Fortsetzung des Verfahrens gebunden. Dieser sei nicht
von Amts wegen, sondern auf ihren Antrag ergangen und könne daher auch nur auf Antrag geändert
werden. Außerdem habe der Beschluss verfahrensgestaltende Wirkung, die nicht rückgängig gemacht
werden könne. Das Gericht habe im Übrigen die Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches
Gehör verkannt. In seinem Vorgehen liege auch ein Verstoß gegen das Willkürverbot.
3. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Eine
Verletzung des Grundrechts aus Artikel 6 Abs. 2 LV sei nicht gegeben. Anhaltspunkte für einen Verstoß
gegen das Willkürverbot des Artikel 17 Abs. 2 LV seien ebenfalls nicht ersichtlich.
Das Ministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar 2006 ist zulässig.
Die von der Beschwerdeführerin erhobenen Rügen sind statthaft. Dies gilt sowohl für die ausdrücklich
gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 6 Abs. 2 LV) und des in Art. 17 Abs. 2 LV
enthaltenen Willkürverbots als auch für die der Sache nach gerügte Verletzung des aus dem
Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Der Verfassungsgerichtshof
Rheinland-Pfalz ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof
– VerfGHG – befugt, die Durchführung des bundesprozessrechtlich geregelten Verfahrens der Gerichte an
den Grundrechten der Landesverfassung zu messen, soweit diese den gleichen Inhalt wie entsprechende
Rechte des Grundgesetzes haben (vgl. VerfGH RP, AS 29, 89 [91 ff.]). Der in der Landesverfassung
garantierte Anspruch auf rechtliches Gehör ist inhaltsgleich mit der Gewährung in Art. 103 Abs. 1 GG. Das
sich aus Art. 77 Abs. 2 LV ergebende Rechtsstaatsprinzip findet seine Entsprechung in Art. 20 Abs. 3 GG.
Darüber hinaus ist der Verfassungsgerichtshof auch zur Prüfung befugt, ob die angegriffene Entscheidung
gegen das Willkürverbot verstößt (vgl. VerfGH RP, AS 29, 215 und Beschluss vom 11. Februar 2004 –
VGH B 23/03 –).
Der Rechtsweg ist insoweit erschöpft (vgl. § 44 Abs. 3 VerfGHG); der Beschluss des Amtsgerichts ist
unanfechtbar (vgl. § 321 a Abs. 4 Satz 4 ZPO). Die Verfassungsbeschwerdefrist des § 46 Abs. 1 VerfGHG
ist gewahrt.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar 2006 ist auch
begründet.
Das Amtsgericht hat den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 77 Abs. 2 LV) ergebenden Anspruch auf
ein rechtsstaatliches Verfahren verletzt.
a) Neben dem Gebot materieller Gerechtigkeit umfasst das Rechtsstaatsprinzip als wesentlichen
Bestandteil auch die Gewährleistung der Rechtssicherheit. Um der Rechtssicherheit willen kann es
geboten sein, einer durch gerichtliche Entscheidung geschaffenen Verfahrenslage endgültige
Verbindlichkeit beizumessen, auch wenn sie inhaltlich möglicherweise in Frage zu stellen ist.
Dem Gebot der Rechtssicherheit entspricht es, dass die Entscheidung eines Gerichts, der Gehörsrüge
einer Partei gemäß § 321a Abs. 5 Satz 1 ZPO abzuhelfen und das Verfahren fortzuführen, für die Instanz
bindend ist.
Im Gegensatz zu frei abänderbaren prozessleitenden Anordnungen wird mit der einer Gehörsrüge
abhelfenden Entscheidung das Verfahren in einen anderen Stand überführt: Nach § 321a Abs. 5 Satz 2
ZPO wird das Verfahren in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen
Verhandlung befand. Im schriftlichen Verfahren tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen
Verhandlung der Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können (§ 321a Abs. 5 Satz 4
ZPO). Nur durch die Selbstbindung des Gerichts an seine einmal getroffene positive Entscheidung wird
gewährleistet, dass das spätere Verfahren und insbesondere eine möglicherweise kostenaufwendige
Sachprüfung auf einer prozessualen Grundlage durchgeführt wird, deren Bestand nicht mehr in Frage
steht. Die Parteien haben daher aus Gründen der Rechtssicherheit einen Anspruch darauf, dass die
aufgrund einer erfolgreichen Gehörsrüge entstandene prozessrechtliche Lage bestehen bleibt und vom
Gericht nicht abgeändert werden kann.
Insofern kann nach einer positiven Entscheidung über eine Gehörsrüge gemäß § 321a ZPO nichts
anderes gelten als für die Entscheidung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Mit der
Gewährung von Wiedereinsetzung wird ebenfalls eine neue prozessrechtliche Lage geschaffen, deren
Bestand für das weitere Verfahren aus Gründen der Rechtssicherheit nicht mehr in Frage gestellt werden
darf. Schon nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher die Wiedereinsetzungsgewährung für
das Gericht selbst bindend (vgl. BGH, NJW 1954, 880; FamRZ 1993, 1191; NJW 1995, 2497; BAG,
NJW 1972, 1684).
b) Diesen sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen wird das
Amtsgericht in seinem Beschluss vom 1. Februar 2006 nicht gerecht. Mit seiner Abweisung der
Gehörsrüge verkennt es die aus Gründen der Rechtssicherheit gebotene Bindung an seine zunächst
getroffene Entscheidung, der Gehörsrüge der Beschwerdeführerin nach § 321a ZPO abzuhelfen und das
Verfahren fortzuführen. Der Wechsel in der Person des zuständigen Richters ist für die Frage der Bindung
des Gerichts ohne Belang. Unabhängig von der weiteren Frage, ob der Beschluss des Amtsgerichts
zusätzlich auch das Willkürverbot oder den Anspruch auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführerin
verletzt, ist der Verfassungsbeschwerde gegen den angegriffenen Beschluss mit dem Ausspruch der sich
aus § 49 Abs. 2 und 3 VerfGHG ergebenden Rechtsfolgen stattzugeben.
3. Mit dem Erfolg der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar
2006 ist der Rechtsweg gegen dessen Urteil vom 17. Oktober 2005 wieder eröffnet. Die
Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil ist daher mangels Erschöpfung des Rechtsweges derzeit
unzulässig (vgl. § 44 Abs. 3 Satz 1 VerfGHG).
4. Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist kostenfrei (§ 21 Abs. 1 VerfGHG). Der Ausspruch
über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 21a Abs. 1 Satz 1 VerfGHG.
gez. Prof. Dr. Meyer gez. Dury gez. Prof. Dr. Dr. Merten