Urteil des VerfGH Berlin vom 02.04.2017

VerfGH Berlin: wirtschaftswachstum, abstrakte normenkontrolle, absicht, europäische zentralbank, privatwirtschaftliche tätigkeit, gesetzgebungsverfahren, deckung, verschuldung, arbeitslosigkeit

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
125/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 20 Abs 1 GG, Art 109 Abs 2
GG, Art 87 Abs 2 S 2 Halbs 1
Verf BE, Art 87 Abs 2 S 2 Halbs
2 Verf BE, Art 89 Verf BE
Diese Entscheidung hat
Gesetzeskraft.
(VerfGH Berlin: Abstrakte Normenkontrolle:
Verfassungswidrigkeit des Berliner Haushaltsgesetzes
2002/2003 wegen Fehlens der
Darlegungserfordernisse für Vorliegen einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bzw das Vorliegen einer
extremen Haushaltslage - Verstoß gegen das
Kreditbegrenzungsverbot - Darlegungslast des Gesetzgebers
für Ausnahmebefugnis zur erhöhten Kreditaufnahme nach Verf
BE Art 87 Abs 2 S 2 Halbs 2)
Tenor
§ 1, § 3 Absätze 1 bis 6, § 6 und § 10 des Gesetzes über die Feststellung des
Haushaltsplans von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 vom 19. Juli 2002 (GVBl.
S. 213) in der Fassung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2002/2003 vom 16. April 2003
(GVBl. S. 158) sind mit der Verfassung von Berlin unvereinbar und ab Verkündung dieses
Urteils nichtig.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Land Berlin hat den Antragstellern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A. Die 63 Antragsteller sind Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin, das in der
15. Wahlperiode 141 Abgeordnete umfasst. Sie machen im Verfahren der abstrakten
Normenkontrolle geltend, dass das Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans von
Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 vom 19. Juli 2002 (Haushaltsgesetz
2002/2003 – HG 02/03 –, GVBl. S. 213) mit der Verfassung von Berlin unvereinbar sei.
Das Haushaltsgesetz 2002/2003 verstoße gegen Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB, weil
es in seinem § 3 Abs. 1 Satz 1 zur Aufnahme von Krediten ermächtige, deren Höhe die
vom Haushaltsgesetz 2002/2003 angesetzten Investitionen in evidentem Maße
überschreite, ohne dass eine Ausnahme nach Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB
gegeben sei.
I. § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 lautet wie folgt:
„Die Senatsverwaltung für Finanzen wird ermächtigt, zur Deckung von Ausgaben
1. des Haushaltsplans 2002 bis zur Höhe von 6 573 000 000 Euro
2. des Haushaltsplans 2003 bis zur Höhe von 3 569 000 000 Euro
Kredite am Kreditmarkt und von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten und
Stiftungen sowie Sondervermögen nach § 14a des Bundesbesoldungsgesetzes in der
Fassung der Bekanntmachung vom 3. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3434), das zuletzt
durch Artikel 2 des Gesetzes vom 7. Mai 2002 (BGBl. I S. 1529) geändert worden ist,
aufzunehmen.“
Durch § 2 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum
Haushaltsplan von Berlin für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 vom 16. April 2003
(Nachtragshaushaltsgesetz 2002/2003 – NHG 2002/2003, GVBl. S. 158) wurde für das
Haushaltsjahr 2003 die Kreditermächtigung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HG 02/03 auf
einen Betrag von 4 289 725 000 € erhöht.
Demgegenüber sind in diesem Haushaltsplan Ausgaben für Investitionen in Höhe von 2
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Demgegenüber sind in diesem Haushaltsplan Ausgaben für Investitionen in Höhe von 2
015 875 000 € für das Haushaltsjahr 2002 und in Höhe von 2 204 957 000 € für das
Haushaltsjahr 2003 veranschlagt.
Der Gesetzentwurf zu § 3 HG 02/03 enthält auszugsweise folgende Begründung (Abghs-
Drs 15/320 S. 8):
“[...] Die vorgesehenen Einnahmen aus Krediten liegen über den veranschlagten
Investitionen. [...]
Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Berlin ist weiterhin ernsthaft und
nachhaltig gestört. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts liegen seit 1993
deutlich unter dem Durchschnitt des Bundesgebiets. Berlin bildet zeitweilig das
Schlusslicht der Länderentwicklung. Die Wirtschaftsentwicklung in Berlin hat sich von der
im übrigen Bundesgebiet abgekoppelt. Während positive Entwicklungen
unterproportional mitvollzogen werden, schlägt die rezessive Entwicklung
überproportional durch. Die besondere Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts zeigt sich in der gegenüber dem Bundesdurchschnitt gravierend höheren
Arbeitslosenquote Berlins.
Hinsichtlich der Höhe der Neuverschuldung ist zu berücksichtigen, dass das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Deutschland weiterhin nachhaltig gestört
ist. Neben dem konjunkturellen Einbruch in den USA, der weitaus stärker ausfiel als
erwartet, und der Abschwächung des Welthandels haben insbesondere auch die
Terroranschläge vom 11. September 2001 die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland
nachhaltig getroffen.
Hierdurch und durch den erfolgten Steuerreformschritt ist es bundesweit zu erheblichen
Einbrüchen beim Steueraufkommen gekommen, die weder in der Steuerschätzung vom
Mai 2001 noch in diesem Ausmaß in der Steuerschätzung vom November 2001
vorhergesehen wurden. Im Jahre 2001 gingen die Einnahmen Berlins aus Steuern und
Länderfinanzausgleich (einschließlich der Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen)
gegenüber dem Vorjahr um rd. 680 Millionen Euro zurück.
Eine Trendwende in der konjunkturellen Entwicklung deutet sich an; nach Einschätzung
aller Wirtschaftsforschungsinstitute ist im Jahresverlauf 2002 mit einer Besserung zu
rechnen. Die Auswirkungen insbesondere auf Berlin bleiben allerdings abzuwarten. Für
das Jahr 2002 mussten deshalb die Steuereinnahmen gegenüber der zurückliegenden
Finanzplanung 2000 bis 2004, auf welcher der bisherige finanzpolitische Kurs aufbaute,
um 915 Millionen Euro zurückgenommen werden; unter Einschluss der
Ausgleichsleistungen im Länderfinanzausgleich einschließlich der Fehlbetrags-
Bundesergänzungszuweisungen verbleibt deshalb eine Lücke von 850 Millionen Euro. Im
Jahre 2003 steigt diese Lücke auf gut 1,0 Milliarden Euro an. Diese Ausfälle können nicht
auf andere Weise ausgeglichen werden.
Hinzu treten die Zinsbelastungen aus der hohen Neuverschuldung des Jahres 2001 im
Zusammenhang mit der Krise um die Bankgesellschaft Berlin; ab dem Jahre 2003
kommen weitere Belastungen des Haushalts aus der Risikoabschirmung der
Bankgesellschaft hinzu.
Somit ist die nach § 18 Absatz 1 Satz 2 LHO darzulegende ernsthafte und nachhaltige
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gegeben. Die erhöhte
Deckungskreditaufnahme trägt dazu bei, diese Störung abzuwehren. Mit Rücksicht auf
das bereits ernsthaft und nachhaltig gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht
Berlins verbot sich gerade in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage eine weitere
Ausgabenkürzung. Die Finanzpolitik Berlins ist ungeachtet dessen darauf ausgerichtet,
die Kreditaufnahme abzusenken. [...]”
Eine in wesentlichen Passagen wortgleiche Begründung war bereits für den Entwurf über
das Vorschaltgesetz zum Haushaltsgesetz 2002/2003 – VG-HG 2002/2003 – zu dessen
in § 2 enthaltener Kreditermächtigung erfolgt (Abghs-Drs 15/309 S. 2).
Das Abgeordnetenhaus nahm das Haushaltsgesetz 2002/2003 in seiner Sitzung am 28.
Juni 2002 mit 75 Ja-Stimmen gegen 57 Nein-Stimmen ohne Enthaltungen an (PlPr 15/15
S. 942 D).
II. Die Antragsteller halten das Haushaltsgesetz 2002/2003 für unvereinbar mit der
Verfassung von Berlin.
§ 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 verstoße gegen Art. 87 Abs. 2 Satz 2 VvB. Weder sei zum
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§ 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 verstoße gegen Art. 87 Abs. 2 Satz 2 VvB. Weder sei zum
Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht in Berlin gestört gewesen, noch hätte die erhöhte Kreditermächtigung im
Haushaltsgesetz 2002/2003 der Abwehr einer solchen Störung gedient. Vielmehr hätten
die übermäßigen Krediteinnahmen nur dazu dienen sollen, die bewilligten Ausgaben zu
decken. Eine solche reine Bedarfsdeckung sei aber von Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2
VvB nicht umfasst. Infolge der Verfassungswidrigkeit der erhöhten Kreditaufnahme
fehlten in dieser Höhe Einnahmen im Landeshaushalt, so dass im Haushaltsgesetz
2002/2003 bewilligte Ausgaben nicht gedeckt seien. Dies führe zu einer Verletzung des
Grundsatzes der Ausgeglichenheit, die sich auf den gesamten Haushaltsplan erstrecke
und die Verfassungswidrigkeit des gesamten Haushaltsgesetzes 2002/2003 zur Folge
habe.
Im Einzelnen führen die Antragsteller aus:
Der Berliner Haushaltsgesetzgeber sei durch Art. 109 Abs. 2 GG unmittelbar verpflichtet,
dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht bei der Aufstellung des Haushaltsplans
Rechnung zu tragen. Deshalb habe sich der Berliner Verfassungsgeber bei der
Ausgestaltung des 5. Abschnitts “Finanzwesen” der Verfassung von Berlin an den
entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes orientiert. Die Voraussetzungen, unter
denen nach Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB ausnahmsweise eine erhöhte
Kreditaufnahme zulässig sei, seien zum wortgleichen Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG vom
Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 79, 311) konkretisiert worden.
Eine ernsthafte und nachhaltige Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
lasse sich für das Frühjahr 2002 in Berlin nicht feststellen. Der Begriff des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts werde gekennzeichnet durch die Stabilität des
Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht
bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum („magisches Viereck“). Die
desolate Haushaltssituation des Landes könne keine derartige Störung darstellen. Die
Höhe der Staatsverschuldung sei kein Kriterium für die Bestimmung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Anderenfalls würde eine gesamtwirtschaftlich
gefährliche Überschuldung zu weiteren Schulden führen.
Soweit der Berliner Haushaltsgesetzgeber in der Begründung des Haushaltsgesetzes
2002/2003 das Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
behaupte, überschreite er in unzulässiger Weise seinen Beurteilungs- und
Einschätzungsspielraum. Die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage durch den
Haushaltsgesetzgeber stehe in deutlichem Gegensatz zur Auffassung der gesetzlich
verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung.
Nach Einschätzung des Sachverständigenrats sei im Jahr 2002 trotz weltweiter
Verschlechterung der konjunkturellen Lage und einer nur geringfügigen Zunahme des
realen deutschen Bruttoinlandsprodukts nicht mit einem Einbruch und dem Erfordernis
aktiver konjunkturstützender Maßnahmen, sondern mit einer positiven
Konjunkturentwicklung zu rechnen gewesen. Auch nach der Frühjahrsdiagnose der
wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sei für 2002 eine erhebliche
Wachstumsbeschleunigung zu erwarten gewesen. Ferner habe der Sachverständigenrat
– wie auch der Finanzplanungsrat – einen strikten Konsolidierungskurs der öffentlichen
Haushalte angemahnt, zumal der sehr hohe Finanzierungssaldo überwiegend auf einen
Anstieg des strukturellen Defizits zurückzuführen und nur zu einem ganz geringen Teil
konjunkturell bedingt sei.
Die Beurteilung des Haushaltsgesetzgebers, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sei
in Berlin weiterhin ernsthaft und nachhaltig gestört, erscheine darüber hinaus willkürlich,
weil sie der Einschätzung des Finanzsenators widerspreche. Während nämlich dessen
Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 - 2006 vom 14. Mai 2002 vor dem
Hintergrund der damals erwarteten weltwirtschaftlichen Erholung allgemein mit einer
Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit gerechnet habe, habe der Berliner Gesetzgeber
hohe Kreditermächtigungen bereitgestellt, um angeblich eine Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beseitigen.
Einem einzelnen Bundesland sei es zudem verwehrt, eigenständig und unkoordiniert auf
vermeintliche Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu reagieren.
Schon die Befugnis, sich über die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts ein eigenständiges Urteil zu bilden, könne bezweifelt werden. Denn nach
den Vorschriften des Haushaltsgrundsätzegesetzes und des Gesetzes zur Förderung der
Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, welche die Haushaltsautonomie der Länder
einschränkten, oblägen die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Situation und die
Empfehlung der konjunkturpolitischen Maßnahmen dem Konjunkturrat und dem
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Empfehlung der konjunkturpolitischen Maßnahmen dem Konjunkturrat und dem
Finanzplanungsrat. Art. 109 Abs. 2 GG habe mit dem gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewicht eine einheitliche, bundesweit zu bestimmende Bezugsgröße vor Augen
und verpflichte Bund und Länder auf ein und dasselbe Ziel. Das „magische Viereck“
betreffe nicht die wirtschaftliche Lage eines Landes, wie das Teilziel des
außenwirtschaftlichen Gleichgewichts zeige. Ein Land müsse daher von
Kreditüberschreitungen Abstand nehmen, wenn sie zwar im Hinblick auf das landesweite
wirtschaftliche Gleichgewicht geboten erschienen, vom bundesweiten
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht aber nicht indiziert und diesem vielmehr von
Nachteil wären. Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB werde dadurch nicht in die
Bedeutungslosigkeit entlassen. Die Vorschrift aktualisiere sich immer dann, wenn die auf
der Grundlage des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums
beschlossenen konjunkturpolitischen Maßnahmen von den Ländern eine Verschuldung
verlangten, die diesen ohne eine Öffnungsklausel wie in Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2
VvB landesverfassungsrechtlich verwehrt wäre.
Außerdem fehle es an der finalen Ausrichtung der übermäßigen Verschuldung auf die
Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die erhöhten
Krediteinnahmen im Haushaltsgesetz 2002/2003 dienten allein der Deckung der
vorgesehenen Ausgaben. Dies belege der Bericht über die Finanzplanung von Berlin
2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002, wonach die hohe Neuverschuldung der kommenden
Jahre vor allem die Notlage des Landeshaushalts widerspiegele. Die Deckung von
Ausgabenbedürfnissen des Staates als solche diene nicht der Abwehr einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern der Ermöglichung staatlicher
Aufgabenerfüllung.
Jedenfalls seien die erhöhten Kreditbewilligungen des Haushaltsgesetzes 2002/2003 in
formeller Hinsicht unvereinbar mit der Verfassung von Berlin, da der Gesetzgeber die
Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB nicht hinreichend dargelegt
habe.
Die Begründung zum Haushaltsgesetz, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in
Berlin gestört sein solle, gehe über eine Behauptung nicht hinaus und stelle keine
fundierte Diagnose der gesamtwirtschaftlichen Lage dar. Zudem argumentiere die
Gesetzesbegründung in erster Linie relativ, indem sie die wirtschaftliche Situation in
Berlin zu der wirtschaftlichen Entwicklung im übrigen Bundesgebiet in Bezug setze.
Hierdurch werde aber keine Aussage zur Frage der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts in Berlin getroffen. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht habe nichts
mit Vorstellungen über die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu tun.
Auch fehlten Darlegungen zur Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme die Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Dass der überhöhten
Verschuldung keinerlei konjunkturpolitische Überlegungen zugrunde lägen, sondern ihr
alleiniger Zweck die Deckung des Landeshaushalts sei, ließen auch Redebeiträge des
Finanzsenators und von Abgeordneten während des Gesetzgebungsverfahrens sowie
der Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002
erkennen.
Die Gesetzesbegründung lege ferner nicht die Eignung der Kreditüberschreitung zur
Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dar, sondern
formuliere nur plakativ, dass die erhöhte Kreditaufnahme zur Störungsabwehr beitrage,
weil mit Rücksicht auf das bereits ernsthaft und nachhaltig gestörte
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Berlin sich gerade in der gegenwärtigen
konjunkturellen Lage eine weitere Ausgabenkürzung verboten habe. Die weitere
Gesetzesbegründung, dass die Finanzpolitik Berlins darauf ausgerichtet sei, die
Kreditaufnahme abzusenken, lasse zudem erkennen, dass es dem Senat langfristig um
eine strukturelle Bereinigung des Landeshaushalts und kurzfristig um die Deckung von
Finanzierungslücken, nicht aber um konjunkturpolitisch motivierte zusätzliche
Ausgabenfinanzierungen gehe. Wenn neue Schulden gemacht würden, um alte Schulden
bedienen zu können, liege in dieser Schuldenspirale die Gefahr einer das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gefährdenden prozyklischen Finanzpolitik. Im
Übrigen werde die Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot in Berlin schon jahrelang in
Anspruch genommen; die Ausnahme dürfe aber nicht zum Dauerzustand werden.
Weitere - ungeschriebene - Ausnahmen vom Kreditbegrenzungsgebot des Art. 87 Abs. 2
Satz 2 Halbs. 2 VvB seien angesichts dessen eindeutigen Wortlauts verfassungsrechtlich
nicht zulässig. Deswegen hätte auch im Falle einer extremen Haushaltsnotlage des
Landes Berlin die erhöhte Kreditaufnahme nicht erfolgen dürfen.
Die Antragsteller beantragen
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festzustellen, dass das Berliner Haushaltsgesetz 2002/2003 – HG 02/03 – vom 19. Juli
2002 (GVBl. vom 25. Juli 2002, S. 213 ff.) mit der Verfassung von Berlin unvereinbar ist.
III. Der Verfassungsgerichtshof hat dem Senat von Berlin und dem Abgeordnetenhaus
von Berlin Gelegenheit zur Äußerung gegeben.
1. Der Senat von Berlin hält den Normenkontrollantrag, soweit er die Feststellung der
Unvereinbarkeit von § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 mit der Verfassung von Berlin
beinhaltet, für zulässig. Das Haushaltsgesetz insgesamt könne hingegen nicht
zulässiger Gegenstand des Normenkontrollantrags sein, weil dessen übrige Vorschriften
von den Antragstellern nicht substantiiert in Zweifel gezogen worden seien.
Der Normenkontrollantrag sei jedenfalls unbegründet. § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03
entspreche in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Die Kreditermächtigung des § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 ziele auf die Abwehr einer
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB
erlaube eine erhöhte Kreditaufnahme nicht etwa nur zur Abwehr einer bundesweiten
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern auch zur Überwindung
einer auf das Land bezogenen Störung der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung.
Bei anderer Auslegung dürfte das Land eine regionale Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nur nach einer notwendig auf Deutschland
bezogenen Feststellung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch
den Bund abwehren und könnte somit nicht autonom seine Pflichten aus Art. 109 GG
erfüllen.
Die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin ergebe sich daraus,
dass auf Grund historisch bedingter Belastungen die Ausgaben des Landes besonders
hoch seien und dass außerdem nach dem vereinigungsbedingten Wachstumsschub zu
Beginn der neunziger Jahre das Wirtschaftswachstum in Berlin weit hinter der
bundesweiten Entwicklung zurückgeblieben sei. Das reale Bruttoinlandsprodukt habe
zwischen 1994 und 2001 bundesweit im Jahresdurchschnitt um 1,7 % zugenommen,
während es sich in Berlin in diesem Zeitraum jahresdurchschnittlich um 0,9 % verringert
habe. Für das Jahr 2002 sei während der Haushaltsberatungen in Berlin nur eine ganz
geringe Wachstumsrate von unter 0,5 % erwartet worden. Auf Grund dieser
Wachstumsschwäche habe Berlin in den Jahren 1994 bis 2001 annähernd 75.000
Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosenquote habe in Berlin im Jahr 2001 bei 16,1 %,
bundesweit bei 9,4 % gelegen. Für 2002 sei im Frühjahr ein weiterer Rückgang der
Erwerbstätigkeit um 13.000 Arbeitsplätze erwartet worden. Im September 2002 sei die
Arbeitslosenquote in Berlin tatsächlich weiter auf 17 % angestiegen, während sie
bundesweit bei 9,5 % gelegen habe. Damit habe zur Zeit der Einbringung und Beratung
des Haushaltsgesetzes 2002/2003 eine ernsthafte und nachhaltige Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin vorgelegen, die sich nicht etwa allein
daraus ergebe, dass die Entwicklung der Berliner Wirtschaft in Relation zur Entwicklung
der Wirtschaft in Deutschland insgesamt signifikant schlechter sei, sondern vor allem
aus der absoluten Höhe der einzelnen Indikatoren deutlich werde. Die für Berlin
ausweislich des Berichts über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14. Mai
2002 erwartete konjunkturelle Belebung im Verlaufe des Jahres 2002 ändere nichts an
der erheblichen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern liefere nur
die Grundlage dafür, dass bei entsprechender Haushaltsgestaltung in absehbarer Zeit
eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Gleichgewicht erwartet werden könne.
Der Berliner Haushaltsgesetzgeber habe das geringe Wirtschaftswachstum nicht weiter
gefährden und die extrem hohe Arbeitslosigkeit nicht weiter verstärken dürfen. Eine
Beschränkung der Kreditaufnahme auf die Höhe der Investitionen hätte den abrupten
Abbau der Ausgaben in einer Größenordnung von rund 4,6 Mrd. € oder rund 19,3 % der
Ausgaben im Haushalt 2002 bedeutet. Eine derartige Rückführung der Ausgaben hätte
verheerende Folgen für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungssituation in
Berlin gehabt. Die bereits erhebliche Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
hätte sich dramatisch verschärft. Die prozyklische Wirkung derartiger Maßnahmen wäre
mit den Verpflichtungen des Landes aus Art. 109 Abs. 2 GG unvereinbar. Aus alledem
ergebe sich die finale Ausrichtung der erhöhten Kreditaufnahme auf die Beseitigung der
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.
Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Darlegung seien bereits in der
Begründung zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 und dann erneut in der
Begründung zum Haushaltsgesetz 2002/2003 beachtet worden. Die unzureichenden
Wachstumsraten des Berliner Bruttoinlandsprodukts und die hohe Arbeitslosigkeit seien
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Wachstumsraten des Berliner Bruttoinlandsprodukts und die hohe Arbeitslosigkeit seien
dort ausdrücklich dargelegt worden. Die Absicht des Haushaltsgesetzgebers, die
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch die erhöhte Kreditaufnahme
abzuwehren, sei an gleicher Stelle durch die Ausführungen belegt worden, dass diese
dazu beitrage, die Störung abzuwehren. Ferner sei in beiden Gesetzgebungsverfahren
darauf hingewiesen worden, dass die ernsthafte und nachhaltige Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine weitere Ausgabenkürzung, die eine mit Art.
109 Abs. 2 GG unvereinbare Parallelpolitik bedeutet hätte, ausschließe. Diese
Feststellungen hätten die Prognose umfasst, dass die erhöhte Kreditaufnahme dazu
beitragen werde, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beseitigen.
Alle diese Feststellungen seien Gegenstand der Haushaltsdebatten im
Abgeordnetenhaus gewesen. Ergänzt worden seien die Darlegungen durch den Bericht
über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002, der dem
Abgeordnetenhaus während der Zeit der Haushaltsberatungen vorgelegen habe und
von diesem zur Kenntnis genommen worden sei. Mit der Verabschiedung des
Haushaltsgesetzes 2002/2003 nebst dessen Begründung habe das Abgeordnetenhaus
seine Verantwortung nach außen sichtbar übernommen. Es habe außerdem allein eine
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin, nicht aber im Bund
begründet werden müssen. Deshalb könne die nachvollziehbare und vertretbare
Beurteilung des Berliner Haushaltsgesetzgebers nicht durch Stellungnahmen des
Sachverständigenrats oder des Bundesfinanzministers zur wirtschaftlichen Situation im
Bund in Zweifel gezogen werden.
An der Verfassungsgemäßheit der erhöhten Kreditaufnahme ändere sich nichts dadurch,
dass die hohe Neuverschuldung zugleich die extreme Haushaltsnotlage des Landes
Berlin widerspiegele, bei der die Fähigkeit zur Erfüllung seiner Verpflichtung auf die
Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) in Frage
gestellt, aber nicht völlig aufgehoben gewesen sei. Vielmehr seien dem Land Berlin im
Zeitpunkt der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 noch Spielräume zur
Einflussnahme auf die wirtschaftliche Lage im Land verblieben. Die die extreme
Haushaltsnotlage verursachenden Versäumnisse früherer Haushaltsgesetzgeber, die zu
Fehlbeträgen im Jahr 2000 in Höhe von rund 684 000 000 € und im Jahr 2001 in Höhe
von rund 1 921 000 000 € geführt hätten, könnten außerdem die
Handlungsmöglichkeiten des Haushaltsgesetzgebers nicht zusätzlich einschränken. Es
habe die bundesverfassungsrechtliche Verpflichtung des Landes aus Art. 109 Abs. 2 GG
bestanden, einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch eine erhöhte
Kreditaufnahme entgegen zu wirken. Diese Verpflichtung könnte im Übrigen kraft des
Vorrangs des Bundesrechts vor der Landesverfassung gemäß Art. 31 GG die
Verpflichtung des Landes zur Begrenzung seiner Kreditaufnahme modifizieren, falls und
soweit es ausnahmsweise zu einem Widerspruch zwischen der Pflicht zur Abwehr einer
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und der Sanierungspflicht in Bezug
auf seine Haushaltslage kommen sollte. Art 109 Abs. 2 GG verpflichte ein
Haushaltsnotlagenland, seine Kreditaufnahme an den Vorgaben des vom Grundgesetz
zwingend vorgeschriebenen eigenen Sanierungsprogramms des Landes auszurichten.
Folge man hingegen der Argumentation der Antragsteller, wäre das Land wegen seiner
extremen Haushaltsnotlage gehindert gewesen, seine Verpflichtungen aus Art. 109 Abs.
2 GG und Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB zu erfüllen, weil jede Kreditaufnahme in
einer extremen Haushaltsnotlage diese Lage widerspiegele. Gerade ein
Haushaltsnotlagenland sei schon aus eigenem Interesse dringend auf die Abwehr von
Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verpflichtet, weil es nur so die
wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Konsolidierung schaffen könne.
2. Das Abgeordnetenhaus von Berlin schließt sich der Auffassung des Senats von Berlin
an, dass die Kreditermächtigung in § 3 HG 02/03 der Abwehr einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts diene. Es sei auch zulässig, auf die wirtschaftliche
Situation eines Landes abzustellen. Der Senat von Berlin habe im vorliegenden
Normenkontrollverfahren ausführlich die desolate wirtschaftliche Lage Berlins dargelegt,
angesichts derer es nicht zweifelhaft sein könne, dass eine ernsthafte und nachhaltige
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin bestanden habe. Davon
abgesehen, dass Äußerungen des Finanzplanungsrats und des Sachverständigenrats
aus dem Jahr 2001 die spätere konjunkturelle Entwicklung bis zur Verabschiedung des
Haushaltsgesetzes 2002/2003 im Juni 2002 gar nicht hätten berücksichtigen können,
seien diese sich auf die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik insgesamt
beziehenden Prognosen nicht geeignet, die für die Beurteilung maßgeblichen
wirtschaftlichen Daten und Einschätzungen zu liefern, wenn sich die wirtschaftliche
Situation eines Bundeslandes wie im Fall Berlins von der allgemeinen wirtschaftlichen
Entwicklung abkoppele und sich deshalb die separate Frage der erhöhten
Kreditaufnahme bei einem Landeshaushalt stelle. In einem solchen Fall müsse deshalb
auf andere geeignete, das konkrete Bundesland betreffende wirtschaftliche Daten und
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auf andere geeignete, das konkrete Bundesland betreffende wirtschaftliche Daten und
Bewertungen zurückgegriffen werden.
B. Der Richter Dr. M. ist gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 3 VerfGHG in diesem Verfahren von der
Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen.
Entscheidungsgründe
C. Der Antrag ist nach Art. 84 Abs. 2 Nr. 2 VvB, § 14 Nr. 4, § 43 Nr. 1 VerfGHG zulässig.
Unbeachtlich ist, dass das Haushaltsjahr 2002 zwischenzeitlich abgelaufen ist und § 3
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HG 02/03 durch Zeitablauf erledigt ist. Für zulässig erhobene
Normenkontrollanträge, die sich auf Bestimmungen eines Haushaltsgesetzes beziehen,
besteht im Hinblick auf den objektiven Charakter des Normenkontrollverfahrens ein
Entscheidungsinteresse über den Zeitraum der rechtlichen Wirkung dieser
Bestimmungen hinaus. Der begrenzten zeitlichen Geltung des Haushaltsgesetzes
entspricht die jährliche Wiederkehr eines Gesetzes gleicher Art. Damit besteht die
Möglichkeit, dass eine mit einem Normenkontrollantrag zur Prüfung gestellte
verfassungsrechtlich zweifelhafte Normsetzung des Haushaltsgesetzgebers von Jahr zu
Jahr – wie § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HG 02/03 für das Haushaltsjahr 2003 zeigt – wiederholt
wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311 ).
D. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet. § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 ist mit Art.
87 Abs. 2 Satz 2 VvB nicht vereinbar.
I. Nach Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB müssen alle Einnahmen und Ausgaben des Landes
Berlin für jedes Rechnungsjahr in dem Haushaltsplan veranschlagt werden, der durch
das Haushaltsgesetz festgestellt wird. Durch Gesetz kann eine Veranschlagung und
Feststellung für einen längeren Zeitabschnitt zugelassen werden (Art. 85 Abs. 1 Satz 2
Halbs. 2 VvB). Auf Grund dieser Ermächtigung hat der Landesgesetzgeber in § 12 Abs. 1
der Landeshaushaltsordnung (LHO) festgelegt, dass Haushaltspläne – wie für die
Haushaltsjahre 2002/2003 geschehen – in einem Doppelhaushalt auch für zwei
Haushaltsjahre aufgestellt werden können.
Im Haushaltsplan stellen sich die Staatsaufgaben als Ausgaben dar, die durch
Einnahmen gedeckt werden müssen (vgl. BVerfGE 79, 311 ). Das Gebot des
Haushaltsausgleichs wird zwar in Art. 85 VvB – anders als in Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG –
nicht ausdrücklich genannt, gehört aber zum Wesensmerkmal eines Haushalts und hat
im Übrigen Niederschlag in Art. 90 Abs. 2 VvB gefunden. Zu den Einnahmen, die der
Deckung der Ausgaben dienen, zählen auch Kredite (Korbmacher in: Driehaus [Hrsg.],
Verfassung von Berlin, 2002, Art. 85 Rn. 11).
Art. 87 Abs. 2 Satz 1 VvB bestimmt, dass Kredite nur aufgenommen werden dürfen,
wenn andere Mittel zur Deckung nicht vorhanden sind. Nach Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs.
1 VvB dürfen die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan
veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur
zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 87
Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB). Die Grundregel des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB ist
zusammen mit Satz 1 der Vorschrift die zentrale Regelung der Berliner
Finanzverfassung. Sie berücksichtigt, dass der in der Zukunft rückzahlbare und
verzinsliche Kredit die Lasten gegenwärtiger Staatsleistungen in die Zukunft verschiebt,
also den Empfänger von dem Financier der Staatsleistungen trennt (P. Kirchhof in:
Isensee/Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 1990, § 88 Rn. 293;
Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 21. März 2003 – VerfGH 6/01 – NVwZ-RR
2003, 537 ). Der haushaltswirtschaftliche Vorgriff auf zukünftige Einnahmen, der die
Entscheidungsfreiheit des Parlaments in den Folgejahren erheblich einschränkt und die
Gefahr des Eintretens von Haushaltsnotlagen in sich trägt, soll deswegen durch das
Kreditbegrenzungsgebot des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB höchstens auf den
Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter begrenzt sein;
zukunftsbelastende Einnahmen sind zu kompensieren durch zukunftsbegünstigende
Ausgaben. Das Kreditbegrenzungsgebot dient damit dem Schutz künftiger Generationen
vor unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79,
311 ; 99, 57 ; vgl. VerfGH NW, Urteil vom 2. September 2003 – VerfGH 6/02 – S. 23 des
Urteilsabdrucks).
Art. 87 Abs. 2 Satz 2 VvB entspricht der im Zuge der Haushaltsreform durch das 20.
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 2. Mai 1969 (BGBl. S. 357) eingeführten
bundesrechtlichen Regelung des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG, die – anders als Art. 115
Abs. 1 GG a.F. – die traditionelle objektbezogene Kreditaufnahme durch eine
situationsgebundene, nämlich den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts folgende Betrachtungsweise abgelöst und die Verschuldung von der
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Gleichgewichts folgende Betrachtungsweise abgelöst und die Verschuldung von der
haushaltsrechtlich orientierten Bindung an einen außerordentlichen Bedarf und an
werbende Zwecke (d.h. für solche Zwecke, die wiederum zu Einnahmen öffentlicher
Haushalte führen) freigestellt hat. Hierdurch wurde die Durchführung einer antizyklischen
Finanzpolitik und generell die Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Erfordernisse im
Rahmen der Verschuldung ermöglicht (BTDrucks. V/3605 S. 13; BVerfGE 79, 311 ; Stern,
Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 1275, 1277; Maunz
in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 115 [Stand: 1981] Rn. 6; Heun in: Dreier [Hrsg.],
Grundgesetz, Band III, 2000, Art. 115 Rn. 4). Die Kreditfinanzierung kann in Fällen der
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ein sinnvolles Instrument der
antizyklischen Konjunktursteuerung sein. Öffentliche Kredite können die Konjunktur
anregende Ausgaben finanzieren, um private Nachfrageausfälle zu kompensieren und
zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beizutragen (Henneke,
Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, 2. Aufl. 2000, Rn. 558; Heun, a.a.O., Art.
115 Rn. 10, 24).
Art. 87 Abs. 2 Satz 2 VvB steht – wie Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG – in einem engen
Sachzusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG. Letztere Verfassungsnorm verpflichtet
Bund und Länder, bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Sowohl Art. 109 Abs. 2 GG
als auch Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB gehen davon aus, dass der Staat steuernd,
ausgleichend und gestaltend auf die Wirtschaftsentwicklung einwirken kann und
einwirken will und dies im konkreten Fall zur Abwehr einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch geboten ist (vgl. Heun in: Dreier [Hrsg.],
a.a.O., Art. 109 Rn. 20). Dem Haushaltsgesetzgeber ist zugleich eine Verantwortung für
die Auswirkungen des Haushalts auf die Gesamtwirtschaft auferlegt worden (BVerfGE 79,
311 ). Diese Bindung erstreckt sich auch auf die Kreditaufnahme, da sie Bestandteil der
Haushaltswirtschaft ist. Daraus folgt, dass Art. 109 Abs. 2 GG und Art. 87 Abs. 2 Satz 2
VvB nebeneinander angewandt werden müssen. Ihre begrenzende Wirkung addiert sich.
Bei einer gesamtwirtschaftlichen Normallage ist der Haushaltsgesetzgeber daran
gebunden, nicht mehr an Krediten aufzunehmen als für Investitionen ausgegeben wird.
Darüber hinaus ist die Kreditaufnahme nach Maßgabe dessen eingeschränkt, was in
Wahrung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geboten
erscheint. Das bedeutet, dass ein dauerhafter Anstieg der Verschuldung in Höhe der
jährlichen Investitionen dem Regelungskonzept des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB
widerspricht. Der Haushaltsgesetzgeber hat die Verpflichtung, Spielräume zur
Verschuldensbegrenzung oder gar -rückführung zu nutzen, die sich in einem
Haushaltsjahr entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts eröffnen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311 ; vgl. VerfGH NW,
a.a.O., S. 23 f. des Urteilsabdrucks). Bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts lässt Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB eine Ausnahme von der
Begrenzung der Kreditaufnahme zu. Dieser Ausnahme bedarf es, damit den
Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch und gerade in einer
Störungslage, insbesondere bei einem Konjunkturabschwung, genügt werden kann und
kein Widerspruch zu Art. 109 Abs. 2 GG entsteht. Das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht erhält eine zweifache Bedeutung. Zum einen ist seine – eingetretene oder
unmittelbar bevorstehende – Störung die tatbestandliche Voraussetzung für die
mögliche Überschreitung der Kreditgrenzen des ersten Halbsatzes, zum anderen ist
seine Wiederherstellung Ziel und Zweck für die Inanspruchnahme der
Ausnahmeregelung: Die Überschreitung der Kreditobergrenze wird nur zugelassen, um
die Störung abzuwehren. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist mithin nicht nur
eine Bezugsgröße, der Rechnung zu tragen ist, sondern Ziel und Zweck des Handelns
(vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 79, 311 ).
II. Das Bundesverfassungsgericht hat für Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG Kriterien aufgestellt,
unter welchen Voraussetzungen eine Überschreitung der Kreditobergrenze zur Abwehr
einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als verfassungsgemäß
anzusehen ist (BVerfGE 79, 311). An diesen Kriterien ist die Netto-kreditermächtigung
des § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 zu messen, zumal sich der Berliner Verfassungsgeber
bei der Fassung von Art. 87 Abs. 2 Satz 2 VvB auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich bezogen hat (Abghs-Drs 12/4874 S. 10).
1. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 109 Abs. 2 GG geht hervor, dass der
Verfassungsgesetzgeber des Grundgesetzes in der gleichzeitig entstandenen Vorschrift
des § 1 Satz 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der
Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S. 582 – StWG) eine zutreffende Umschreibung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sah (BVerfGE 79, 311 ). Dieser – auch in der
Verfassung von Berlin nicht gesondert definierte – Begriff wird durch verschiedene
Komponenten geprägt. Es handelt sich hierbei um die Teilziele Stabilität des
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Komponenten geprägt. Es handelt sich hierbei um die Teilziele Stabilität des
Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei
stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum. Dabei meint das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht die volle und nachhaltige Erreichung aller
Teilziele zugleich, sondern eine relativ-optimale Gleichgewichtslage in der Realisierung
der Teilziele, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen können und
oftmals nicht ohne wechselseitige Abstriche realisierbar sind. Das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht unterliegt damit ständigen Schwankungen und erscheint demgemäß stets
als prekär. Diese Labilität allein rechtfertigt aber noch nicht die Annahme einer
Störungslage. Die Inanspruchnahme der Ausnahmevorschrift ist vielmehr erst dann
gerechtfertigt, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig
gestört ist oder eine solche Störung unmittelbar droht (BVerfGE 79, 311 ).
2. Der Haushaltsgesetzgeber ist nicht darauf beschränkt, bei einer Störungslage
zunächst nur weitere Investitionsausgaben über Kredite zu finanzieren und aus
konjunkturellem Abschwung resultierende Mindereinnahmen und Mehrausgaben statt
durch Kreditaufnahmen durch weitere Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen
auszugleichen (sog. Parallelpolitik; BVerfGE 79, 311 ). Die erhöhte Kreditaufnahme muss
aber nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Sie muss darüber hinaus auch final
auf die Abwehr dieser Störung bezogen sein. Hierzu müssen die Ursachen der Störung
mit in Betracht gezogen werden. Liegen sie etwa ganz oder überwiegend in fehlender
Anpassung der Wirtschaftsstruktur an neue Gegebenheiten oder in einer schon
bestehenden hohen Staatsverschuldung, so werden sie schwerlich durch eine bloße
Nachfrageausweitung bzw. Verhinderung eines Nachfrageabfalls ausgeräumt werden
können. Je nach den gegebenen Ursachen vermag auch der Umstand, dass bei
Ausgleich eines vorhandenen Haushaltsdefizits im Wege der Ausgabenkürzung oder
Steuererhöhung ein weiterer Abschwung droht, eine erhöhte Kreditaufnahme allein nicht
zu rechtfertigen. Ohne dass andere haushalts- und finanzpolitische Maßnahmen
hinzutreten, könnte sich die Situation in den folgenden Jahren wiederholen und
gegebenenfalls – etwa durch Anwachsen des Schuldensockels – noch verschärfen.
Allerdings kann und muss der Haushaltsgesetzgeber jeweils von den konkret für ihn
gegebenen Bedingungen ausgehen und sein Handeln danach einrichten. Gibt es
Versäumnisse früherer Haushaltsgesetzgeber, muss er mit deren Folgen leben. Sie
können einerseits seine Handlungsmöglichkeiten nicht zusätzlich, also über das hinaus
einschränken, was ohnehin aus seiner Bindung an die Eignung der zu treffenden
Maßnahme zur Abwehr der Störung folgt (BVerfGE 79, 311 ). Sie sind andererseits kein
Freibrief für eine beliebige Berufung auf den Ausnahmetatbestand, weil eine durch
frühere Haushaltsgesetzgeber geschaffene Zwangslage – wie noch auszuführen sein
wird – zu keiner die Ausnahme noch ausweitenden Handlungsoption für den heutigen
Haushaltsgesetzgeber führen darf.
3. Bei der Beurteilung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
vorliegt oder unmittelbar droht, und bei der Einschätzung, ob eine erhöhte
Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist, steht dem Haushaltsgesetzgeber ein
Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Dem Verfassungsgericht obliegt im
Streitfall die Prüfung, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers
nachvollziehbar und vertretbar ist. Beurteilung und Einschätzung müssen nicht nur frei
von Willkür sein, sondern auf Grund der vorliegenden wirtschaftlichen Daten und vor dem
Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und
wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung (Finanzplanungsrat, Konjunkturrat,
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,
Europäische Zentralbank) und der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und
Finanzwissenschaft auch nachvollziehbar und vertretbar erscheinen (vgl. BVerfGE 79,
311 ).
4. Dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum entspricht für den
Haushaltsgesetzgeber in formeller Hinsicht die Darlegungslast im
Gesetzgebungsverfahren, dass, aus welchen Gründen und in welcher Weise er von der
Befugnis zur Überschreitung der Kreditobergrenze Gebrauch macht. Diese Obliegenheit
trägt dazu bei, die Inanspruchnahme der Ausnahmebefugnis zu erhöhter
Kreditaufnahme trotz des Fehlens eindeutiger materiell-rechtlicher Vorgaben auf
Ausnahmefälle zu beschränken und so ihren Ausnahmecharakter zu sichern. Im
Gesetzgebungsverfahren darzulegen sind die Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist, die Absicht, durch die erhöhte
Kreditaufnahme diese Störung abzuwehren, und die begründete Prognose, dass und wie
durch die erhöhte Kreditaufnahme dieses Ziel erreicht werden kann, sie also zur Abwehr
der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet erscheint . Dabei wird
gegebenenfalls die Koordination der Haushaltsplanung mit flankierenden
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gegebenenfalls die Koordination der Haushaltsplanung mit flankierenden
gesetzgeberischen Maßnahmen und der längerfristigen Politik darzulegen sein . Der
Haushaltsgesetzgeber hat zu erkennen zu geben, ob er mit der Beurteilung der bereits
genannten gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen
Meinungs- und Willensbildung übereinstimmt oder aus welchen Gründen er abweicht. Für
diese Darlegungen ist von Verfassungs wegen keine bestimmte Form vorgeschrieben.
Sie können durch jegliche Stellungnahmen und Erklärungen der an der
Haushaltsgesetzgebung beteiligten Organe im Gesetzgebungsverfahren, auch in
Parlamentssitzungen, erfolgen. Die Darlegungen müssen allerdings erkennbar machen,
dass die parlamentarische Mehrheit mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes die
Verantwortung auch für die Begründung der erhöhten Kreditaufnahme übernimmt
(BVerfGE 79, 311 ).
III. Über den Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB hinaus kann eine Ausnahme
vom Kreditbegrenzungsgebot verfassungsrechtlich zulässig sein, wenn sich ein
Bundesland in einer extremen Haushaltsnotlage befindet.
1. Ein in einer extremen Haushaltsnotlage befindliches Land kann das
Kreditbegrenzungsgebot nicht einhalten, weil es nicht in der Lage ist, seine Ausgaben
vollständig durch andere Einnahmen als Kredite zu decken bzw. – die Kreditobergrenze
erhöhende – Investitionen zu veranlassen. Ihm ist aber gleichzeitig versagt, die in Art. 87
Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB ausdrücklich geregelte Ausnahme vom
Kreditbegrenzungsgebot in Anspruch zu nehmen. Das durch eine extreme
Haushaltsnotlage betroffene Land ist nämlich daran gehindert, durch seine
Haushaltswirtschaft und die Gestaltung der Haushaltspolitik den Erfordernissen des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen; es verliert die Fähigkeit zu
einem konjunkturgerechten Haushaltsgebaren und zu konjunktursteuerndem Handeln
(BVerfGE 86, 148 ) und damit die Fähigkeit, eine etwaige Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Land durch eine entsprechende
Konjunkturpolitik abzuwehren. Nach dem Wortlaut der Verfassung wäre erst nach
Konsolidierung des Haushalts eine Überschreitung der Kreditobergrenze zur
Störungsabwehr wieder zulässig. Die Haushaltskonsolidierung wird unter Umständen
jedoch ohne bundesstaatliche Hilfe nicht gelingen. Wird diese freiwillig nicht gewährt und
klagt das von einer extremen Haushaltsnotlage betroffene Land darum beim
Bundesverfassungsgericht auf Gewährung einer Bundesergänzungszuweisung nach Art.
107 Abs. 2 Satz 3 GG bzw. sonstiger bundesstaatlicher Hilfeleistungen, wird ein
möglicherweise nicht unerheblicher Zeitraum bis zur bundesverfassungsgerichtlichen
Entscheidung und gegebenenfalls deren nachfolgender gesetzgeberischer Umsetzung
zugunsten des Landes vergehen, in dem das Land in seiner finanziellen Notlage gar
nicht anders kann, als weiterhin – entgegen dem Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 Satz 2
Halbs. 2 VvB – zur Deckung seiner Ausgaben übermäßige Krediteinnahmen zu
veranlassen. Dabei hat es allerdings die im Folgenden dargelegten Beschränkungen zu
beachten.
2. Im Fall der extremen Haushaltsnotlage eines Landes, aus der sich das Land aus
eigener Kraft nicht mehr befreien kann, ist das bundesstaatliche Prinzip (Art. 20 Abs. 1
GG) als solches berührt. Im Bundesstaat besteht eine Solidargemeinschaft von Bund
und Ländern und damit das bündische Prinzip des Einstehens füreinander (BVerfGE 86,
148 ). Die finanzverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes sollen insgesamt
eine Finanzordnung sicherstellen, die Bund und Länder am Finanzaufkommen
sachgerecht beteiligt und finanziell in die Lage versetzt, die ihnen verfassungsrechtlich
zukommenden Aufgaben auch wahrzunehmen. Ihr Sinn ist es auch, die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die staatliche Selbstständigkeit von Bund und
Ländern real werden, ihre politische Autonomie sich in der Eigenständigkeit und
Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung und der Haushaltswirtschaft (Art 109
Abs. 1 GG) entfalten und die gemeinsame Verpflichtung auf die Erfordernisse des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) erfüllt werden kann (BVerfGE
72, 330 ; 86, 148 ). Hieraus resultiert eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundes und
der Länder einschließlich des von der extremen Haushaltsnotlage betroffenen Landes,
mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage
konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen darauf hinzuwirken, dass das von
einer extremen Haushaltsnotlage betroffene Land wieder zur Wahrung seiner politischen
Autonomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt
wird (BVerfGE 86, 148 ).
Bis zur Wiederherstellung der Fähigkeit des Landes zu einer ordnungsgemäßen
Haushaltswirtschaft muss das Land dennoch seinen Ausgabenverpflichtungen
nachkommen können. Der Großteil der Einnahmen und Ausgaben eines Bundeslandes
beruht auf bundesrechtlichen Vorgaben, die von dem Land zu beachten sind. Das
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beruht auf bundesrechtlichen Vorgaben, die von dem Land zu beachten sind. Das
bedeutet, dass das von einer extremen Haushaltsnotlage betroffene Bundesland
einerseits hinsichtlich seiner Einnahmensituation nur wenig handlungsfähig ist, weil es
eine wesentliche Erhöhung seiner Einnahmen auf Grund von Landesgesetzen nicht
erreichen kann; andererseits ist das Land verpflichtet, die auf Grund bundesrechtlicher
Vorschriften vorgegebenen Ausgaben, die grundsätzlich bei der Ausführung von
Bundesgesetzen durch die Länder als eigene Angelegenheit (Art. 83, 84, 104 a GG)
anfallen, zu leisten. Da das Land ohne übermäßige Krediteinnahmen seinen
bundesrechtlichen Verpflichtungen und überdies den aus landesverfassungsrechtlichen
Vorgaben folgenden unabdingbaren Aufgaben nicht nachkommen könnte, folgt aus Art.
109 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem aus den finanzverfassungsrechtlichen Normen
des Grundgesetzes hergeleiteten Gebot, dass die Länder in die Lage versetzt sein
müssen, ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben zu erfüllen, eine Modifizierung des
landesverfassungsrechtlichen Kreditbegrenzungsgebots. Diese besteht darin, dass die
Kreditobergrenze über die in Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB ausdrücklich geregelte
Ausnahme der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hinaus
auch im Fall einer extremen Haushaltsnotlage überschritten werden darf.
Demgegenüber besteht keine Befugnis des Landesverfassungsgebers,
Kreditbegrenzungsgebote festzulegen, die dem Land die Erfüllung seiner
bundesrechtlichen Verpflichtungen im Falle einer extremen Haushaltsnotlage unmöglich
machen.
3. Auch hinsichtlich der Frage, ob sich das Land in einer extremen Haushaltsnotlage
befindet, steht dem Haushaltsgesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zu. Er darf die
Kreditobergrenze des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB unter diesem Gesichtspunkt
jedoch nur überschreiten, wenn er sich auf die extreme Haushaltsnotlage im
Gesetzgebungsverfahren beruft und diese darlegt. Wie ausgeführt, bestehen bereits
umfangreiche Darlegungspflichten, wenn der Haushaltsgesetzgeber in Anwendung des
Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB die Kreditobergrenze zur Abwehr einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts überschreiten will. Für die Überschreitung der
Kreditobergrenze unter Berufung auf eine extreme Haushaltsnotlage des Landes und
unter Inanspruchnahme eines entsprechenden, landesverfassungsrechtlich nicht
ausdrücklich geregelten Ausnahmetatbestandes müssen verfassungsrechtlich
mindestens die gleichen Anforderungen wie bei Inanspruchnahme der in Art. 87 Abs. 2
Satz 2 Halbs. 2 VvB ausdrücklich vorgesehenen konjunkturpolitischen Ausnahme gelten.
Im Gesetzgebungsverfahren ist daher im Einzelnen darzulegen, dass eine extreme
Haushaltsnotlage gegeben ist sowie dass und aus welchen Gründen eine geringere
Kreditaufnahme aus bundesverfassungsrechtlicher Sicht nicht zulässig wäre, weil
anderenfalls das Land seine bundesrechtlich festgelegten sowie seine auf
landesverfassungsrechtlichen Vorgaben beruhenden Ausgabenverpflichtungen nicht
erfüllen könnte. Denn nur wenn in diesem Sinne zwingende Ausgaben ohne eine erhöhte
Kreditaufnahme nicht geleistet werden können, ist das von einer extremen
Haushaltsnotlage betroffene Land berechtigt, die landesverfassungsrechtliche
Kreditobergrenze zu überschreiten. Zu fordern ist vom Haushaltsgesetzgeber unter
diesem Gesichtspunkt im Rahmen eines schlüssigen Sanierungskonzepts die detaillierte
Darlegung, dass im Haushaltsplan veranschlagte Ausgaben zwingend erforderlich sind
und alle möglichen Einnahmequellen und Ausgabeneinschränkungen ausgeschöpft
wurden.
E. Die Ermächtigung zur Aufnahme von Krediten in § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03, deren
Höhe die Kreditobergrenze des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB in Gestalt der Summe
der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen überschritten hat, steht nicht in
Einklang mit der Ausnahmevorschrift des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB. Die
Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot lagen weder im
Hinblick auf die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts noch
unter dem Gesichtspunkt einer extremen Haushaltsnotlage vor.
I. Die Annahme und Darlegung des Berliner Haushaltsgesetzgebers im Zeitpunkt des
Gesetzgebungsverfahrens für das Haushaltsgesetz 2002/2003, dass im Land Berlin das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört sei, ist
verfassungsrechtlich allerdings nicht zu beanstanden.
1. Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB ermächtigt den Haushaltsgesetzgeber zu einer
erhöhten Kreditaufnahme auch im Falle einer Störung der wirtschaftlichen Lage allein im
Land Berlin (Pfennig in: Pfennig/Neumann [Hrsg.], Verfassung von Berlin, 3. Aufl. 2000,
Art. 87 Rn. 19; Korbmacher, a.a.O., Art. 87 Rn. 13).
Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft, wozu auch die Kreditaufnahme
gehört, selbstständig und voneinander unabhängig (Art. 109 Abs. 1 GG) und haben
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gehört, selbstständig und voneinander unabhängig (Art. 109 Abs. 1 GG) und haben
infolgedessen materiell eigenständige Entscheidungsspielräume (materielle
Haushaltsautonomie; Heun, a.a.O., Art. 109 Rn. 17; Heintzen in: von Münch/Kunig
[Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 5. Aufl. 2003, Art. 109 Rn. 9). Die Art. 110 bis
115 GG betreffen demgegenüber nur den Bund (Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und
der Länder, A/109/14 [Stand: 1982], Rn. 11; Heun, a.a.O., Art. 109 Rn. 10); weder das
Stabilitätsgesetz noch das Haushaltsgrundsätzegesetz schreiben für die Länder
entsprechende Bestimmungen vor (Patzig, DÖV 1985, 293 ; Mahrenholz in: Kommentar
zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, 3.
Aufl., Band 3 [Stand: August 2002], Art. 115 Rn. 5). Der Grundsätzegesetzgeber hat den
Ländern einen Freiraum zur Regelung des landesrechtlich verfügbaren Kreditrahmens
gelassen (HambVerfG, Urteil vom 30. Mai 1984 – HVerfG 1/84 – HmbJVBl. 1984, 169 ;
vgl. auch die gegenüber dem Niedersächsischen Landtag erfolgte Begründung des
Niedersächsischen Finanzministeriums zur Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung
des Art. 71 Satz 3 der Niedersächsischen Verfassung, Niedersächsischer Landtag – Drs.
13/839 S. 2).
Allerdings gehört zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht auch das Teilziel des
außenwirtschaftlichen Gleichgewichts, das nur auf den Gesamtstaat bezogen sein kann
(Henneke, a.a.O., Rn. 608). Hieraus wird zum Teil der Schluss gezogen, dass die den
Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verwendenden Landesverfassungen
eine erhöhte Kreditaufnahme nur bei einer bundesweiten Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulassen wollten und dass bei bloß regionalen
wirtschaftlichen Verzerrungen eine Inanspruchnahme des landesverfassungsrechtlichen
Ausnahmevorbehalts nicht in Betracht komme, wenn diese nicht zugleich auch das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht des Bundes störten, was – insbesondere bei
kleineren Bundesländern – kaum je der Fall sein dürfte (Höfling, Staatsschuldenrecht,
1993, S. 411 Fn. 42; Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Art. 115 GG Rn. 31 [Stand: Januar
1996]; Henneke a.a.O.). Derartige Unsicherheiten in der Interpretation des Begriffs des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vermeiden diejenigen Länder, die – zusätzlich –
besondere Ausnahmeregelungen für schwerwiegende Störungen bzw. eine unmittelbare
Bedrohung der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung des jeweiligen Landes
vorsehen (vgl. Art. 65 Abs. 2 Satz 2 MVVerf, Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SchlHVerf, Art. 98 Abs.
2 Satz 3 ThürVerf; vgl. Patzig, a.a.O., C/18/9 [Stand: 1991], Rn. 11). Eine erhöhte
Kreditaufnahme zur Überwindung einer auf das Land bezogenen Störung des
wirtschaftlichen Gleichgewichts ist jedoch auch bei Fehlen eines derartigen
ausdrücklichen Zusatzes erlaubt. Diese Schlussfolgerung hat auch der Niedersächsische
Staatsgerichtshof unter Hinweis auf die Begründung zu Art. 71 Satz 3 der
Niedersächsischen Verfassung (LT-Drs. 12/5840 S. 42) gezogen, nach der ein solcher
landesbezogener Zusatz ausdrücklich für nicht erforderlich gehalten worden war (Urteil
vom 10. Juli 1997 – StGH 10/05 – NdsVBl. 1997, 227 ).
Nichts anderes gilt für Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB, auch wenn der Berliner
Verfassungsgeber diese Frage nicht ausdrücklich erörtert hat. In der Begründung zum
Achtundzwanzigsten Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin (Abgh-Drs 12/4874
S. 10 zu Nr. 49) deutet nichts darauf hin, dass der Verfassungsgeber eine erhöhte
Kreditaufnahme nur bei einer bundesweiten Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts hatte zulassen wollen. Dort wird lediglich ausgeführt, dass Berlin unter
dem Aspekt der Einheitlichkeit des Haushaltsrechts von Bund und Ländern sowie
angesichts der Gefahren für die künftige Landespolitik eine – bisher nur einfachgesetzlich
geregelte – abstrakte Kreditobergrenze erhalten solle. Es bestehe eine Divergenz
zwischen der moderneren Landeshaushaltsordnung und der Verfassung, die es
anzupassen gelte. Daher sei die Kreditobergrenze – ebenso wie im Bund in Art. 115 Abs.
1 Satz 2 GG – wegen ihrer fundamentalen Bedeutung für die Sicherung und die
Handlungsfähigkeit des modernen Leistungs- und Sozialstaates ausdrücklich in die
Verfassung aufzunehmen. Bei der in der Verfassungsbegründung in Bezug
genommenen einfachgesetzlichen Regelung handelt es sich um § 18 Abs. 1 der
Landeshaushaltsordnung vom 5. Oktober 1978 (GVBl. S. 1961), dessen
Gesetzesmaterialien keinen Aufschluss darüber geben, was der damalige Gesetzgeber
unter dem Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hatte verstehen wollen
(Abgh-Drs 7/986 S. 21). Zwar heißt es in der Begründung zur Neufassung der
Landeshaushaltsordnung vom 20. November 1995 (GVBl. S. 805), dass nach der
überwiegenden finanzwissenschaftlichen Literatur die Obergrenze unter Hinweis auf
besondere strukturelle oder finanzielle Probleme eines Bundeslandes nicht überschritten
werden dürfe. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht könne nicht als
regionalwirtschaftliches Gleichgewicht interpretiert werden. Dies schließe die
Berücksichtigung spezieller Belange eines einzelnen Landes nicht aus, soweit sie einen
Bezug zu den Komponenten des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hätten,
insbesondere geeignet seien, wirtschaftliche Belange des Gesamtstaates negativ zu
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insbesondere geeignet seien, wirtschaftliche Belange des Gesamtstaates negativ zu
beeinflussen (Abghs-Drs 12/5603 S. 7). Es kann jedoch offen bleiben, welcher Schluss
aus dieser Begründung zu ziehen ist, denn jedenfalls ist diese zeitlich nach der
Verfassungsbegründung erfolgt. Angesichts dessen ist es verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, dass der Gesetzgeber des Haushaltsgesetzes 2002/2003 den Begriff des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB
dahingehend weit ausgelegt hat, dass auch eine Störung des wirtschaftlichen
Gleichgewichts im Land Berlin zu einer erhöhten Kreditaufnahme berechtigen kann.
2. Der Berliner Haushaltsgesetzgeber hat den ihm bei der Beurteilung, ob eine Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin vorliegt, zustehenden Spielraum
nicht überschritten. Er durfte zur Zeit der Beratung und Verabschiedung des
Haushaltsgesetzes 2002/2003 davon ausgehen, dass das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht in Berlin in zwei Komponenten (hoher Beschäftigungsstand, stetiges und
angemessenes Wirtschaftswachstum) ernsthaft und nachhaltig gestört war. Seine
entsprechende Diagnose hat der Berliner Haushaltsgesetzgeber gerade noch
ausreichend dargelegt.
Dabei kann dahin stehen, welche Schlussfolgerungen das bereits erwähnte
Jahresgutachten des Sachverständigenrates 2001/2002 und der Frühjahrsbericht 2002
der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute für das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht Deutschlands zulassen; diese stehen jedenfalls der Annahme einer
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Land Berlin nicht entgegen, da
sie sich nicht mit der konkreten wirtschaftlichen Situation des Landes befassen. Die in
Bezug auf die Voraussetzungen des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GG aufgestellte
Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Beurteilung und Einschätzung des
Haushaltsgesetzgebers vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten
Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung
nachvollziehbar und vertretbar zu erscheinen habe (BVerfGE 79, 311 ), muss dann eine
Relativierung erfahren, wenn es um die Frage geht, ob eine nur auf ein Land bezogene
wirtschaftliche Störung vorliegt. Wenn keine das konkrete Land betreffenden Aussagen
dieser Organe vorliegen, kann die Beurteilung und Einschätzung des
Landeshaushaltsgesetzgebers – unter Berücksichtigung von Auffassungen in
Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft – allein anhand der zur Verfügung
stehenden Wirtschaftsdaten auf ihre Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit
verfassungsgerichtlich überprüft werden.
Die Gesetzesbegründungen zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 (Abghs-Drs
15/309 S. 2) und zum Haushaltsgesetz 2002/2003 (Abghs-Drs 15/320 S. 8) erfüllen allein
allerdings nicht die an die Darlegungspflicht geknüpften Voraussetzungen. Sie
beschränken sich darauf, hinsichtlich des Teilziels Wirtschaftswachstum anzuführen, dass
die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts seit 1993 deutlich unter dem
Durchschnitt des Bundesgebiets lagen und Berlin zeitweilig das Schlusslicht der
Länderentwicklung bildete. Ferner wird zum Beschäftigungsstand lediglich auf die
gegenüber dem Bundesdurchschnitt gravierend höhere Arbeitslosenquote Berlins
verwiesen. Demgegenüber fehlen konkrete Wirtschaftsdaten, welche die Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hinsichtlich der Teilziele Wirtschaftswachstum und
Beschäftigungsstand belegen könnten.
Den Anforderungen an die Darlegung der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts ist gleichwohl genügt. In der auf Grund von Art. 109 Abs. 3 GG, § 50
HGrG, Art. 86 Abs. 3 VvB aufzustellenden fünfjährigen Finanzplanung (vgl. Bericht über
die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002, Abghs-Drs 15/470), die
dem Abgeordnetenhaus im Verlauf der Beratungen über das Haushaltsgesetz
2002/2003 vorgelegen hat, wird die wirtschaftliche Situation im Land Berlin konkret
gewürdigt.
Im Einzelnen heißt es: Vor dem Hintergrund, dass die während der Zeiten der Teilung
der Stadt gewachsenen, hoch-subventionierten und letztlich nicht überlebensfähigen
Wirtschaftsstrukturen maßgeblich zu der anhaltenden Wirtschaftsschwäche beigetragen
hätten (Abghs-Drs 15/470 S. 21), hätten sich die außerordentlich günstigen Prognosen
und Perspektiven für die Entwicklung Berlins nach der deutschen Einigung nicht erfüllen
können. Unmittelbar nach der Wende habe der Ostteil der Stadt unter den gleichen
systembedingten Problemen wie alle planwirtschaftlichen Wirtschaftssysteme gelitten,
aber auch Berlin (West) sei nur durch breit angelegte finanzielle Hilfen für die
privatwirtschaftliche Tätigkeit – flankiert durch erhebliche Steuererleichterungen nach
dem Berlinförderungsgesetz – als Wirtschaftsstandort überlebensfähig gewesen (Abghs-
Drs 15/470 S. 25). Die Wachstumsperiode des Bruttoinlandsprodukts in Berlin sei stets
unter dem Niveau der anderen ostdeutschen Länder geblieben, seit 1994 sogar deutlich
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unter dem Niveau der anderen ostdeutschen Länder geblieben, seit 1994 sogar deutlich
unter dem Niveau des Bundesdurchschnitts. Die Folge sei ein immenser
Entwicklungsrückstand in Berlin gegenüber dem Bundesdurchschnitt. Während dort die
Wirtschaft seit 1991 um etwa 15 % gewachsen sei, belaufe sich in Berlin das Wachstum
im gleichen Zeitraum auf gerade einmal 1 %. Im Jahr 2001 sei das Wirtschaftswachstum
zum Stillstand gekommen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bewege sich die
Wirtschaftskraft in Berlin praktisch auf demselben Niveau wie 1991. Folge der
unzureichenden Wirtschaftsentwicklung sei eine ausgeprägte Steuerkraftschwäche in
Berlin (Abghs-Drs 15/470 S. 26 f., 68). Im Zeitraum 1991 bis 2001 sei die Gesamtzahl
der Erwerbstätigen um gut 6 % zurückgegangen. Im Zeitraum 1991 bis 2001 sei die
Zahl der industriellen Arbeitsplätze um ca. 40 % zurückgegangen, das Baugewerbe habe
einen Arbeitsplatzverlust von etwa 26 % verkraften müssen (Abghs-Drs 15/470 S. 25).
Der Arbeitsmarkt habe sich im Jahr 2001 vor allem konjunkturbedingt eingetrübt. Seit
April 2001 seien in Berlin wieder mehr Personen von Arbeitslosigkeit betroffen als vor
Jahresfrist. Im Jahresdurchschnitt 2001 habe die Arbeitslosigkeit um 7.600 Personen auf
rund 272.300 Personen zugenommen (Arbeitslosenquote in Berlin im Jahr 2001: 16,1 %,
Prognose für 2002: 16,5 %; Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahr 2001: 9,4 %;
Prognose für 2002: 9,5 %; Abghs-Drs 15/470 S. 70). Aus diesen Darlegungen unter
Nennung konkreter, auf das Land Berlin bezogener Daten ergibt sich die
nachvollziehbare und vertretbare Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht in Berlin im Hinblick auf die Komponenten Wirtschaftswachstum und
Beschäftigungsstand ernsthaft und nachhaltig gestört war.
Angesichts der Tatsache, dass sich das Bruttoinlandsprodukt zum Zeitpunkt der
Beratungen über das Haushaltsgesetz 2002/2003 nur auf dem Niveau des Jahres 1991
bewegte, liegt es auf der Hand, dass das Teilziel stetiges und angemessenes
Wirtschaftswachstum nicht erreicht wurde. Im Hinblick darauf, dass nach den bei
Einführung des Stabilitätsgesetzes aktuellen Vorstellungen ein hoher
Beschäftigungsstand bei einer Arbeitslosenquote von 0,8 % noch angenommen wurde
(vgl. dazu NdsStGH, a.a.O., NdsVBl. 1997, 227 m.w.N.) und das
Bundesverfassungsgericht für das Jahr 1981 eine Arbeitslosenquote von 3,9 % und 4,7 %
(BVerfGE 79, 311 ) sowie der Niedersächsische Staatsgerichtshof für das Jahr 1994 eine
Arbeitslosenquote in Niedersachsen von 10,6 % (NdsVBl. 1997, 227 ) als nicht mehr
ausreichend für einen hohen Beschäftigungsstand ansahen, steht es zudem außer
Frage, dass bei einer Arbeitslosenquote von 16,1 % im Jahr 2001 mit einem für das Jahr
2002 prognostizierten Anstieg auf 16,5 % das Teilziel hoher Beschäftigungsstand in
Berlin nachhaltig verfehlt wurde.
Auf Grund der bereits jahrelang ausgebliebenen Erholung des Wirtschaftswachstums und
der extrem hohen Arbeitslosenquote ist es ferner nachvollziehbar und vertretbar, wenn
der Haushaltsgesetzgeber die Verfehlung zweier Teilziele des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts für die Annahme einer ernsthaften und nachhaltigen Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausreichen lässt. Dies gilt um so mehr, als für
das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht eines Landes nur noch das Teilziel Preisniveau,
nicht aber das Teilziel außenwirtschaftliches Gleichgewicht Bedeutung erlangen kann.
Diese Diagnose des Haushaltsgesetzgebers kann auch nicht dadurch entkräftet werden,
dass es im Bericht über die Finanzplanung weiter heißt, Berlin könne im weiteren
Jahresverlauf 2002 vor dem Hintergrund der allgemein erwarteten konjunkturellen
Erholung mit einer Belebung der Wirtschaftstätigkeit rechnen und es dürfte sich eine
Besserung auf dem Arbeitsmarkt einstellen. Denn zugleich stellt der Bericht die
Prognose, dass sich die reale Wirtschaftsleistung in Berlin 2002 kaum verändern und die
Erwerbstätigkeit noch leicht rückläufig sein werde. Erst im Jahr 2003 könnte das
Bruttoinlandsprodukt in Berlin um rund 1 % expandieren und die Beschäftigung in Berlin
um 0,5 bis 1 % steigen (Abghs-Drs 15/470 S. 70 ff.). Diese Ausführungen beinhalten
damit lediglich eine vage positive Prognose einer – darüber hinaus nur geringfügigen –
Besserung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsstand.
II. Trotz der damit ausreichenden Diagnose des Berliner Haushaltsgesetzgebers zur
ernsthaften und nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in
Berlin war die erhöhte Kreditaufnahme zum Zwecke der Störungsabwehr nicht von Art.
87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB gedeckt. Denn der Haushaltsgesetzgeber hat nicht
genügend beachtet, dass im Gesetzgebungsverfahren darüber hinaus die Absicht
darzulegen ist, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Störung abzuwehren, und
ebenso die begründete Prognose, dass die erhöhte Kreditaufnahme zur Abwehr der
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet erscheint.
Die Gesetzesbegründung zum Haushaltsgesetz 2002/2003 enthält – wie bereits die
Gesetzesbegründung zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 – lediglich zwei Sätze
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Gesetzesbegründung zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 – lediglich zwei Sätze
zur Darlegung von Absicht und Eignung (Abghs-Drs 15/309 S. 2 u. 15/320 S. 8):
“Die erhöhte Deckungskreditaufnahme trägt dazu bei, diese Störung abzuwehren.
Mit Rücksicht auf das bereits ernsthaft und nachhaltig gestörte gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht Berlins verbot sich gerade in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage eine
weitere Ausgabenkürzung.”
Es fehlen Ausführungen, welche die Absicht, mit der erhöhten Kreditaufnahme die
Störung abzuwehren, im Einzelnen zum Ausdruck bringen. So hätte dargelegt werden
müssen, welche Maßnahmen durch die erhöhte Kreditaufnahme ermöglicht werden
sollten, um der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Hinblick auf die
beiden Teilziele Beschäftigungsstand und Wirtschaftswachstum entgegenzuwirken.
Insoweit wären konkret diejenigen Ausgaben zu bezeichnen, die im Fall des
Nichtvorliegens einer ernsthaften und nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts hätten vermindert werden können und müssen, nunmehr aber zur
Abwehr der Störung des Gleichgewichts nicht vermindert wurden. Selbst wenn man
jedoch eine pauschale Absichtsbekundung noch als ausreichend ansähe, wäre den
Darlegungsanforderungen nicht Genüge getan. Es fehlt jedenfalls an der begründeten
Prognose, dass und wie sich die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme die Störung
abzuwehren, verwirklichen lässt.
Grundsätzlich kann eine erhöhte Kreditaufnahme im Falle einer Konjunkturschwäche als
sog. antizyklische Maßnahme, welche die Wirtschaft durch Ausweitung der Nachfrage
wieder beleben soll, im Zusammenhang mit einer eingeleiteten und fortgeführten
Konsolidierungspolitik als geeignetes Mittel zur Störungsabwehr angesehen werden (vgl.
auch BVerfGE 79, 311 ). Allerdings sieht der Bericht über die Finanzplanung von Berlin
2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002 – wie dargelegt – die Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch in einer infolge der jahrzehntelangen Teilung
der Stadt fortwirkenden strukturellen Wirtschaftsschwäche begründet (Abghs-Drs 15/470
S. 21). Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass bei Vorliegen einer auf strukturellen
Fehlentwicklungen beruhenden Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine
verfassungsgemäße Inanspruchnahme einer erhöhten Kreditaufnahme ausgeschlossen
ist (so offenbar Maunz, a.a.O., Art. 115 Rn. 45 ff.). Dem steht entgegen, dass in der
gesamtwirtschaftlichen Realität strukturelle und konjunkturelle Ursachen und
Krisensymptome kaum zu trennen sein werden (Höfling, a.a.O., S. 287). Auch das
Bundesverfassungsgericht hat zu erkennen gegeben, dass strukturelle
Anpassungsprobleme nicht prinzipiell eine erhöhte Kreditaufnahme ausschließen
(BVerfGE 79, 311 ). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht zugleich darauf
hingewiesen, dass eine bloße Nachfrageausweitung bzw. Verhinderung eines
Nachfrageabfalls schwerlich das Fehlen einer Anpassung der Wirtschaftsstruktur an neue
Gegebenheiten oder eine schon bestehende hohe Staatsverschuldung als Ursache der
Störung wird ausräumen können (BVerfGE 79, 311 ). Letztlich kann dies dahinstehen,
denn der Berliner Haushaltsgesetzgeber hat jedenfalls die Eignung der erhöhten
Kreditaufnahme zur Störungsabwehr weder in den Gesetzesbegründungen zum
Haushaltsgesetz 2002/2003 und zum Haushalts-Vorschaltgesetz 2002/2003 (Abghs-Drs
15/309 S. 2 u. 15/320 S. 8) noch in anderen Quellen ausreichend dargelegt.
In dem Bericht über die Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002 wird
lediglich ausgeführt, dass trotz hoher Anstrengungen zur Konsolidierung des
Landeshaushalts zwischen Einnahmen und Ausgaben gewaltige Deckungslücken blieben,
die weit überwiegend durch Neuverschuldung geschlossen werden müssten. Richtig sei,
dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auch in Berlin weiter ernsthaft und
nachhaltig gestört sei. Tatsächlich spiegele die hohe Neuverschuldung der kommenden
Jahre jedoch vor allem die Notlage des Landeshaushalts wider, dem insoweit keine
anderen Deckungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Darlegungen, dass die erhöhte
Kreditaufnahme zur Störungsabwehr geeignet und bestimmt ist, enthält der Bericht
hingegen nicht; vielmehr verweist er nur auf die Begründungen zu den Entwürfen des
Vorschaltgesetzes zum Haushaltsgesetz 2002/2003 sowie zum Haushaltsgesetz
2002/2003 (Abgh-Drs 15/470 S. 42 f., Fn. 16).
Ebenso wenig lassen sich die erforderlichen Darlegungen den im Rahmen des
Gesetzgebungsverfahrens erfolgten Plenardebatten bzw. Sitzungen der Ausschüsse des
Abgeordnetenhauses entnehmen. Weder die Redebeiträge einzelner Abgeordneter der
Regierungskoalition von SPD oder PDS noch des Finanzsenators oder des Regierenden
Bürgermeisters enthalten entsprechende Darlegungen. Aus keiner dieser Äußerungen
wird im Einzelnen deutlich, inwiefern die erhöhte Kreditaufnahme dazu geeignet und
bestimmt sein sollte, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin in
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bestimmt sein sollte, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Berlin in
Gestalt einer hohen Arbeitslosigkeit und des Fehlens eines angemessenen
Wirtschaftswachstums abzuwehren. Es fehlen auch sonst Darlegungen, inwieweit infolge
der erhöhten Kreditaufnahme arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen
ermöglicht werden, die zur Erreichung dieses Ziels beitragen könnten.
Dabei verkennt der Verfassungsgerichtshof nicht, dass eine erhöhte Kreditaufnahme
auch zur Finanzierung von konsumtiven Ausgaben zulässig ist. Das Land muss nicht
zwingend auf Mindereinnahmen, die aus einem konjunkturellen Abschwung resultieren,
mit weiteren Ausgabenkürzungen reagieren, die sich dann negativ auf das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auswirken könnten (kein Zwang zur „Parallelpolitik“,
vgl. BVerfGE 79, 311 ). Jedoch vermag – wie dargelegt – der Umstand, dass bei
Ausgleich eines vorhandenen Haushaltsdefizits im Wege der Ausgabenkürzung oder
Steuererhöhung ein weiterer Abschwung droht, eine erhöhte Kreditaufnahme nicht ohne
weiteres zu rechtfertigen (BVerfGE 79, 311 ). Im Hinblick auf die aus Art. 109 Abs. 2 GG
folgende Unzulässigkeit einer prozyklischen Finanzpolitik (vgl. Friauf in: Isensee/Kirchhof
[Hrsg.], a.a.O., § 91 Rn. 34) folgt nicht etwa im Umkehrschluss, dass bei abgeschwächter
Konjunkturlage eine die Kreditobergrenze überschreitende Kreditaufnahme als
antizyklisches Verhalten ohne entsprechende detaillierte Darlegungen zu Absicht und
Eignung der Störungsabwehr verfassungsrechtlich unbedenklich wäre. Würde es für die
Annahme und Darlegung, Ziel und Zweck der Kreditaufnahme sei die Störungsabwehr,
ausreichen, dass die Kreditaufnahme weitere Einsparungen vermeide und auf diese
Weise dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht mittelbar zu Gute komme, wäre bei
Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts jegliche durch
Kredite zu deckende konsumtive Mehrausgabe gerechtfertigt; dies widerspräche dem
Ausnahmecharakter der eine Überschreitung der Kreditobergrenze zulassenden
Regelung (NdsStGH, a.a.O., NdsVBl. 1997, 227 ). Eine mit einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einhergehende schwierige Haushaltslage würde
es damit dem Haushaltsgesetzgeber ohne weiteres ermöglichen, unter Hinweis auf das
Verbot eines prozyklischen Verhaltens erhöhte Krediteinnahmen zu veranlassen. Gerade
auf Landesebene ist jedoch nicht davon auszugehen, dass jede beliebige Staatsausgabe
positive Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum des Landes hat.
Umgekehrt ist nicht vollständig ausgeschlossen, dass eine erhöhte staatliche
Kreditnachfrage sich negativ auswirkt, auch wenn der erhöhte Kreditbedarf des Landes
Berlin im nationalen und internationalen Maßstab auf die für das Wachstum der
Privatwirtschaft maßgebliche Zinshöhe kaum Einfluss haben dürfte. Daraus folgt
zwingend, dass bei Überschreiten der Kreditobergrenze ein finaler Bezug auf die Abwehr
der Störung erkennbar werden muss (vgl. Henneke, NdsVBl. 1997, 217 ). Das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist nicht nur Bezugsgröße, sondern auch Ziel und
Zweck des Handelns (BVerfGE 79, 311 ). Gerade bei einer auch auf strukturellen
Defiziten beruhenden Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts – wie dies für
das Land Berlin vom Haushaltsgesetzgeber infolge einigungsbedingter
Anpassungsschwierigkeiten der Wirtschaft angenommen wurde – ist die Überschreitung
der Kreditobergrenze nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn Vorsorge für die
alsbaldige Beseitigung nicht nur des konjunkturellen, sondern auch des strukturellen
Defizits getroffen wird (vgl. Patzig, a.a.O., A/115/35 [Stand: 1991], Rn. 29). Dies ist dann
aber auch darzulegen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es dem Darlegungserfordernis nicht
genügt, wenn die hohe Arbeitslosigkeit sowie die schlechte wirtschaftliche Situation des
Landes Berlin vereinzelt Gegenstand von Redebeiträgen im Rahmen des
Haushaltsgesetzgebungsverfahrens geworden sind. Das Verfassungsrecht gebietet eine
zusammenhängende, durch Daten unterlegte Darstellung, die gewährleistet, dass die
parlamentarische Mehrheit mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes die
Verantwortung auch für die Begründung der erhöhten Kreditaufnahme übernehmen
kann (vgl. BVerfGE 79, 311 ). Es muss für jedes Mitglied des Abgeordnetenhauses
nachvollziehbar sein, dass die Nichteinhaltung des Kreditbegrenzungsgebots nicht Folge
eines allgemein begrenzten Spielraums zur Ausgabensenkung ist, sondern konkret für
jede Ausgabe eine bestimmte konjunkturpolitisch begründete Entscheidung zu ihrer
Aufrechterhaltung getroffen werden muss und mit der Verabschiedung des
Haushaltsgesetzes getroffen wird. Es ist nicht Aufgabe des zur Überprüfung berufenen
Verfassungsgerichts, bruchstückhafte Begründungselemente einzelner Abgeordneter in
Erahnung eines eventuellen gesetzgeberischen Willens zu einer Argumentationskette
zusammenzusetzen.
III. Schließlich kann dahinstehen, ob sich das Land Berlin zum Zeitpunkt der
Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2002/2003 in einer extremen Haushaltsnotlage
befunden hat, wofür Indikator eine jahrelang über den Investitionsausgaben liegende
Nettokreditaufnahme sein kann (vgl. BVerfGE 86, 148 ). Denn selbst wenn dies der Fall
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Nettokreditaufnahme sein kann (vgl. BVerfGE 86, 148 ). Denn selbst wenn dies der Fall
gewesen sein sollte, hätte die Kreditobergrenze des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 VvB
durch § 3 Abs. 1 Satz 1 HG 02/03 nicht überschritten werden dürfen, ohne dass zugleich
die verfassungsrechtlich gebotenen Darlegungen im Gesetzgebungsverfahren erfolgten
(vgl. im Einzelnen oben D.III.3)
Soweit die Nichteinhaltung des Kreditbegrenzungsgebots für die Haushaltsjahre 2002
und 2003 auf eine bereits eingetretene extreme Haushaltsnotlage zurückzuführen sein
könnte, hat der Haushaltsgesetzgeber die ihn diesbezüglich treffende Darlegungslast
jedoch nicht erfüllt.
Die Überschreitung der Kreditobergrenze erfolgte ausweislich der
Gesetzesbegründungen zum Haushaltsgesetz 2002/2003 und zum Haushalts-
Vorschaltgesetz 2002/2003 in Anwendung des Art. 87 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 VvB
ausdrücklich allein im Hinblick auf eine Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts. Hingegen wird mit keinem Wort darauf eingegangen, dass eine extreme
Haushaltsnotlage die erhöhte Kreditaufnahme erfordern könnte. Ungeachtet dessen,
dass – wie im Fall einer Überschreitung der Kreditobergrenze zur Abwehr einer Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts – für die Darlegungen in Bezug auf die
extreme Haushaltsnotlage keine bestimmte Form zu fordern ist, muss jedoch, wenn die
Gesetzesbegründung eine die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze überschreitende
Kreditaufnahme rechtfertigen soll, bereits hier ausdrücklich der entsprechende
Ausnahmetatbestand für die Nichtbeachtung des Kreditbegrenzungsgebots benannt
werden. Dies ist nicht geschehen. Der Senat von Berlin hat im Übrigen eine „förmliche“
Feststellung einer extremen Haushaltsnotlage erst am 5. November 2002 getroffen.
Auch die sonstigen Quellen des Gesetzgebungsverfahrens enthalten keine
ausreichenden Darlegungen. In den Plenarsitzungen des Abgeordnetenhauses wurde die
schlechte Haushaltssituation Berlins nur kurz und ohne ins Detail gehende Ausführungen
in vereinzelten Redebeiträgen angesprochen.
Die Haushaltslage Berlins war allerdings Gegenstand des Berichts über die
Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006 vom 14. Mai 2002. Dort heißt es: Zwischen
Einnahmen und Ausgaben verblieben gewaltige Deckungslücken, die – in beschränktem
Umfange – durch Vermögensaktivierung und weit überwiegend durch Neuverschuldung
geschlossen werden müssten. So liege die Deckungslücke des Jahres 2002 bei knapp 6,9
Mrd €, wovon voraussichtlich lediglich 600 Mio € durch Einnahmen aus der Aktivierung
von Vermögen geschlossen werden könnten (Abghs-Drs 15/470 S. 42). Die hohe
Neuverschuldung spiegele vor allem die Notlage des Landeshaushalts wider, dem
insoweit keine anderen Deckungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Einnahmen aus
der Aktivierung von Vermögen würden künftig nur noch in beschränktem Umfange zur
Finanzierung des Haushalts und damit zur Schließung der Deckungslücke beitragen
können (Abghs-Drs 15/470 S. 43). Auf den Seiten 47 ff. befasst sich der Bericht dann
ausführlich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorliegen einer
extremen Haushaltsnotlage.
Auch diese Ausführungen reichen zur Erfüllung der Darlegungspflicht im Hinblick auf eine
Überschreitung der Kreditobergrenze für den Fall einer extremen Haushaltsnotlage
jedoch nicht aus. Zum einen legt sich der Bericht über die Finanzplanung letztendlich
nicht fest, ob sich das Land Berlin tatsächlich in einer extremen Haushaltsnotlage
befindet. Zum anderen genügen die Ausführungen deswegen nicht den
Darlegungsanforderungen, weil an keiner Stelle dargelegt wird, dass das Land Berlin auf
die – durch die erhöhte Kreditaufnahme erzielten – Einnahmen angewiesen war, um
Ausgaben decken zu können, die auch dann zwingend waren, wenn sich das Land in
einer extremen Haushaltsnotlage befand. Der Haushaltsgesetzgeber hätte hierzu
nachvollziehbar machen müssen, dass die vom Land ohne die erhöhte Kreditaufnahme
erzielten oder erzielbaren Einnahmen nicht ausreichten, um die auf bundesrechtlichen
oder landesverfassungsrechtlichen Vorgaben beruhenden unabdingbaren Ausgaben des
Landes decken zu können. Dazu gehörte die Darlegung, dass darüber hinausgehende
Ausgaben im Haushaltsplan nicht veranschlagt wurden. Diesen Anforderungen wird der
Bericht über die Finanzplanung nicht gerecht. Er enthält zwar Aufzählungen, welche
Ausgaben vom Land zu erbringen sind, indem er u.a. Leistungen nach dem
Bundessozialhilfegesetz, dem Asylbewerber-Leistungsgesetz und dem
Bundesversorgungsgesetz benennt sowie ferner erläutert, dass etwa ein Viertel der
laufenden Zuweisungen und Zuschüsse auf Leistungen an die Hochschulen und
Universitäten Berlins entfielen, die durch Hochschulverträge bis zum Jahre 2005
festgelegt seien, und dass die Höhe der Schuldendienstleistungen weitgehend durch die
Aufwendungen im Bereich der Wohnungsbau- und der Städtebauförderung festgelegt
und kurzfristig nicht zu beeinflussen sei (Abghs-Drs 15/470 S. 82, 84 f.). Auch verweist
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und kurzfristig nicht zu beeinflussen sei (Abghs-Drs 15/470 S. 82, 84 f.). Auch verweist
der Bericht darauf, dass die Sozialausgaben gestiegen seien (Abghs-Drs 15/470 S. 34).
Hierin liegt jedoch einerseits keine erschöpfende Darlegung der zwingend zu leistenden
Ausgaben. Andererseits heißt es im Bericht über die Finanzplanung weiter, dass das
Land Berlin sich je Einwohner höhere Ausgaben als jedes andere Land „leiste“. Dies wird
auf ein überdurchschnittliches Niveau im Bereich der Kernausgaben des Haushalts sowie
auf überdurchschnittliche Zinsausgaben zurückgeführt (Abghs-Drs 15/470 S. 13 f.). Im
Zusammenhang mit der beabsichtigten Absenkung der Primärausgaben (Abghs-Drs
15/470 S. 37 ff.) führt der Bericht dann aus, dass entscheidenden Einfluss auf die weitere
Entwicklung der Primärausgaben die konsumtiven Sachausgaben hätten, deren geplante
Absenkung allerdings bislang nicht habe eingehalten werden können. Hierfür sei
ursächlich, dass zum Zeitpunkt des Haushaltsbeschlusses nicht hinreichend viele
umsetzungsfähige Konsolidierungsmaßnahmen entscheidungsfähig vorgelegen hätten
(Abghs-Drs 15/470 S. 41 f.). Genau dies ist im Fall einer extremen Haushaltsnotlage
aber notwendig. Der Haushaltsgesetzgeber muss alle bundes- und
landesverfassungsrechtlich gebotenen Konsolidierungsmaßnahmen benennen und
haushaltsgesetzlich auch umsetzen, wenn er diese ungeschriebene
verfassungsrechtliche Ausnahme für sich in Anspruch nehmen will.
F. Die Verfassungswidrigkeit der Nettokreditermächtigungsnorm im Haushaltsgesetz
wegen Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Kreditbegrenzungsgebot führt
regelmäßig zur Verfassungswidrigkeit des gesamten Haushaltsgesetzes, soweit es
Einnahmen und Ausgaben in einer bestimmten Höhe festlegt. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Verfassungswidrigkeit einzelner
Vorschriften die Nichtigkeit des ganzen Gesetzes, wenn die verfassungswidrige Vorschrift
Teil einer Gesamtregelung ist, die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verlöre, nähme
man einen ihrer Bestandteile heraus, wenn also die nichtige Vorschrift mit den übrigen
Bestimmungen so verflochten ist, dass sie eine untrennbare Einheit bilden, die nicht in
ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann (vgl. z. B. BVerfGE 8, 274 ). Die
Kreditermächtigung sowie die Einnahmen und Ausgaben des Haushaltsplanes stehen in
einem engen Zusammenhang, sie bilden eine untrennbare Einheit. Ohne die
vollständige Kreditermächtigung liegt ein unausgeglichener und damit insgesamt
verfassungswidriger Haushalt vor; denn erst die verfassungswidrige Kreditermächtigung
führt dazu, dass genügend Einnahmen im Haushaltsplan festgestellt sind, um alle
Ausgaben tätigen zu können. Es kann zudem nicht geklärt werden, welche Ausgaben im
Haushaltsplan aus Kreditmitteln und welche aus sonstigen Einnahmen getätigt werden
sollen (Maunz, a.a.O., Art. 115 Rn. 42; Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes
Baden-Württemberg, 1984, Art. 84 Rn. 18; Schaefer, Das Haushaltsgesetz jenseits der
Kreditfinanzierungsgrenzen, 1996, S. 35 ff.).
Verfassungswidrig sind damit § 1, § 3 Absätze 1 bis 6, § 6 und § 10 HG 02/03, da die
genannten Vorschriften für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 Regelungen zur
Festlegung von Einnahmen und Ausgaben betreffen. Der Haushaltsgesetzgeber selbst
hat diese Vorschriften als wesentlich für die Einnahmen- und Ausgabensituation der
Haushalte der Jahre 2002 und 2003 erachtet. Entsprechend hat er in § 13 HG 02/03
diese Vorschriften von der Weitergeltung bis zur Verkündung des Haushaltsgesetzes
2004 ausgenommen.
Nach § 45 Satz 1 VerfGHG kann der Verfassungsgerichtshof Recht, das der Verfassung
von Berlin widerspricht, für nichtig oder mit der Verfassung unvereinbar erklären. Die
normale Folge der Verfassungswidrigkeit einer Norm ist ihre Nichtigkeit. Die Nichtigkeit
wird vom Verfassungsgerichtshof ab dem Zeitpunkt der Verkündung dieses Urteils
ausgesprochen, da das Haushaltsgesetz 2002/2003 insoweit noch als Grundlage für
künftige Kreditaufnahmen und Ausgaben dienen könnte. Die Gemeinwohlbelange
können von den zuständigen Organen im Wege des Nothaushaltsrechts gemäß Art. 89
VvB gewahrt werden. Für die Vergangenheit stellt der Verfassungsgerichtshof lediglich
die Unvereinbarkeit der genannten Regelungen des Haushaltsgesetzes 2002/2003 mit
der Verfassung fest, um auf ihnen beruhender, bereits erfolgter Verwaltungstätigkeit
nicht die Rechtsgrundlage zu entziehen. Eingriffe in bereits abgeschlossene Tatbestände
der Haushalts- und Ausgabenwirtschaft und des Haushaltsvollzugs sind im Interesse
einer verlässlichen und in ihren Wirkungen kalkulierbaren Finanz-, Ausgaben- und
Haushaltswirtschaft zu vermeiden (vgl. BVerfGE 72, 330 ; 86, 148 ).
Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 Abs. 2 VerfGHG.
Dieses Urteil ist unanfechtbar.
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